Das wird nie was und nimmt auch kein Ende

Du schreibst Gedichte? Laß sie nicht in einer Schublade verschimmeln! Menschenbeifall wirst Du hier finden, aber auch Kritik und Rat.
Spiderman
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Das wird nie was und nimmt auch kein Ende

Beitragvon Spiderman » 10.11.2003, 01:09

Das wird nie was und nimmt auch kein Ende


- 1 -

Es wird immer schwerer, gutes Wetter zu finden.
Alles zum Kotzen. Der Oktober macht auf November;
was hier glänzt, glänzt im Spiegel des nassen Asphalts:
die Lichter der Autos, Laternen, hier spiegelt sich alles
in der Groschenweisheit der Pfützen. Die Nächte sind lang
nicht mehr das, was sie im Juli noch simulierten,

denn sie zapfen jetzt Dunkles statt Helles und Neues statt Alt.
Ich tret auf die Strassen einer von guten Geistern verlassenen Stadt.
Dort verteilt Onkel Frost an die Kinder von Gestern
salzige Schokolade und Losungen für den morgigen Tag:
Warte auf etwas, das nie passiert,
glaub dran, dass wer deine Seele saniert,
im Discount der Träume ist nix garantiert,
weil nicht dein Bedürfnis das Leben diktiert

Ich will Flora und Fauna und hab's gerne warm.
Es reicht, dass ich nix als die Stadtluft umarm.


- 2 -

Grüner wird's nicht. Vorbei
an den Döner-Buden
und ihren Versprechen von billigem Fleisch.
Vorbei an den Spielsaloons
und ihren Versprechen vom erzielbaren Glück.
Das Leben ist ein Streichelzoo nur mit Fischen,
das Leben ist ein Ponyhof mit Reiteverbot.


- 3 -

In der Kneipe verschachtelte Sätze
und geträumte Küsse in der Videothek.
Züchte Breitmaulfrösche in meinem Hals
und berechne für jedes Wort das atomare Gewicht.

Wieder mal 15, wieder mal Pickel
auf den Gedanken, die ich hinterm Vorhang versteck.
Meine Gefühle sind Mitesser, die wolln immer mehr.
Weiß auch nicht, was das noch bringt,
wahrscheinlich will ich mit ihr ein Kind

oder zwei oder drei. Vielleicht auch nur Sex
auf einer Hollywoodschaukel, die irgendwo
in einem Schrebergarten steht am Rande der Stadt.


- 4 -

Hab keine Ahnung, wie's weitergeht,
weiß schon, dass das längst nicht alles sein kann.
Schreibe die Zeilen lieblos dahin,
weil's eigentlich gar nicht so wichtig ist,
was da steht und wer das schreibt.
Es könnte genauso gut was anderes sein:

Güterzüge an einem Bahnhof,
ein Frachtflugzeug, dass in den Wolken verschwindet,
an einer Autobahnraststätte ein Tramper,
die Geburt einer Eintagsfliege am Nil.

Leise Melodien, ein warmes Zimmer,
Geräusche, wie jemand
mit einer Moulinette Bananenmilch mixt.

Die Tiefkühlpizza in einem Ofen
an einem Sonntagnachmittag im November.

An einer Tankstelle der Geruch von Benzin,
der feine Flaum auf ihrem Bauch,
den ich noch nicht gesehen habe
und von dem ich nicht weiß,
ob ich ihn denn jemals sehen werde.
Ich möchte sie gerne berühren.

Es ist jetzt November, ein Sonntag und Viertel nach Neun
und die Bilder fließen ineinander und reißen
ab und behaupten nicht mehr, dass da ein Zusammenhang ist.

Ich weiß, dass das noch nicht fertig ist;
manchmal ist es nicht wichtig,
wer was sagt und wer das dann schreibt
und das Ende ist willkürlich, einfach so
wie ein langer Spaziergang im Regen bei Nacht.
Die nette Lyrik-Spinne von nebenan!

charis
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Re: Das wird nie was und nimmt auch kein Ende

Beitragvon charis » 11.11.2003, 01:17

Dear Spider.

