Opferjustiz

Du schreibst Gedichte? Laß sie nicht in einer Schublade verschimmeln! Menschenbeifall wirst Du hier finden, aber auch Kritik und Rat.
razorback
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Re: Opferjustiz

Beitragvon razorback » 13.02.2004, 19:50

Da haste was angerichtet mit Deinem Gedicht, Flocke... ;-)

1)
Ist die faschistische Herrschaftsausübung mit ihrem Hinweis auf lebensunwertes Leben wirklich unvergleichlich mit Verbrechen aus dem kommunistischen Machtbereich, soweit eben eine soziale Klasse auszurotten war (und nicht eine "Rasse")


Ja, unbedingt, und es erstaunt mich, dass Du so eine Fangfrage stellst. Spielst Du Spielchen? Es handelt sich um zwei völlig verschiedene Arten der "Ausrottung". Die Abschaffung einer sozialen Klasse ist nicht möglich, indem man die Individuen physisch vernichtet - es könnten ja jederzeit neue Individuen in diese Klasse nachrücken, wenn die gesellschaftlichen Bedingungen entsprechend erhalten bleiben. Eine soziale Klasse schafft man ab, indem man die Bedingungen für ihre Existenz abschafft. Die Individuen existieren weiter, nur eben in einer anderen Klasse. Die Vernichtung einer Rasse hingegen lässt sich nur durch Vernichtung der Individuen bewerkstelligen. Du vermischst Biologie und Soziologie.

Gegenfrage: Wieso setzt Du Nationalsozialismus gleich mit Faschismus?

2)
Wie würden sich russische Bürger argumentativ verteidigen gegenüber dem Vorwurf, ihre Wahl der kommunistischen Partei und die Billigung ihres Programmes habe die Ausrottung einer sozialen Klasse hervorgerufen. Diese Zustimmung in ein evidentes Programm mache zumindest die Bürger der Stalinismus-Ära zu einem "Tätervolk"?


Keine Ahnung, frag einen russischen Bürger. Wenn Du mich fragst - siehe oben. Die Ausrottung einer sozialen Klasse ist an sich erstmal wertfrei zu sehen - so lange man sie nicht mit der Ausrottung der Individuen verwechselt.

3)
Ist die hohmannsche Argumentation der Analogieschlüsse eine manipulierende und herabsetzende Vorgehensweise gegenüber den "Opfervölkern"?


Sorry - nicht schon wieder Hohmann und sein kalkulierter Blödsinn. Soll diesmal jemand anderes was dazu sagen.

Wenn die Schwere der unmenschlichen Verbrechen im faschistischen Machtraum tatsächlich vergleichbar oder unvergleichbar wäre:

Ist ein solches Relativieren oder Nichtrelativieren tatsächlich eine hinreichende oder notwendige Bedingung für eine "Kultur des Sicherinnerns"?


Nicht die Diskussion ist die Bedingung, sondern das Verbrechen selbst.
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Auf Eulen Schwingen
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Re: Opferjustiz

Beitragvon Auf Eulen Schwingen » 13.02.2004, 21:29

Grüß Dich, razorback,

nein, ich spiele keine spielchen.

Und kenne in etwa die Debatte, die hier
fixiert ist (Und kenne die Argumente von Wippermann gegen die Totalitarismusthese auch anderenorts):

Stèphane Courtois u.a.: Das Schwarzbuch des Kommunismus. Unterdrückung, Verbrechen und Terror, Piper, München/Zürich 1998

Jens Mecklenburg/Wolfgang Wippermann (Hg.): »Roter Holocaust«? Kritik des Schwarzbuchs des Kommunismus, Konkret Literatur Verlag, Hamburg 1998

Aber vielleicht mögen hier erst noch andere antworten?

P.S.

Wenn die Schwere der unmenschlichen Verbrechen im faschistischen Machtraum tatsächlich vergleichbar oder unvergleichbar wäre:

Ist ein solches Relativieren oder Nichtrelativieren tatsächlich eine hinreichende oder notwendige Bedingung für eine "Kultur des Sicherinnerns"?


Nicht die Diskussion ist die Bedingung, sondern das Verbrechen selbst.


In der Tat.
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Re: Opferjustiz

Beitragvon razorback » 13.02.2004, 22:02

Das wäre schön... während wir darauf warten, könntest Du ja mal Argumente bringen, anstelle einer Bibliographie.

Entschuldige, wenn mein Ton etwas scharf ist, der Diskussionmethode, sich gegenseitig die eigenen Vordenker an den Kopf zu werfen, bin ich überdrüssig (ich kenne Sie sehr gut, keine Sorge). Du beeindruckst mich nicht mit Namen. Wenn Du mich widerlegst und dabei die Argumente grosser Geister benutzt - sehr gut. Aber benutzen musst Du sie schon.

Was mich betrifft, setze ich bei niemandem die Kenntnisse irgendwelcher Texte, Fachdiskussionen oder Argumente voraus, das wäre anmassend, arrogant und lächerlich. Den Hergang einer bestimmten historischen oder philosophischen Diskussion, die ich kenne bei zum Beispiel einer Schülerin wie Silentium vorauszusetzen, wäre dumm. Zu glauben, ihre Beiträge zur Diskussion hätten nur Gewicht, wenn sie entsprechende theoretische Vorkenntnisse hat, wäre saudumm. Ausserdem könnte dann gelb um die Ecke kommen, und mir die Unkenntnis bestimmter Soziologischer Diskussionen vorwerfen. So kreist dann jeder um sich selbst.

Solltest Du Dich übrigens auf meine Leseempfehlung an Silentium beziehen - das sollte kein Ersatz für ein Argument sein. Haffners Buch bietet Basiswissen und Denkanstösse - wo er Lösungen anbietet macht er klar, dass sie wenig mehr als Thesen sind.

