die leitstelle der ubahn spricht

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solneman
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die leitstelle der ubahn spricht

Beitragvon solneman » 15.11.2003, 20:37

die leitstelle der ubahn spricht

ein hinweis für fahrgäste der linie
deutschland deutschland über alles
wegen bauarbeiten
im zuge der streckenverlängerung
unserer geschichte
wird es auf den abschnitten
buchenwald und mölln sowie stutthof und dessau
immer mal wieder
zu übergriffen kommen
den dabei unübersehbaren rechtsradikalismus
bitten wir
zu entschuldigen

wieder ein tag
an dem ich nur rausschaue
die hände gefaltet
im schoß

Silentium
Mnemosyne
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Re: die leitstelle der ubahn spricht

Beitragvon Silentium » 21.11.2003, 14:52

Hallo Solneman!

Kennst du diese Vexierbilder, bei denen du lange auf eine bunte Fläche starrst und plötzlich entsteht ein dreidimensionales Bild?
So ist's mir bei diesem Gedicht gegangen.
Zuerst eine schlichte ansage und dann plötzlich hymnentext. dann bauerbeiten, total banal, und plötzlich hängt da ein "unserer geschichte", völlig überraschend. Noch mal durchgelesen.
Und plötzlich macht's ping und ein bild entsteht. Find' ich wunderbar, das gedicht.
I would go to the Dark Side in a heartbeat if I thought they had better dialog over there.
- Ursula Vernon

Hamburger
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Re: die leitstelle der ubahn spricht

Beitragvon Hamburger » 28.11.2003, 13:21

Hallo solneman!

Ich möchte mich anschliessen. Dieses Gedicht ist schon jetzt eines meiner Favoriten für eine Best-Of-Sammlung dieses Jahres. Anhand dieses Gedichtes habe ich echt angefangen, mal ein bisschen rumzuspinnen. Eine solche Ansage, vieleicht für Gäste der Linie U 4 oder
S 2 - was würde sie hervorrufen?

Die wahrscheinlichste Antwort ist: nichts!

Selbst die zwei, drei Gestalten, die herumlaufen würden auf der Suche nach ebenso aufgebrachten Gestalten würden sich schnell einreihen in die Reihe derer, die aus dem Fenster schauen.

Auch als Filmanfang könnte ich mir dieses Gedicht denken. Das wäre alleine schon provokant genug, um beim Festival in Cannes Schlagzeilen ohne Ende zu bekommen. Wahrscheinlich würde es eine dieser folgenlosen gesellschaftlichen Debatten auslösen, die nicht zu mehr Zivilcourage führen würden als bisher.

Aber ich muss mich ebenso schuldig bekennen. Auch ich hatte vor ein paar Monaten, als ein augenscheinlich rechtsradikal gepolter Idiot in der U-Bahn ein osteuropäisches Ehepaar mit einem zischenden "Haut ab. Ihr habt hier nichts zu suchen, ihr Kanaken", belegte, nicht den Mut aufzustehen und mich ihm entgegenzustellen.

Hamburger
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Re: die leitstelle der ubahn spricht

Beitragvon gelbsucht » 30.11.2003, 02:59

Hallo solneman,

ja, das ist wirklich ein gutes, ein interessantes Gedicht. An politische Gedichte wage ich mich selbst nicht, umso mehr bewundere ich Leute, die sich das zutrauen und die sich das nicht nur zutrauen, sondern dabei auch noch den richtigen Ton treffen. Ich halte das für verflucht schwierig, diesen Grat zu wandern, diesen Drahtseilakt zu vollführen, sich kritisch zu äußern, ohne dabei zu dick aufzutragen oder zu stark zu moralisieren, ohne dabei in Schwarz-Weiß-Seherei oder Bevormundung abzurutschen. Jene kann man als Leser schnell als ungerecht und platt, diese schnell als arrogant und überheblich empfinden.

Well done, solneman!!!

;-) gelb :-)
"Ein Kluger bemerkt alles - ein Dummer macht über alles eine Bemerkung." (Heinrich Heine)


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