(ach... du sprichst mir sowas von aus der Seele. Bin ziemlich dankbar dafür, dass du vieles auf den Punkt bringst, womit ich mich selber mitunter ziemlich allein glaube)

Ja, es wird immer schwerer, gutes Wetter zu finden.

Und auch Geister, die das Sehen noch nicht verlernt haben.

Das Schlimme ist, dass wir gezwungen zu sein scheinen, das Spiel mitzuspielen.

Das Leben rast sowas von vorbei an den vielen Einheitsgesichtern, die tagtäglich mit mir U-Bahn fahren. Wobei ich ja aufgehört habe, U-Bahn zu fahren. Weil es keine Ziele mehr zu geben scheint, an denen anzukommen sich lohnen würde.

Doch der Pessimismus wird eingegrenzt - in den seltenen Momenten, in denen die globalisierte Wirtschaft-(Ohn-)Macht ausgesperrt wird von immer noch wachen Gedanken, die in jenen Herzen geboren werden, die noch nicht zur Gänze von Club-Urlauben, Designerklamotten und unverbindlichen „Wie geht’s dir“-„Man sieht sich“-Floskeln aufgeweicht wurden (zu blutigem Matsch nämlich).

Wird uns eines Tages tatsächlich nichts anderes übrig bleiben, als die Fronten zu wechseln, dem Neo-Liberalismus ein Kerzerl zu spenden und uns einzuordnen in die strammen Reihen all jener, deren Waden sich schon im produktiven Einheitstakt bewegen? Das Hirn in den Ausguss zu leeren? Oder die hastige Nicht-mal-mehr-Genuss-Zigarette drauf auszudrücken?

Nein, glaube ich.

Leider! Weil Denken ist ja recht ungemütlich. Zum Glück aber auch ziemlich geil.

Solange z.b. solche Gedichte geschrieben und gelesen werden, so lange werden lieblose Zeilen eine andere Welt am Leben erhalten, in der den Tiefkühlpizzenproduzenten fanatischer Einhalt geboten wird. Und sie sind dann, entgegen deiner Annahme, wiederum wichtig und trotz ihrer Einbettung in die beliebige Kulissenwelt nicht beliebig. Sondern willkürlich - im einzig wahren Sinne und Zweck: dem individuellen.

Lassen wir uns doch nicht vom (Geld...-)Schein trügen.

Blenden wir doch den alltäglichen Wahnsinn ein paar verrückte Momente lang aus und kokettieren wir mit der Willkür.

Zumindest lassen sich Ponys dann fantastisch bereiten.

B-)

Auf ein weiteres.

yours,
Charis

gelbsucht
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Re: Das wird nie was und nimmt auch kein Ende

Beitragvon gelbsucht » 13.11.2003, 19:16

Hallo Thomas,

das sind verdammt gute Gedichte. Dazu kann ich eigentlich gar nicht viel sagen. Du triffst damit – mal wieder! – ziemlich genau eine Einstellung, eine Stimmung, eine Befindlichkeit, die ich in diesen Tagen mit mir herumtrag. Es ist, als gäbe es irgendwo in meiner Brust einen Knoten, den ich mit Sorgfalt verstecke, von dem ich nicht spreche und von dem auch niemand nur ahnt, dass es ihn gibt, und dann spazierst du mal eben um die Ecke, reißt in einem surrealen Augenblick dir selbst die Brust auf, greifst hinein und sagst: "Hier, schau her!", während in deiner Hand eben so ein Knoten vor meinen Augen hin- und hertanzt. Ich hoffe das klingt jetzt nicht zu abgedroschen, zu pathetisch? Aber ich empfinde diese Gedichte als verdammt mutig, ehrlich und authentisch. Sie berühren mich sehr.