Also, AES: Anstatt uns hier für Modelle für Wippermann und Courtois zu halten (Welchletzteren ich zum Beispiel nicht gelesen habe - und Ersteren auch nur in anderem Zusammenhang) - was sagst DU? Sich gegenseitig Bücherlisten rüberzuschieben, das ist für den AStA. :-p

P.S.: EY! DAS GILDET NICHT! Ich schimpfe hier rum, und Du hängst P.Sse dran. Aber gut - wir sind uns also schonmal in mindestens einem Punkt einig. Das tröstet doch. :-D
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Re: Opferjustiz

Beitragvon Auf Eulen Schwingen » 13.02.2004, 22:57

Dear razorback,

ich schätze deine präzísion in der Argumentation sehr. Und das wird jetzt hoffentlich nicht als herablassend missverstanden.

Ich denke, dass wir hier keinen scharfen Ton untereinander brauchen. Und ich denke, dass es für eine Diskussion gut ist, wenn sich Forummembers vielleicht hier ein wenig einlesen. Das wird jetzt - i hope - nicht als kneifen interpretiert?

Das Schwarzbuch des Kommunismus

Möllers Vorwort, Gauck, Semler ...?

cordialimente

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Re: Opferjustiz

Beitragvon Silentium » 13.02.2004, 23:54

Okay, um mich davon abzuhalten, weiteren Blödsinn zu reden, stelle ich einfach ein paar Fragen, die ich noch nicht ganz überrissen habe. Sind keine provokativen Fragen, ich versuche nur Klarheit in mein Hirn zu bekommen.


Diskussionserkenntnis:
Ob ich ein Verbrechen aus Gier oder aus Rassenhass begehe, ist ein Unterschied.
Frage: Ist dieser Unterschied auch gegeben, wenn die beiden zu vergleichenden Verbrechen genau gleich schwer wiegen? Wie wird er dann begründet.

Die deutschen sind ein Tätervolk, der Rest der Welt ist es nicht. (laut rzb)
Tätervolk definiert sich also folgerichtig dadurch, ob das Verbrechen ausdrücklich im Namen des Volkes, durch das Volk und durch das Volksbewusstsein geschehen ist?
Kann man dann logischerweise von einer "Täterwirtschaft" oder einer "Täteridustrie" sprechen?

Die Hexenverfolgung war eine der größtangelegtesten Verfolgung Andersartiger ever und zwar im eigenen Land. Nicht mit dem Vorsatz, die Rasse reinzuerhalten, sondern die Bevölkerung vor Hexen zu schützen. Aber es war beides Mal ein Irrglaube im Spiel? Wo genau ist da der Unterschied? Ist die katholische Kirche eine Täterreligion?

Wie lange ist die Tätervolksschaft haltbar? Sind nur die damaligen Deutschen ein Tätervolk oder sind es die heutigen auch? Oder hieße es dann "Die Deutschen WAREN ein Tätervolk?" Werden unsere Nachfahren in drei Generationen auch noch ein Tätervolk sein.

Wenn ein Verbrechen zwar von einem Volk begangen wird, beziehungsweise von offiziellen Vertretern desselben, aber jedoch wirtschaftliche oder territoriale Interessen dahinterstehen, welchen Stellenwert ist diesem Beizumessen?
Muss man sich auch daran erinnern oder darf das vergessen werden? Wenn auch dieses erinnerungswürdig ist, sprich frevelhaft, wo liegt dann wieder der aufarbeitungsaufwandtechnische Unterschied zum rassenbedingten Völkermord.

Ist ein Verbrechen nach a) der Schwere oder nach der b ) geplanten Schwere zu beurteilen?
Wenn a), dann wiegt der Mord an den Inkas schwerer als der an den Juden, weil die Inkakultur unterging, während die Juden überlebten, auch wenn es eigentlich anders gepland war?
Oder b ) dann wäre jemand, der sich vorstellt, die gesamte Menschheit auszurotten also noch schlimmer als alle beiden zusammen?

Hin und wieder, wenn der CNN sich dazu herablässt, auch mal über's Ausland zu berichten, dann habe ich den Verdacht, dass sie beim Wort "germany" oder auch "Austria" sofort denken: Second World War! Holocaust!
Bilde ich mir vielleicht ein, aber ist es möglich, dass wir manchmal wirklich in gewisser Hinsicht reduziert werden auf diese Geschehnisse?

Aufarbeitungsmäßig verhält man sich nicht schlecht, finde ich, im Schnitt. Opfer werden -viel zu spät, aber doch- wenigstens ein bisschen entschädigt.
Die Nachfahren vieler Indianerstämme leben heute in größter Armut.
Es fällt Amerika nicht im Traum ein, hier eine Aufarbeitung zu starten, auch wenn es schon lange her ist, und zu entschädigen. Haben die Indianer darauf kein Anrecht, weil es sich um einen ordinären territorialen Völkermord gehandelt hat? Wenn ja, dann ist das pervers. Wenn nein, dann ist das eigentlich alles, was ich mit all dem Zeug, mit dem ich mir euren göttlichen Zorn zugezogen habe, sagen wollte. Nämlich, dass es mehr Aufzuarbeiten rund um den Globus und es unfair anderen Opfern gegenüber ist, still vor sich hin aufzuarbeiten weil wir das schlimmste Motiv von allen hatten.
Das hab ich auch mit diesem komischen Messerarmabsäbelgleichnis gemeint. Razorback und ich würden nicht gleich bestraft werden, wäre ja ziemlich lächerlich. Aber ich käme trotzdem nicht drum herum, Schuld einzugestehen, was man sich in einigen Staaten aber strikt zu tun weigern. Versteht ihr, was ich meine?

So, und jetzt bin ich völlig konfus und kenn mich nimmer aus.
Hilfe!

edit: ach ja, wenn ich eine Woche untertauche, liegt das nicht daran, dass ich mich meiner unwissenheit schäme (das auch, aber das wär kein fluchtgrund), sondern weil ich zu einem Familienurlaub gezwungen bin. seufz.
I would go to the Dark Side in a heartbeat if I thought they had better dialog over there.
- Ursula Vernon

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Re: Opferjustiz

Beitragvon razorback » 14.02.2004, 13:47

Ich denke, dass wir hier keinen scharfen Ton untereinander brauchen. Und ich denke, dass es für eine Diskussion gut ist, wenn sich Forummembers vielleicht hier ein wenig einlesen. Das wird jetzt - i hope - nicht als kneifen interpretiert?


