Andrea

[charis]

Am Nachmittag verlässt du
das Büro früher als sonst
denn hinter deinen Schläfen
pocht etwas noch ganz ohne Namen
und hämmert sich im Schwellentakt
der Schnellbahn in dein Hirn hinein

Die Station ist heute grauer
und auch der Zeitungskolporteur
vergisst an einem Tag wie diesem
auf sein Lächeln zum Retourgeld
sieht nur flüchtig einem Kind nach
das aufbrüllt, weil sein Zeigefinger
in der Schwingtür stecken bleibt.

Deine Dauerwellen waren
in den Achtzigern modern
irgendwann hast du vergessen
dass die Zeit sich stetig weiterdreht
und heut Morgen, als du heimlich
einmal wirklich hingesehen hast
war da der längst erloschne Schimmer
in den Augen einer müden Frau.

Als du den Schlüssel dann herumdrehst
schwillt der Schmerz an zum Orkan
alles dröhnt und die Sirenen
schlagen lang vor Kampfhund Artus an
Sie sind schwarz und beinah kniehoch
die Stiefel, die nicht dir gehören
und du würdest jetzt gern taub sein
um dem Gleichklang ihres Atems
mit dem deinen zu entgehn.

Langsam tappst du in die Küche
zwei Gläser und ein Rest Prosecco
in billig-blauer Flasche stehen da
Die Memphis liegen auf dem Tisch
du fällst in Hut und Jacke auf den Hocker
und fixierst die gelbe Glut
die wie ein knisterndes Geschwür
den Tabak heiß und sengend frisst

Vielleicht solltest du jetzt springen
doch die Nachbarn würdens sehen
in Stiege Vierzig gegenüber
gäbs Gesprächsstoff bis Neujahr
Und da ist noch diese Höhenangst
und schließlich auch die leise Ahnung
dass in deinem nächsten Leben
vielleicht alles noch viel grauer wär.

Also stehst du auf und schüttest
den Prosecco in den Ausguss
nimmst das Schwammtuch und wischst lautlos
alles sauber wie zuvor
trägst mit der Flasche hier im Müllsack
die letzten Ideale deines Lebens
auf den Gemeindebau-Trottoir.

[Spiderman]

Okay, charis, habe lange überlegt, was ich zu dem Gedicht sagen kann. Viel ist mir nicht eingefallen. Es ist ein wirklich grandioses Gedicht. Klar, das Thema spricht mich schon mal an. Das graue Leben, die ganzen verlorenen Ideale, die Trostlosigkeit im Alltag einer ganz gewöhnlichen Frau. In jeder der Strophen habe ich das Gefühl, dass Du den richtigen Ton triffst, die richtigen Worte verwendest und einen ganz besonderen Klang kreierst. Der ganze Rhythmus des Gedichtes kommt total desillusioniert und hart. Ich glaub, das liegt daran, dass die meisten Verse mit 'ner betonten Silbe anfangen. Er hat aber auch was Gleichmäßiges und Sanftes dabei.

Zu Meckern gibt's bei dem Gedicht nix. Absolut gar nix. Das ist eins Deiner Besten. Und jetzt sag nicht: das hab ich mal zwischendurch geschrieben. Da steckt verdammt viel Arbeit drin.

Also, Leute, lest das!!!

Spiderman

[gelbsucht]

Hallo charis,

ihr habt euch wohl thematisch abgesprochen, du und der Spinnenmann? Sehr verdächtig! Und ganz schön starker Tobak, ganz schön trostlos, was ihr uns da zumutet. Aber auch dein Gedicht ist verdammt gut, muss ich zugeben. *neidvoll-auf-den-monitor-glotz* Vergleiche will ich nicht anstellen, aber auch du beweist sehr viel Feingefühl und eine sichere Hand für diese trübsinnig-desillusorische Stimmung. Da wird einem Angst und Bange um euer Seelenheil! Aber wir wollen nicht den dummen Fehler begehen und lyrisches Ich und Autoren-Ich verwechseln, zumal dein Gedicht ja "Andrea" heißt und das lyrische Ich ein Du ist. Indiskrete Frage: gibt es hier Bezüge zu lebenden Personen?

Noch ein paar Anmerkungen:

war da der längst erloschne Schimmer
in den Augen einer müden Frau.

Über diese Stelle bin ich ein bisschen gestolpert. Sie kommt mir ein bisschen abgedroschen vor und setzt sich damit etwas von den sonst sehr authentischen Bildern ab.