Teil 4 scheint aber insgesamt etwas schwächer auszufallen. Diese Beliebigkeit, von der dort die Rede ist, dieses Ausfransen ins Selbstmitleidige, ins Diffuse, ins indifferente Geschwafel stört mich etwas. Die anderen Teile bringen es besser auf den Punkt. Auch Wiederholungen bzw. Variationen wie ...
an einem Sonntagnachmittag im November.

Es ist jetzt November, ein Sonntag und Viertel nach Neun

... wollen mir nicht so ganz gefallen. Das wirkt irgendwie schluderig, auch wenn ich dir damit sicherlich nix neues sag, denn das Gedicht selbst sinniert noch in der schönsten selbstreferentiellen Manier darüber:
Schreibe die Zeilen lieblos dahin,
weil's eigentlich gar nicht so wichtig ist,
was da steht und wer das schreibt.

Ich weiß, dass das noch nicht fertig ist;
manchmal ist es nicht wichtig,
wer was sagt und wer das dann schreibt

Ansonsten kann ich nur eins sagen: Bravo!

;-) gelb :-)
"Ein Kluger bemerkt alles - ein Dummer macht über alles eine Bemerkung." (Heinrich Heine)

Spiderman
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Re: Das wird nie was und nimmt auch kein Ende

Beitragvon Spiderman » 17.11.2003, 22:33

Danke Euch beiden fürs Lesen und Kommentieren!

Wenn ich Deinen Kommentar so lese, charis, entdecke ich bei Dir ein großes revolutionäres Potential. Vielleicht sollten wir nicht Gedichte schreiben, sondern auf die Strasse gehen. Oder uns bewaffnen.

Im Ernst, ich scheine bei Euch beiden mit dem Gedicht ganz gut eine Stimmung getroffen zu haben, die heutzutage in der Luft liegt. So ein komisches Gefühl, dass nix mehr zusammen paßt, dass alles irgendwie kompliziert ist, aus der Bahn geworfen und fremd. Das Gefühl, dass irgendwas verloren gegangen ist, von dem man nicht weiß, ob man's überhaupt schon mal hatte oder ob's nicht schon immer eine Illusion war.

Das mit dem "Knoten" und "Knotenverstecken" und "Knotenherzeigen" freut mich besonders. Mag sein, dass ich da auf einer Authentizitäts-Welle mitschwimme: wir sind ehrlich, ganz wir selbst, zeigen unsere Gefühle und schämen uns nicht dafür. Keine Ahnung. Ich denke nicht mehr darüber nach, ob und was mein LI über mich als Autor erzählt, oder inwieweit mein LI zu weit vorprescht. Gerade intime Gedanken sind ja oft die Allgemeinsten auf der Welt, die sowieso jeder hat. Naja, und hinter scheinbarer Intimität und Ehrlichkeit kann man sich auch ganz gut verstecken...

Hm, vielleicht ein bisschen wirr. Jedenfalls schön, dass es Euch gefällt. Der 4. Teil ist wirklich etwas schwächer. Es war so, wie es in dem Gedicht steht. Ich hab ihn lieblos dahin geschrieben und dachte mir, es paßt auch, dass der letzte Teil lieblos geschrieben ist.

Gruß

Spiderman
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Re: Das wird nie was und nimmt auch kein Ende

Beitragvon charis » 18.11.2003, 11:43

hi spider,

ja ich glaube ja auch mittlerweile, dass an mir eine grossartige politikerin vorübergegangen ist. beinahe. mit der einschränkung, dass ich eigentlich nicht so ein besonders soziales wesen bin. aber momentan such ich ohnehin erfolglos job, d.h. wenn das alles nix wird, werd ichs ganz einfach noch. hehe.