Wird es nicht, jedenfalls nicht von mir. Bücherlisten zum Einlesen oder zum Vertiefen des Themas finde ich absolut in Ordnung - ist übrigens auch eines der Hobbys von gelbsucht. In Deinem letzten Post klang es nur... etwas anders.

Ob ich ein Verbrechen aus Gier oder aus Rassenhass begehe, ist ein Unterschied.
Frage: Ist dieser Unterschied auch gegeben, wenn die beiden zu vergleichenden Verbrechen genau gleich schwer wiegen? Wie wird er dann begründet.


Beides sind Verbrechen aus niederen Beweggründen, also Morde, verachtenswert und verwerflich. Es gibt jedoch zwei für mich wichtige Unterschiede:

1.) Der Mord aus Gier zielt auf Befriedigung der Gier, die Dimension ist also endlich. Der Mörder aus Gier tötet insofern es für die Befriedigung seiner Gier notwendig ist. Wenn es um eine andere Gier als Mordgier geht, ist Mord nicht der Zweck, sondern das Mittel.

2.) Der Mord aus "Rassenhass" zielt - zumindest bei einer bestimmten Form des Rassenhasses - auf die Vernichtung der gesamten anderen Rasse, ist also in der Dimension nahezu unendlich. Der Mord, die "Ausrottung" ist der Zweck.

Beides bleibt sich in den Auswirkungen mehr oder weniger gleich, wenn es sich bei den Tätern um Einzelpersonen handelt, zeigt sich aber in der Unterschiedlichkeit der Dimensionen, wenn es zu staatlicher Doktrin wird. Was sich sehr deutlich bei dem von Dir angestossenen Vergleich des frühneuzeitlichen Spanien mit Nazideutschland zeigt: Stelle einmal das Gedankenexperiment an, das Spanien Karls V in die 1940er Jahre zu verlegen. Mit den modernen Waffen und Techniken hätten die Spanier Südamerika sehr viel leichter unterwerfen können, es hätte mit grosser Sicherheit weniger Tote auf Seiten der Indianer gegeben (man tötet keine potentiellen Sklaven, wenn es nicht sein muss, gerade, wenn man aus Gier handelt). Die Mordmaschinerie Nazideutschlands dagegen konnte nur so effektiv sein, weil sie die modernen Mittel hatte. Wenn das Ziel ausschliesslich Vernichtung ist, wird es schlimmer, je besser die Mittel sind.


Die deutschen sind ein Tätervolk, der Rest der Welt ist es nicht. (laut rzb)


Für alle, die die Diskussion anderswo nícht verfolgt haben: Das habe ich in Bezug auf den Holocaust behauptet und gleichzeitig den Tätervolkbegriff für die Juden in Bezug auf die Verbrechen im Rahmen der Oktoberrevolution und der folgenden Bolschewisierung Russlands abgelehnt. Vor allem deshalb, weil die Juden, die beteiligt waren, nicht in ihrer Eigenschaft als Juden gehandelt haben, sondern als Kommunisten. Es wäre genauso absurd, die Christen als Tätervolk in Bezug auf den Holocaust zu bezeichnen.

Also, Silentium, um nicht falsch verstanden zu werden: Ich bezeichne die Deutschen (und Euch Österreicher, ja ;-) ) als Tätervolk in Hinsicht auf dieses einzigartige Verbrechen. Was zum Beispiel die Nordamerikanischen Indianer betrifft - da darf sich das Tätervolk der USA schuldig fühlen (ich musste kürzlich wieder einen amerikanischen Journalisten erleben, der im Brustton der Überzeugung sagte, die USA hätten keine Geschichte des Imperialismus). Aber es geht eben doch um unterschiedliche Verbrechen - siehe oben.

Tätervolk definiert sich also folgerichtig dadurch, ob das Verbrechen ausdrücklich im Namen des Volkes, durch das Volk und durch das Volksbewusstsein geschehen ist?
Kann man dann logischerweise von einer "Täterwirtschaft" oder einer "Täteridustrie" sprechen?


Schwer, aus zwei Gründen: Erstens fällt mir wirklich kein Fall ein, in dem ein Verbrechen ausdrücklich im Namen "Der Wirtschaft" begangen wurde, ganz einfach, weil es "die Wirtschaft" nicht gibt. Wie willst Du definieren? Alle Unternehmen weltweit? Die handeln nicht einheitlich. Und wenn Du es auf ein Land herunterbrichst, hast Du wieder die nationale oder völkische Komponente. Einzelne Unternehmen dagegen können sich durchaus schuldig machen. Nimm die Bristische East-India-Company. Da trifft für mich das selbe zu, wie bei Völkern: Sollte es ein Nachfolgeunternehmen dieser Company geben, trifft natürlich keinen der heutigen Mitarbeiter irgendeine Schuld. Das Unternehmen als Gesamtheit aber trägt diese Schuld (so lange es existiert) und hat deshalb eine besondere Verantwortung in Bezug auf Erinnerung und entsprechendes Handeln.

Die Hexenverfolgung war eine der größtangelegtesten Verfolgung Andersartiger ever und zwar im eigenen Land. Nicht mit dem Vorsatz, die Rasse reinzuerhalten, sondern die Bevölkerung vor Hexen zu schützen. Aber es war beides Mal ein Irrglaube im Spiel? Wo genau ist da der Unterschied? Ist die katholische Kirche eine Täterreligion?


Ja. Wie auch die Protestantische. Die haben auch gerne mal eine Hexe verbrannt. Die Gründe waren übrigens ungeheuer vielschichtig, die Bevölkerung schützen wollten vermutlich nur einige wenige, sehr einfach gestrickte Geistliche. Ansonsten findest Du alle möglichen Motive, von purer Gier bis zur Errichtung geistlicher Monopole. Die Hexen waren auch nicht andersartig (die Juden übrigens auch nicht), sie wurden, wie die Juden, dazu ernannt. Die Juden kollektiv, die Hexen im jeweiligen Einzelfall.