Mit Strophe vier, die direkt darauf folgt, habe ich ein paar Verständnisschwierigkeiten:

alles dröhnt und die Sirenen
schlagen lang vor Kampfhund Artus an

Okay, die Sirenen haben irgendwie mit der sich ankündigenden Migräne zu tun, aber was hat es mit dem Kampfhund Artus auf sich? Wo kommt der auf einmal her? Gehört der auch mit zu dem Lärm- und Geräuschschmerz?

Sie sind schwarz und beinah kniehoch
die Stiefel, die nicht dir gehören

Wessen Stiefel sind es dann? Stehen da im Eingang der Wohnung irgendwelche Stiefel, die einer anderen Person gehören?

und du würdest jetzt gern taub sein
um dem Gleichklang ihres Atems
mit dem deinen zu entgehn

Ihres Atems? Wessen Atem? Auch hier lässt mich dein Gedicht – oder mein Verstand – im Stich. Das kommt mir in der Strophe alles etwas schleierhaft und ungereimt vor.
?-(

schwillt der Schmerz an zum Orkan

Auch dieses Bild ist irgendwie ... na ja, keinesfalls schlecht, aber halt nicht so gut wie die anderen.

Die Memphis liegen auf dem Tisch
du fällst in Hut und Jacke auf den Hocker
und fixierst die gelbe Glut

Also das klang für mich so, als würde die Zigarette schon brennen, als sie sich an den Tisch setzt – ist das so? Ist da noch wer in der Wohnung, wie ich es schon bei den Stiefeln vermutet habe?

und schließlich auch die leise Ahnung
dass in deinem nächsten Leben
vielleicht alles noch viel grauer wär

Ein sehr interessanter Gedanke und wahrscheinlich auch der beste Grund, der mich vom Selbstmord abhalten würde, wenn es einmal so schlimm um mich stehen würde.

trägst mit der Flasche hier im Müllsack
die letzten Ideale deines Lebens
auf den Gemeindebau-Trottoir.

Muss dir leider gestehen, dass ich das Ende etwas dick aufgetragen finde. Das mit den Idealen und dem Müll ist mir dann doch irgendwie zuviel.

Ein spannendes, atmosphärisch sehr dichtes Gedicht. Schwermütig, ja, aber nachfühlbar und authentisch. Eigentlich kann ich mich in einem Gedicht mit einem "Du" selten anfreunden. Das ist hier anders. In diesem Gedicht funktioniert es sogar sehr gut.

gelbe grüße

[charis]

zunächst mal diese retoureinwand:

ist die ECHT nicht klar, diese strophe mit den stiefeln, ist nicht ersichtlich, was ich mit dieser strophe meine?? bitte sagt mir, was ihr da raus lest, das ist quasi die schlüsselstelle im ganzen gedicht!!!
gelb? spider?
das ist mir echt wichtig!

wär mir echt ein anliegen, das zu wissen, denn andernfalls muss ich hier eventuell noch präsizisieren!

alles weitere später, bin grad in eile, danke mal vorab...!!!

[Spiderman]

Hey charis, keine Sorge, die Stelle ist EINDEUTIG und VERSTÄNDLICH. Die gute Frau entdeckt halt, dass ihr Alter, wenn sie auf Arbeit ist, irgendeine andere fickt. Für das Gedicht ist die Stelle mit Stiefel und Atem trotzdem gar nicht soooo wichtig. Schon vorher war alles trostlos und grau. Und wirklich wundern kann sich die Frau auch nicht. Sie ist halt gefangen in ihren Verhältnissen - ob ihr Mann sie betrügt oder nicht.

Naja, gelb, was thematische Absprachen angeht: charis und ich haben halt beide unser Ohr am Puls der Zeit. Der Weltgeist scheint für Wien und Marburg 2003 ähnliche Befindlichkeiten vorzusehen. Ne, eigentlich sind unserer beiden aktuellen Gedichte recht unterschiedlich bei einer wesentlichen Gemeinsamkeit: Entfremdung als Lebensgefühl!

Liebe Grüße

Spidey

[Spiderman]

Ach ja, das Gedicht hat immer noch nicht genug Beachtung bekommen. Kinder, lest das! Da könnt Ihr was lernen!

Pädagogische Grüße

Spidey

[charis]

oh, da bin ich aber froh, ich hätte mich auch gewundert, wenn das nicht klar gewesen wäre. gelb - du musst dich mehr in die menschlichen niederungen reindenken... !!

schlüsselstelle, naja, zumindest halt so ein fassüberlaufenlassender tropfen, wobei sie dann ja nichts tut, ausser sich wieder in die gegebenheiten fügen, weil die hoffnung fehlt, irgendetwas besseres zu bekommen, ja geschweige denn zu verdienen.

[gelbsucht]

Okay, alles klar. Jetzt hab ich's auch kapiert!

gelb

[charis]

aufwärts.