@gelb: ja, spider und ich veranstalten geheimtreffen und hecken gemeinsam gedichtethemen aus und wetteifern dann darum, wer mehr antworten erhält. diesmal war die wette aber umgekehrt, also der/die gewinnt, der/die dem/der anderen mehr antworten verschafft. deshalb ruft der spider auch dauernd dazu auf, dass die leute "andrea" lesen sollen! :-D


ja, aber, was ich eigentlich sagen wollte:
marburg und wien dürften leider nicht die einzigen plätze sein, die das gefühl erwecken, dass uns der alltag seit einiger zeit ständig die zähne zeigt. ich weiß auch nicht, vielleicht ist es auch eine frage des alters. bin mittlerweile dreissig und vielleicht ist mein blick auf die welt auch ein anderer geworden.

vielleicht sind wir aber einfach nur aufgewacht aus dem ein paar jahrzehnte währenden schönheitsschlaf sozialistisch geprägter politik. oder ist es umgekehrt? schlafen und (alp-)träumen wir jetzt?

ich frage mich, ob heutzutage politik und NGOs und antiglobalisierungswellen und persönliches gegen-den-strom-schwimmen noch irgendwas ausrichten können. das völlige ausgeliefertsein gegenüber den internationalen superkonzernen macht mich so verdammt traurig. die sagen zb., ok, wir sperren den standort in österreich, wenn ihr nicht mit den personalkosten runtergeht und wandern in die slowakei ab, weil da is es billiger, scheiss auf die belegschaft. ist die beste reaktion darauf tatasächlich die, die unsere politiker durchziehen? also der wirtschaft in die hände spielen? wie wird das dann alles weitergehen? wie lange dauert es, bis es den betroffenen tatsächlich reicht? was macht der überlebenskünstler mensch?

es grüßt aus dem windgebeutelten wien,
charis

- die jetzt dann auf den naschmarkt geht und fotos macht und

Hieranonuemus
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Re: Das wird nie was und nimmt auch kein Ende

Beitragvon Hieranonuemus » 30.11.2003, 16:17

Hi Spidey!

Wie soll ich anfangen? Das Gedicht gefällt mir, aber ich bin noch nicht überzeugt? Ungefähr so wohl... Oder ich fange mit einer Frage an, weil mir da etwas aufgefallen ist. Kennst Du das Gedicht von T.S. Eliot, "Portrait of a Lady"? Das wirkt wie ein entfernter Verwandter von Deinem Gedicht, von den Stimmungsbildern her. Gleich die ersten zwei Zeilen:

"In Rauch und Nebel des Dezembernachmittags
Lässt Du den Auftritt sich von selbst abspielen - er tut so als ob -"...

"Es wird immer schwerer gutes Wetter zu finden" [..] "Der Oktober macht hier auf November". Solche Versstücke prägnant und lakonisch; aber ich würde mir wünschen, dass Du da weitermachst. Zum Beispiel heisst es bei Dir:

"Ich will Flora und Fauna und hab's gerne warm.
Es reicht, dass ich nix als die Stadtluft umarm."

Danach kommt nur die kurze Strophe die mit "grünen Dönerbuden" anfängt. Da fehlt für mich etwas, es kommt durch die Strophe keine richtige Stadtüberdruss-Stimmung auf bei mir. Einfach zu kurz. Danach (Str.3) kommen zwar die Kneipen (das L.I sitzt dann in der Kneipe?), aber ändert da das L.I nicht sein Thema? Pubertät, Liebe, Sex. Klar ist der Überdruss ein kompletter, aber warum wird das in dem Gedicht nur angerissen, als Kommentar der nicht ausgemalt wird? Das Thema hat mich sofort überzeugt, die Ausführung noch nicht. Das ganze Gedicht müsste doppelt so lang sein.
Höre ich mich becknässerisch an?
Möchte doch nur, dass das Gedicht noch besser wird. "Mehr! Mehr!"

"

>Die Jugend ist grausam und kennt keine Reue
Und lächelt über Dinge, die sie nicht begreift.<
Ich lächle, klar,
Und trinke weiter Tee.

"

Hier Anonuemus,

mit besten Grüssen
a lovely bird is The elephant


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