Wie lange ist die Tätervolksschaft haltbar? Sind nur die damaligen Deutschen ein Tätervolk oder sind es die heutigen auch? Oder hieße es dann "Die Deutschen WAREN ein Tätervolk?" Werden unsere Nachfahren in drei Generationen auch noch ein Tätervolk sein.


Ja, würde ich sagen. Noch einmal - "Tätervolk" hat nichts mit individueller Schuld zu tun. Aber so lange die katholische Kirche existiert - um mal das andere Beispiel zu nehmen - wird sie sich mit der Verantwortung auseinandersetzen müssen, bei der Ermordung tausender "Hexen" mitgewirkt zu haben (zum Tode verurteilt wurden die "Hexen" üblicherweise von weltlichen Gerichten!).

Wenn ein Verbrechen zwar von einem Volk begangen wird, beziehungsweise von offiziellen Vertretern desselben, aber jedoch wirtschaftliche oder territoriale Interessen dahinterstehen, welchen Stellenwert ist diesem Beizumessen?
Muss man sich auch daran erinnern oder darf das vergessen werden? Wenn auch dieses erinnerungswürdig ist, sprich frevelhaft, wo liegt dann wieder der aufarbeitungsaufwandtechnische Unterschied zum rassenbedingten Völkermord.


Ich sehe, ehrlich gesagt, keinen Unterschied. Aber als Deutscher (auch noch katholisch :-D ) habe ich mit meinem Teil der Erinnerung genug zu tun, ich kann mich nicht noch um das kümmern, woran sich Spanier, Briten und meinethalben Nepalesen erinnern sollten. Ich kann mich bloss ein wenig entrüsten und besser fühlen, wenn zum Beispiel manche Nordamerikaner (siehe oben) sehr schnell vergessen :-D ;-) :-D . Nur wie gesagt - unser historisches Verbrechen hat eine einzigartige Dimension.

Ist ein Verbrechen nach a) der Schwere oder nach der b ) geplanten Schwere zu beurteilen?
Wenn a), dann wiegt der Mord an den Inkas schwerer als der an den Juden, weil die Inkakultur unterging, während die Juden überlebten, auch wenn es eigentlich anders gepland war?
Oder b ) dann wäre jemand, der sich vorstellt, die gesamte Menschheit auszurotten also noch schlimmer als alle beiden zusammen?


Zunächst irrst Du Dich - es gibt noch Inka, und sie bemühen sich zunehmend, sich auf ihre Wurzeln zu besinnen. Sehr erfolgreich ist in diesem Zusammenhang ein anderes Volk, dass der Maya. Und was die Juden in Deutschland betrifft - deren Kultur ist ebenso bis auf die Grundmauern niedergerissen wie die der Inka. Salomon Korn, der stellv. Vorsitzende des Zentralrates, sagte neulich noch in einem Interview, dass die Juden in Deutschland, von gewissen Kontinuitätslinien abgesehen, nicht auf das bauen könnten oder auch wollten, was es hier vor 1933 gegeben hat. Die heutige jüdische Kultur hierzulande ist anders, neu.

Die Frage nach der "Schwere" dagegen ist sehr, sehr gut. Ich bin nicht sicher. Für mich addieren sich Ergebnis, Durchführung und das, was ich oben die "Dimension" genannt habe. Ich weiss, das ist willkürlich. Aber ich kann mir andererseits nicht vorstellen, dass es dafür eine Rechenformel geben kann.

Jemand, der alle Menschen umbringen möchte, muss sich selbst ja, sofern er Mensch ist, einschliessen. Die Frage nach dem Motiv wäre interessant. Sollte er zur Durchführung schreiten, entspricht er, ob Staat oder Individuum, dem Mörder aus Rassenhass, denn er tötet nach dem selben Maßstab, nur in weiterem Rahmen.

Was Germany/Austria betrifft - nach meinen Erfahrungen werden wir im Ausland selten darauf reduziert, von Menschen in unserem Alter fast nie. Bei älteren Menschen, die zum Beispiel noch unter der Besatzung gelebt haben, mag das anders sein, sicherlich auch für viele Israeli. Viele Ausländer, gerade Angelsachsen, verstehen nicht einmal unsere sensibilität für das Thema. So wurde ich (bzw. die Gruppe, der ich angehörte) in einem freundschaftlichen Streit unter Sportsleuten mal von Engländern als "Bloody Hitler" beschimpft und die Schimpfenden waren überrascht, dass wir andere Beschimpfungen mit Humor schluckten und parierten, diese aber nicht. Auf einer Internetseite, die Amerikanern Tipps für Ihre Deutschlandtour gibt, habe ich ernsthaft den Hinweis gelesen, man solle besser nicht öffentlich den Hitlergruss zeigen, das wäre nicht witzig und führe zu grossem Ärger. Ich glaube, was die wirkliche Dimension dessen, was passiert ist angeht, sind wir in einem exklusiven kleinen Erinnerungsclub mit Juden, Sinti, Roma und vielleicht noch Polen und Russen. Deshalb ist es ja so wichtig, das die Opfer und wir nicht vergessen. Die anderen sind schon feste dabei.

Tja, und was die Verbrechen der anderen angeht - wenn die vergessen ist das schade und gefährlich. Aber das können wir nur bedauern, ändern können wir es nicht.

Hugh, ich habe gesprochen. Wie wäre es mal mit anderen Meinungen. Ich habe keine Lust, hier ein Deutungsmonopol zu eröffnen. Andererseits fällt es mir so schwer, den Mund zu halten :-D :-D

Familienurlaub? Wo? Viel Spass!
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Re: Opferjustiz

Beitragvon Auf Eulen Schwingen » 14.02.2004, 17:10

Dear razor and carissimi lectores,

(1)
nochmal, vielleicht war einiges missverständlich an meinen bibliographischen Hinweisen. Ich dachte nicht, dass hier eine Clon-Debatte geführt wird. Und ich dachte nicht, mich vor Argumenten zu drücken.

