Gegengift
In den Ritzen zwischen den Bordsteinen
wachsen Moos und Pilze
LKWs donnern durch die Strassen
Die Scheiben der Häuser zittern
Eine dünne Schicht Staub
die sich jeden Tag erneuert
Vorgezogene Gardinen
Hinter denen sich Dinge abspielen
Die man lieber nicht wissen möchte
Unbeschreibliche Dinge
Inzest und Langeweile
Demütigung und Kartoffelsalat
Eine bürgerliche Daily Soap
Die Scheiben beschlagen
Und hinter dem breiten Schrank
im Wohnzimmer (Mahagoni rustikal)
gedeiht unbemerkt schwarzer Schimmel
Im Supermarkt ein wohl geordnetes
Sortiment an Lebensnotwendigem
Fett Zucker und Ballaststoffe
in allen Formen und Variationen
Natürlich auch Vitamine und Bier
und eine hysterische Kassiererin
die sich bemüht freundlich zu sein
während sie an ihrem Fließband
Menschen im Minutentakt abfertigt
Im Park steht ein Baum und verblutet
Flankiert von leer stehenden Quadern
hinter deren Glasfassade seit Monaten
das Plakat "Zu Vermieten" hängt
Eines Tages werden die Ratten
aus dem Abwasser nach oben kommen
und auf den Straßen verenden
wie bei Camus wird es sein
Sie werden nach oben kommen
und dann geht alles ganz schnell
In der Kloake aus Urin und Blut
aus verdorbenen Essensresten
und allen denkbaren menschlichen
Krankheiten und Ausscheidungen
unter Zusatz von Tensiden
von Aspirin und Antibiotika
braut die Natur ihr Gegengift
© by H. Eiter
Gegengift
-
- Orpheus
- Beiträge: 267
- Registriert: 04.01.2004, 19:30
Gegengift
and all the lousy little poets coming round ...
Re: Gegengift
Hallo Herr Eiter!
Ohne lange Vorrede - dieses Gedicht finde ich trotz einiger Mängel gelungen.
Was mir gefällt:
Thematisch haben sie mich weitgehend auf ihrer Seite. Die Verachtung für das Bürgertum, die aus ihren Zeilen spricht, kann ich zwar in dieser extremen Form nicht teilen, aber aufgrund meiner Sozialisation bestens nachvollziehen.
Was die Umsetzung angeht, so finde ich das Gedicht deshalb stark, weil es ins Detail geht und durch starke Bilder zu überzeugen vermag. Ich habe da einige Lieblingsstellen
Eine ziemlich schauderhafte Verbindung gepaart mit einer ebenso treffenden zweiten Beobachtung. Eigentlich sollte "Kartoffelsalat" als das Synonym schlechthin fürs Bürgertum gelten und den "Gartenzwerg" ablösen.
Guter Blick unter die Oberfläche auf die Strukturen.
Sehr gute, kalte, eingehende Beschreibung.
Jawoll, schön detailiert. Da brodelts und durch die Anschaulichkeit wird`s schön eklig.
Das ist überhaupt eine Stärke des gesamten Gedichtes. Es vermag leidige Abstraktionen so gut wie völlig zu vermeiden. Und wenn, dann sind sie entweder gut durch den Kontext gebrochen ("Inzest und Langeweile") oder werden nach ihrer Verwendung beschrieben
Was mir nicht gefällt:
Ich bin mir nicht ganz sicher, ob da nur die Verachtung des Bürgertums oder des Menschen an sich aus ihnen spricht. Ihre Zukunftsvision gegen Ende klingt - abgesehen davon dass sie nicht sehr originell ist und ihre Wirkung nur durch die eingehende Schilderung erzielen kann
- so bedrohlich, als sei der Mensch an sich das Leben nicht wert und nicht nur die von ihnen so harsch angegangene Existenzform.
Der Gegensatz Mensch/Natur, den sie ferner aufbauen ist selbstverständlich aktueller denn je, wirkt aber irgendwie ausgelutscht. Ist wahrscheinlich Geschmackssache. Habe wohl schon zu viel in dieser Richtung gelesen. Deshalb wirkte ihr Gedicht auf mich auch ziemlich vorhersehbar, nicht was die Bilder, sondern was die Intention angeht. Ein verschlüsselterer Titel könnte hier übrigens Abhilfe schaffen.
Dann gibt`s noch zwei Schwachstellen, die ich erwähnen möchte
Das ist keine wirkliche Schwachstelle, aber da hätte man mehr draus machen können, wie ich finde. Das "man" bezieht sich in meiner Interpretation vor allem auf den Leser bzw. auf den Typus des Außenstehenden, der das besser alles nicht wissen will.