Ich denke, wenn man zwei Titel nach einem Doppelpunkt angibt, dann kann man über google sehr schnell die Argumente und Fakten finden, die eine Diskussion stützen.

(2)

Ich denke auch, man kann über die Singularität des Holocaust diskutieren. Weist man überzeugend nach, dass es sich nicht um ein singuläres Verbrechen handelt, so ist damit in keiner Weise eine "Kultur des Sich-Erinnerns" unmöglich gemacht worden (man vergleiche meine Frage nach der hinreichenden und notwendigen Bedingung von Relativierungen oder Nichtrelativierungen.) Es ist allerdings sicher so, dass es dumpfe Brüter und auch helle Demagogen gibt, welche mit dem Hinweis auf die Verbrechen anderer Völker das Verbrecherische der eigenen Geschichte für legitimiert halten oder als Ausdruck einer Kampf- und Notwehrsituation interpretiert sehen.

Es ist allerdings zu fragen, ob man für diese Konsequenz verantwortlich ist, wenn man historische Vergleiche vornimmt. Unstrittig aber gilt hier die Forderung nach erhöhter Sensibilität, sie ist in Hohmanns Rede sicher nicht zu finden.

(3)
Mit (2) zusammenhängend, ich denke, es gibt sehr gute Begründungen für den Totalitarismusvorwurf und die Vergleichbarkeit von Auslöschung einer Klasse oder einer Rasse.

Und zwar dann, wenn sich nachweisen lässt, dass sehr wohl Träger der sogenannten "bürgerlichen oder sonstigen Intelligenz" ermordet wurden, ohne dass man ihnen die Möglichkeit gab, ein anderes "soziales Setting" zu akzeptieren.

(4)
in dem Link findet sich ein Artikel des TAZ-Journalisten Christian Semler, auf den ich schon besonders hingewiesen habe. Ich rücke ihn hier in Ausschnitten ein, weil er die oben genannte Argumentation ausleuchtet:


Courtois betont die »Singularität von Auschwitz«, allerdings charakterisiert er sie in völlig unzulänglicher Weise, indem er sie reduziert »auf die Mobilisierung der modernsten technischen Ressourcen und die Ingangsetzung eines industriellen Prozesses, der Konstruktion einer Vernichtungsfabrik.« Mit solchen Definitionen ist weder der Dimension noch der Dynamik des nazistischen Völkermords beizukommen. Aber mit der Zurückweisung dieser verharmlosenden Auffassung ist noch nicht widerlegt, daß der Massenmord aus Gründen der Rassenzugehörigkeit nicht mit dem aus Gründen der Klassenzugehörigkeit verglichen werden kann. Mehr noch: daß zwischen beiden mörderischen Aktionen die von Courtois behaupteten »Ähnlichkeiten« existieren.

Einer solchen Behauptung ist in der linken Tradition stets mit dem Argument begegnet worden, daß die Rassenzugehörigkeit von Geburt an gegeben sei und niemals abgestreift werden könne – weshalb das Opfer des nationalsozialistischen Massenmords grundsätzlich keine Chance habe, seinem Henker zu entgehen. Hingegen wäre ein Mensch seiner Eigenschaft etwa als Bourgeois oder landbesitzender Bauer ledig, wenn er seiner Produktionsmittel verlustig ginge. Prinzipiell, das heißt nach dem erfolgreichen Ende der revolutionären Umwälzung und der Konsolidierung proletarischer Macht, sei eine zukünftige Existenz als Werktätiger gesichert. Um in dem angeführten Beispiel zu bleiben: Das Kind im Warschauer Ghetto hatte gegenüber den Nazis keine Überlebens­chance. Das ukrainische Bauernkind aber hätte, falls es den Hungertod überlebte, eine Enwicklungsmöglichkeit – als Kolchos­mitglied, oder, falls seine Interessen und Begabungen darüber hinausgingen, innerhalb jeder Funktion der sozialistischen Gesellschaft.

Das Problem dieser Beweisführung besteht nur darin, daß sie mit den historischen Fakten nicht übereinstimmt. Um dies zu erhärten, wird im folgenden vor allem auf den Beitrag von Nicolas Werth im Schwarzbuch – eigentlich eine eigene, abgeschlossene 250-Seiten-Studie – Bezug genommen. Sie faßt über die bekannten Arbeiten der Sowjetologen hinaus auch die neuen russischen Forschungen bis Mitte der neunziger Jahre zusammen, ist strikt empirisch orientiert, vergleicht die Repressions­zyklen miteinander, hält sich aber zurück bei großflächigen Verallgemeinerungen.

Werths Arbeit erhellt, daß schon in den frühen zwanziger Jahren darangegangen wurde, regimekritische oder aufständische Gruppie-
rungen nicht nur gewaltsam zu »pazifieren«, sondern sie in toto auszulöschen. Zum Beispiel die Kosaken vom Don und vom Kuban. Weil sich viele dem Zaren ergebene Kosaken den »Weißen« im Russischen Bürgerkrieg angeschlossen hatten, wurde aus einer Reihe von Ortschaften die gesamte Bevölkerung deportiert und zur Zwangsarbeit verschickt, die Städte wurden dem Erdboden gleichgemacht. Dies geschah, nachdem die Niederlage der »Weißen« besiegelt war. Konnte man die »Entkosakisierung« noch der Gewaltspirale des Bürgerkriegs zurechnen und den gewaltsamen Tod vieler Unschuldiger, so versagen solche Interpretationen bei der »Entkulakisierung« vom Ende der zwanziger Jahre.

Jetzt ist die Staatsmacht gefestigt, die Bauern sind unter Kontrolle des Regimes. Erstmals wird eine riesige Bevölkerungsgruppe, die »Kulaken«, zu Konterrevolutionären erklärt, nach ihrer »Sozialgefährlichkeit« in drei Kategorien eingeteilt und nach festgelegten Kontingenten deportiert bzw. erschossen. Die Stalinsche Führung rechtfertigte diese Massenrepressalien damit, sie habe in einem Akt der Notwehr gehandelt, denn ein großer Teil der Bauern habe die ihm Rahmen der Naturalsteuer auferlegten Getreidelieferungen zurückgehalten. Tatsächlich war die Verweigerungshaltung vieler Bauern das Resultat der Daumenschrauben, die ihnen die Bolschewiki zuvor angelegt hatten. Aber subjektiv erschien vielen der Kommunisten, die sich an den Zwangs­maßnahmen beteiligten, die »Entkulakisierung« als ein Kampf auf Leben und Tod zwischen der städtischen Revolution und der dörflichen Konterrevolution.

Diese Täuschung und Selbsttäuschung wurden endgültig zunichte gemacht im Jahr des Große Terrors 1937. Der von der Parteiführung abgesegnete operative Befehl Nr. 00477 ordnete die Tötung oder die Verbannung eines Kontingents ehemaliger Kulaken, ehemaliger Angehöriger oppositioneller Parteien und von Kriminellen an, die ihre Strafe verbüßten oder verbüßt hatten.

Dieser Terrorwelle, der in einem Jahr 700.000 Menschen zum Opfer fielen, schlössen sich Verfolgungen der in der Sowjetunion lebenden Ausländer an, denen vor allem die Polen und Deutschen als Gruppe zum Opfer fielen. Obwohl der Befehl die Verfolgung von »antisowjetischen Aktivitäten« abhängig macht, wird in der Praxis die bloße Existenz zum Beweis dieser Aktivitäten. Die soziale Charakterisierung als »Ehemaliger« ist jetzt das Brandzeichen. »Ehemaliger« zu sein wird eine quasi biologische Eigenschaft, sie vererbt sich auf die Kinder und Kindeskinder. Jede individuelle Verantwortlichkeit verschwindet. Diese Fixierung des Gruppenfeindes - gepaart mit äußerster Entschlossenheit, ihn auszurotten - bezeichnet den Punkt der größten Nähe zwischen der nazifaschistischen und der stalinistischen Ausrottungspolitik.

Die Abwehr- und Immunisierungsstrategen sind weit davon entfernt, sich mit dem Tatsachenkern auseinanderzusetzen, der Courtois' Vergleich von Rassenmord und Klassenmord zugrunde liegt. Statt dessen wird den Autoren des Schwarzbuchs unterstellt, sie borgten sich »ihre« Toten bei Hungerkatastrophen aus, um in einem Zahlenvergleich die Kommunisten als die noch größeren Massenmörder darstellen zu können.

So schreibt etwa Hermann L. Gremliza in der letzten Januar-Ausgabe von konkret: »Über die Zahl der Opfer zu rechten erscheint immer zynisch, ist hier aber unumgänglich. 11 der 15 Millionen >umgebrachter< Sowjetbürger und 22 bis 48 (den Spielraum läßt das Schwarzbuch) der 44,5 bis 72 Millionen >umgebrachter< Chinesen sind, sagen die Autoren, verhungert (und das sind möglicherweise weit weniger als in vergleichbaren Zeiträumen der vorkommunistischen Zeit dieser Länder und im Rest der Welt unterm Kapitalismus).«

Ebenso Bernhard Schmidt in ak vom 15. Januar 1998: »Ohne jede Unterscheidung stellt er [Courtois; C. S.] die Opfer von Hungersnöten als >Opfer des kommunistischen Systems< auf dieselbe Stufe wie die Opfer von Zwangsarbeit oder von gezielter staatlicher Repression.« Und auch Schmidt resümiert: »Würde man Courtois' Methode auf die übrige Welt, auf den Kapitalismus und ihm vorausgegangene gesellschaftliche Systeme anwenden, so käme man unweigerlich auf eine zigfach höhere Opferbilanz.«

Dieser Argumentationsstil verdunkelt die historische Beweisführung innerhalb des Schwarzbuchs. Wiederum sei das Gegenargument auf die Sowjetunion beschränkt, weil in ihrem Fall - im Gegensatz zu China - die Faktenbasis unbestritten ist. Die Hungersnöte in der Sowjetunion waren keine »Naturkatastrophen«, deren Folgen rechtzeitiger staatlicher Eingriff zwar hätte mildern, nicht aber abwenden können. Das trifft schon auf die Hungersnot von 1921 zu.

Trotz der schlechten Ernte von 1920 hielt die Staatsmacht an den vorher hochmanipulierten Ertragsschätzungen fest. Sie minderte nicht die im Rahmen des »Kriegskommunismus« festgelegten Beschlagnahmungskontingente und nahm deshalb den Bauern das Saatgut und die für deren eigenes Überleben notwendige Getreidemenge weg. Erst recht ist die große Hungersnot von 1932/33 Ergebnis einer vorgängigen Politik – der Zwangs­kollektivierung und »Entkulakisierung«. Werth hat sie als »regelrechten Krieg des Sowjetstaates gegen eine ganze Nation von kleinen Betrieben« qualifiziert.

1930 zog der Staat in der Ukraine 30 Prozent der Getreideernte ein (in der NEP-Phase hatten die Bauern nur 15 bis 20 Prozent in den Handel gebracht). Trotz schlechterer Ernte kletterte der Anteil auf 41,5 Prozent: Unter Drohungen, zum Teil unter Folter wurden die Bauern gezwungen, ihre gesamten Vorräte abzuliefern. Sie verfügten weder über irgendwelche Geldmittel, noch konnten sie in die Städte ausweichen - das verhinderte der Inlandspaß, kombiniert mit einer vollständigen Sperre für Bahnfahr­karten vom Land in die Städte. Während auf dem Land 1933 Millionen von Bauern verhungerten, exportierte der Sowjetstaat 18 Millionen Doppelzentner Weizen, um Investitionsmittel für die Erfüllung der Planvorhaben zu erlangen.