Der Witz ist ja: Auch die von der Situation Betroffenen ergeben sich eventuell nicht nur dumpf der Situation, sondern sind unzufrieden und enttäuscht. Eine Möglichkeit, beides einzuschließen, wäre ein Ersetzen des Verbs "wissen" durch "leben".
Es hieße dann:
Vorgezogene Gardinen
Hinter denen sich Dinge abspielen
Die man lieber nicht leben möchte
Die Idee kam mir spontan. Eventuell müsste man dafür noch die "Dinge" in Zeile 2 ändern, die eh etwas abgegriffen klingen.
Das ist ziemlich platt. Und damit unterfordern sie auch den Leser. Das hat dieser bis dahin längst selbst bemerkt. Dies auszusprechen ist überflüssig - die Zeile würde ich komplett weg lassen.
Fazit: Es war interessant und schön - und das meine ich ganz ehrlich und ohne jeden fiesen Hintergedanken - mal etwas Inhaltliches von Ihnen geboten zu bekommen. Und was sie geboten haben macht durchaus Lust auf mehr. Bin gespannt auf ihre nächsten Postings.
MFG,
Hamburger
Ohne lange Vorrede - dieses Gedicht finde ich trotz einiger Mängel gelungen.
Was mir gefällt:
Thematisch haben sie mich weitgehend auf ihrer Seite. Die Verachtung für das Bürgertum, die aus ihren Zeilen spricht, kann ich zwar in dieser extremen Form nicht teilen, aber aufgrund meiner Sozialisation bestens nachvollziehen.
Was die Umsetzung angeht, so finde ich das Gedicht deshalb stark, weil es ins Detail geht und durch starke Bilder zu überzeugen vermag. Ich habe da einige Lieblingsstellen
Inzest und Langeweile
Demütigung und Kartoffelsalat
Eine ziemlich schauderhafte Verbindung gepaart mit einer ebenso treffenden zweiten Beobachtung. Eigentlich sollte "Kartoffelsalat" als das Synonym schlechthin fürs Bürgertum gelten und den "Gartenzwerg" ablösen.
und eine hysterische Kassiererin
die sich bemüht freundlich zu sein
während sie an ihrem Fließband
Menschen im Minutentakt abfertigt
Guter Blick unter die Oberfläche auf die Strukturen.
Im Park steht ein Baum und verblutet
Flankiert von leer stehenden Quadern
hinter deren Glasfassade seit Monaten
das Plakat "Zu Vermieten" hängt
Sehr gute, kalte, eingehende Beschreibung.
unter Zusatz von Tensiden
von Aspirin und Antibiotika
braut die Natur ihr Gegengift
Jawoll, schön detailiert. Da brodelts und durch die Anschaulichkeit wird`s schön eklig.
Das ist überhaupt eine Stärke des gesamten Gedichtes. Es vermag leidige Abstraktionen so gut wie völlig zu vermeiden. Und wenn, dann sind sie entweder gut durch den Kontext gebrochen ("Inzest und Langeweile") oder werden nach ihrer Verwendung beschrieben
Im Supermarkt ein wohl geordnetes
Sortiment an Lebensnotwendigem
Fett Zucker und Ballaststoffe
Was mir nicht gefällt:
Ich bin mir nicht ganz sicher, ob da nur die Verachtung des Bürgertums oder des Menschen an sich aus ihnen spricht. Ihre Zukunftsvision gegen Ende klingt - abgesehen davon dass sie nicht sehr originell ist und ihre Wirkung nur durch die eingehende Schilderung erzielen kann
- so bedrohlich, als sei der Mensch an sich das Leben nicht wert und nicht nur die von ihnen so harsch angegangene Existenzform.
Der Gegensatz Mensch/Natur, den sie ferner aufbauen ist selbstverständlich aktueller denn je, wirkt aber irgendwie ausgelutscht. Ist wahrscheinlich Geschmackssache. Habe wohl schon zu viel in dieser Richtung gelesen. Deshalb wirkte ihr Gedicht auf mich auch ziemlich vorhersehbar, nicht was die Bilder, sondern was die Intention angeht. Ein verschlüsselterer Titel könnte hier übrigens Abhilfe schaffen.
Dann gibt`s noch zwei Schwachstellen, die ich erwähnen möchte
Vorgezogene Gardinen
Hinter denen sich Dinge abspielen
Die man lieber nicht wissen möchte
Das ist keine wirkliche Schwachstelle, aber da hätte man mehr draus machen können, wie ich finde. Das "man" bezieht sich in meiner Interpretation vor allem auf den Leser bzw. auf den Typus des Außenstehenden, der das besser alles nicht wissen will.