Angesichts dieser – keineswegs erst seit Erscheinen des Schwarzbuchs bekannten – Fakten ist es schlecht möglich, die sowjetische Führung von der direkten Verantwortung für die Hungersnöte zu entlasten. Deshalb führt ein allgemeiner Vergleich mit den Hungertoten, die Kapitalismus und Imperialismus zu verantworten hatten und haben, in die Irre. Dieser Vergleich wäre nur dann legitim, wenn er nicht Systemfolgen, sondern die Folgen einer je konkreten Politik in den Mittelpunkt rücken würde.

Von der Hungersnot im englisch besetzten Irland, vom Aushungern der Indianer Nordamerikas bis zur Verhängung von Hunger­blockaden überhaupt gab es genügend Beispiele solcher von imperialistischen Regierungen gezielt herbeigeführten Hungersnöte. Die Kritiker des Schwarzbuchs aber meinen etwas anderes: Sie buchen sämtliche tödlichen Folgen des kapital­istischen Siegeszugs auf das Konto eines Schuldigen: des »Systems«.

Die Entlastungsabsicht solcher Gegenangriffe sticht ins Auge. Einerseits wird den realsozialistischen Machthabern eingeräumt, daß sie ihr Aufbauwerk nur auf den Ruinen des vorangegangenen kapitalistischen Systems errichten konnten. Diese drückende, ererbte Last hätte ihren Aktionsraum eingeschränkt, sie verwundbar gemacht, ihnen oftmals keine andere Wahl gelassen als gewaltsame Krisenlösungen.


Diese Art von objektiver Notwendigkeit wird dem Realsozialismus gutgeschrieben und mit den weltweiten Verbrechen des Imperialsi-mus kontrastiert. In Wirklichkeit hat es nie eine »objektive Notwendigkeit« gegeben, die den sowjetischen Macht­habern nur die Waffe des Terrorismus gegenüber ihrer eigenen Bevölkerung gelassen hätte. Weder war der Terror von 1936 bis 1938 Voraussetzung für den Sieg über Nazideutschland im Zweiten Weltkrieg, noch hing die Existenz der Sowjetunion zu Beginn der dreißiger Jahre von der Liquidierung des Kulakentums als Klasse ab, noch war die sowjetische Politik gegenüber dem ländlichen Rußland je ohne Alternative gewesen.

Die ganze Struktur solcher Argumentationen ähnelt dem Witz, nach dem ein sowjetischer Funktionär der Stalinzeit auf die Anschuldigung eines amerikanischen Besuchers, in der Sowjetunion herrschten Willkür und Mißwirtschaft, geantwortet hat: »Und ihr unterdrückt die Schwarzen!« Alle Vergleiche helfen nichts: Die Hungersnöte in der Sowjetunion waren intendiert, sie waren Ergebnis einer politischen Linie, die die Bauern in die Knie zwingen wollte. Der Hunger wurde zu einer Waffe im Klassenkampf.

Opferbilanzen aufrechnen heißt: Augen zu, Festhalten an den einmal für richtig erkannten Schemata. In dem schon zitierten konkret-Artikel heißt es: »Je fragwürdiger, je katastrophischer sich der Kapitalismus entwickelt, um so dringender wird die Auslöschung aller richtigen Antworten, des ganzen analytischen Bestandes, dessen Überlegenheit nun nicht mehr zu übersehen ist.«

Tatsächlich haben uns die Widersprüche des Kapitalismus nicht den Gefallen getan, sich zusammen mit den untergegangenen sozialistischen Regimen zu verabschieden. Aber eine gesellschaftliche Alternative muß neu begründet werden. 70 Jahre Realsozialismus haben theoretisch und praktisch die »Beweislast« zwar nicht umgekehrt, aber neu verteilt – hinsichtlich der ökonomischen »Machbarkeit«, mehr aber noch im Hinblick auf die Sicherung von Demokratie und Menschenrechten.

Das Schwarzbuch kann methodisch kritisiert, seine Sichtweisen mögen im einzelnen zurückgewiesen werden, an seinen Fakten führt kein Weg vorbei.



Quelle: taz, 30./31. Mai 1998
aes
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Re: Opferjustiz

Beitragvon Edekire » 16.02.2004, 00:18

Hallo,
Eigentlich will ich nur was zum Thema Schulunterricht sagen:
Ich finde es eigentlich Sinnvoll Chronologisch vorzugehen (etwas das ich so erlebt habe) und das Thema ist somit recht Spät dran. Ich finde das ist geradezu Notwendig schließlich geht es auch um Entwicklungen. Ob man da nun bei den alten Griechen Anafngen muss, darüber lässt sich streiten. Ich finde es auch nicht schlimm, dass das Thema erst in der 10 auftaucht (Ich glaube in Realschulen in der 9.) Viel früher halte ich nicht für angemessen.
Was ich viel, viel schlimmer finde ist, dass es zumindest dem Berliner Korikolum nach mehrfach auftaucht. Zuert in Geschichte, dann in PW, nochmal in GEschicht. Das erzeugt nämlich eine für mich erschreckende Nicht-Schon-Wiederhaltung. Ich rede jetzt von mir. Ich finde einmal reicht. Es ist meiner Meinung nach Eindrucksvoll genug. Eine Abstumpfung sollte unbedingt vermieden werden. Gerdade bei den Schülern! Die sind es schließlich, die sich erinnern müssen, egal wie lange das nun her ist.

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Re: Opferjustiz

Beitragvon Flocke » 16.02.2004, 10:33

Ähm, hi Leute. Das haut mich ja jetzt ziemlich um hier, zwei Tage offline und jetzt das...

Da haste was angerichtet mit deinem Gedicht...


Scheint so, razorback, jetzt weiß ich wenigstens, was mein Vereinschef meinte, als er sagte, das Gedicht würde polarisieren... :-))

Hab mir erstmal alles ausgedruckt und muß das mal in Ruhe lesen. Geht es eigentlich überhaupt noch um den Text???

Bis später dann
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Re: Opferjustiz

Beitragvon Spiderman » 17.02.2004, 13:15

Ich will nicht die ganze Diskussion von neuem aufrollen. Dazu komme ich zu spät. Aber ein paar Fragen möchte ich schon stellen:

Wer bestraft denn die Deutschen bis ins 4. Glied? Wurde Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg als Strafe in ein vorindustrielles Landwirtschaftsgebiet umgewandelt? Mußte Deutschland für seine Verbrechen Unsummen an Geld an die Siegermächte zahlen? Verweigert Israel Deutschland diplomatische Beziehungen? Reisen Politiker aller Länder nach Deutschland und erzählen unserer Generation, wir müßten uns schuldig fühlen?

Gruß

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Re: Opferjustiz

Beitragvon Hamburger » 17.02.2004, 15:45

Hallo zusammen,

Spiderman greift einen interessanten Komplex auf. Einen, mit dem wir uns noch gar nicht beschäftigt haben und einen, der uns wieder zum Gedicht zurückführt.

Auch mir ist aufgefallen, dass du und auch Silentium eigentlich keine Täter benannt haben - nur die Anschuldigung ist ausgesprochen. Als Deutscher wird "man" von ? so und so behandelt und "die Öffentlichkeit" sollte sich fragen etc. - damit kommt man doch nicht weiter.

Deshalb schliese auch ich mich Spiderman`s Fragen an und erweitere sie. Wenn ihr mir sagt wer den armen Deutschen das alles antut, dann sagt gleich noch dazu, aus welchem Interesse das alles geschieht. Auch da gab es nur vage Andeutungen ("Geld"). Benennt mal Ross und Reiter.

In diesem Sinne wäre dann auch nach der Benennung zu fragen, warum du "Gott" für dein Gedicht brauchtest. Schiebst wieder alles auf den armen alten Mann ab, anstatt die wahren Schurken zu anzugehen, was Flocke? :-D

Ach so, noch was - lieber AES: Deine Worte zu Hohmann`s Rede kommen mir merkwürdig diplomatisch vor. Ich habe noch nicht die Zeit gefunden den ganzen Thread hier ausführlich zu reflektieren, aber auf eine Debatte über diese Rede (am Besten im "Hohmann-Thread" im Epilog) lasse ich mich gerne ein. Denn dafür hatte ich eigentlich die Herausarbeitung, die du zitiertest, vorgenommen. So könnte man endlich einmal über die Rede an sich sprechen - und in diesem Thread wieder vornehmlich über das Gedicht.

Ich frage dich mal ketzerisch: Womit hat Hohmann denn deiner Meinung nach recht? Was, von dem was er sagte, leuchtet dir ein, was stimmt ganz einfach?

Interessiere mich hier vor allem für deine ungeschminkte Meinung.

MFG,

Hamburger
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Re: Opferjustiz

Beitragvon Silentium » 21.02.2004, 22:48

HA! Ross und Reiter und so!
Jetz ist es mir wieder eingefallen... was mich irritiert hat, mein ich. Lieber Hamburger, du hast Recht. Ich hab' da einen Fehler gemacht.
Irgendwie ist mir das ungut vorgekommen und ich hab' das auf das Ausland abgeschoben, die Schuldzuweisung und so. Was aber in meinem Unterbewusstsein gelauert hat, der Grund, warum mir die Aufarbeitung ein bissl suspekt vorgekommen ist, ist was anderes. Sorry. Und zwar folgendes Erlebniss: Ich hatte vor ein paar Monaten das -hmnaja- Vergnügen, von einer älteren Dame, ihres Zeichens Halbjüdin, die den Holocaust zwar nicht bewusst miterlebt hat, dafür aber ihre Mutter und ihre Großeltern (nach der genauen Familienhistorie hab' ich mich nicht fragen getraut)- von dieser älteren Dame eben zu einem Theaterbesuch eingeladen zu werden. Wie es dazu kam, ist eine längere Geschichte und hier wurscht. Auf jeden Fall saß ich da neben ihr im Auto und suchte nach einem unverfänglichen Gesprächsthema, ziemlich verzweifelt, weil ich in höflichem Smalltalk eine Niete bin. Das Radio lief und es wurde über eine Gedenkfeier in einem ehemalinge KZ berichtet und ein Interview mit dem Chef der OÖ-SPÖ, Erich H., seines Zeichens Beschränktmensch. Der ließ eben ein paar Standartsätze á la "Es tut uns leid, wir dürfen nie vergessen" verlauten und ich wollte gerade zustimmend nicken, dass er auch mal was vernünftiges herausgebracht hat, da fängt diese Dame zu schimpfen an und sagt sinngemäß: "Als ob der eine Ahnung hätte! Keine Ahnung hat der, war noch nicht einmal auf der Welt, entschuldigt sich für was, mit dem er gar nicht zu tun hat und will sich groß profilieren, weil in ein paar Wochen Wahlen sind! Auf so etwas kann man verzichten! Tränendrüsendrücker!"
Sie hat sich noch ein Weilchen aufgeregt und das war es, glaub ich, was ich im Hinterkopf hatte.
Ich bin das Problem von der falschen Seite angegangen, es ist nicht, wie ihr mir völlig richtig bewießen habt, wer wirft uns noch was vor, sondern: wann wird das Entschuldigen unglaubwürdig, wan ist die Sache nimmer ehrlich sondern pro forma, weil es halt gut ankommt?

Ach, Flocke, ärger dich nicht, wenn's nicht mehr so wirklich um deinen Text geht... immerhin gab's im Ordner Gedichte bisher nur drei Threads, die mehr Beiträge bekommen haben. :-D

Endlich-Wieder-Internet-Silentium
I would go to the Dark Side in a heartbeat if I thought they had better dialog over there.
- Ursula Vernon

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Re: Opferjustiz

Beitragvon Flocke » 26.02.2004, 23:33

Hallo, ihr alle.

Erstmal danke für die vielen Antworten. Ich beginne langsam einzusehen, dass es offensichtlich noch nicht der große Wurf war. Werde das alles nochmal in Ruhe durchgehen und mal überarbeiten.

Also seid nochmals herzlich bedankt für die Anregungen.

Flocke
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