Der Witz ist ja: Auch die von der Situation Betroffenen ergeben sich eventuell nicht nur dumpf der Situation, sondern sind unzufrieden und enttäuscht. Eine Möglichkeit, beides einzuschließen, wäre ein Ersetzen des Verbs "wissen" durch "leben".
Es hieße dann:
Vorgezogene Gardinen
Hinter denen sich Dinge abspielen
Die man lieber nicht leben möchte
Die Idee kam mir spontan. Eventuell müsste man dafür noch die "Dinge" in Zeile 2 ändern, die eh etwas abgegriffen klingen.
Eine bürgerliche Daily Soap
Das ist ziemlich platt. Und damit unterfordern sie auch den Leser. Das hat dieser bis dahin längst selbst bemerkt. Dies auszusprechen ist überflüssig - die Zeile würde ich komplett weg lassen.
Fazit: Es war interessant und schön - und das meine ich ganz ehrlich und ohne jeden fiesen Hintergedanken - mal etwas Inhaltliches von Ihnen geboten zu bekommen. Und was sie geboten haben macht durchaus Lust auf mehr. Bin gespannt auf ihre nächsten Postings.
MFG,
Hamburger
"If it's a hit? - Yeah, that's me! If it's a miss? - Yeah, that's me!" (Robert Palmer)
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- Registriert: 04.01.2004, 19:30
Re: Gegengift
Vielen Dank für den Aufwand und für die unvoreingenommene Rezension des Gedichtes.
So ist es. Ich brauche es nicht verleugnen: ich bin ein Menschenhasser, ein bekennender Misanthrop. Diese Kreatur, dieser entsetzliche Fehlgriff der Natur, mit der Neigung nicht nur sich selbst, sondern gleich seine ganze Umwelt zugrunde zu richten, sollte besser vom Erdboden getilgt werden. Nach dem lauwarmen Ausklang des Kalten Krieges, nach dem Ausbleiben des Overkills, träume ich nun von einer verheerenden Seuche oder von einem gewaltigen Kometen, der die Bahn dieses Planeten kreuzt. Wenn wir es einigermaßen objektiv betrachten: was hat die Disposition zu aufrechtem Gang, Sprache, Intelligenz, Kunst, Handwerk und Technik gebracht? Betrachten sie die Sagen der alten Griechen (besonders die Heraklessage): der "gute" Mensch befreit die Welt von den Monstern und Untieren der Urgeschichte. Ebenso gut könnte man sagen, die schlimmste Kreatur von allen hat überlebt. Das Beste wäre, es hätte dieses Geschlecht nie gegeben, das Zweitbeste, es würde so schnell als möglich ausgerottet werden.
H. Eiter
Ich bin mir nicht ganz sicher, ob da nur die Verachtung des Bürgertums oder des Menschen an sich aus ihnen spricht. Ihre Zukunftsvision gegen Ende klingt - abgesehen davon dass sie nicht sehr originell ist und ihre Wirkung nur durch die eingehende Schilderung erzielen kann
- so bedrohlich, als sei der Mensch an sich das Leben nicht wert und nicht nur die von ihnen so harsch angegangene Existenzform.
So ist es. Ich brauche es nicht verleugnen: ich bin ein Menschenhasser, ein bekennender Misanthrop. Diese Kreatur, dieser entsetzliche Fehlgriff der Natur, mit der Neigung nicht nur sich selbst, sondern gleich seine ganze Umwelt zugrunde zu richten, sollte besser vom Erdboden getilgt werden. Nach dem lauwarmen Ausklang des Kalten Krieges, nach dem Ausbleiben des Overkills, träume ich nun von einer verheerenden Seuche oder von einem gewaltigen Kometen, der die Bahn dieses Planeten kreuzt. Wenn wir es einigermaßen objektiv betrachten: was hat die Disposition zu aufrechtem Gang, Sprache, Intelligenz, Kunst, Handwerk und Technik gebracht? Betrachten sie die Sagen der alten Griechen (besonders die Heraklessage): der "gute" Mensch befreit die Welt von den Monstern und Untieren der Urgeschichte. Ebenso gut könnte man sagen, die schlimmste Kreatur von allen hat überlebt. Das Beste wäre, es hätte dieses Geschlecht nie gegeben, das Zweitbeste, es würde so schnell als möglich ausgerottet werden.
H. Eiter
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