drunter oder drüber

Du schreibst Gedichte? Laß sie nicht in einer Schublade verschimmeln! Menschenbeifall wirst Du hier finden, aber auch Kritik und Rat.
Perry
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drunter oder drüber

Beitragvon Perry » 05.09.2013, 01:11

wieder liegt das glück auf der anderen seite
soll‘s der weg durch die nasse hölle
oder das schwindelnde einer hochbrücke sein

das kürzere übel gewählt heißt es tief luftholen
bevor es hineingeht in die röhren durch die
sich der verkehr mal ein- mal mehrzügig drängt

eingefahren ins unterirdische gibt es kein zurück
es tropft von der decke wie schweiß von gehörnter
stirn einbrechender elbteufel albt das gehirn

vor dem tunnel drei km stau meldet der ndr
eine galgenfrist für all jene die nachfolgen
lemminge auf selbstmörderischer wanderschaft

hginsomnia
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Re: drunter oder drüber

Beitragvon hginsomnia » 05.09.2013, 15:44

Hallo Perry und hmm, Perry,

wir haben hier das Problem, dass die Bilder nicht zur Situation passen und teilweise auch die Wörter nicht zu den Bildern, also ein für ein Gedicht immenses Problem.

Perry hat geschrieben:wieder liegt das glück auf der anderen seite
soll‘s der weg durch die nasse hölle
oder das schwindelnde einer hochbrücke sein


Es wäre eher die "feuchte hölle", größer stellt sich aber das Problem mit dem "schwindelnden" dar. Ich vermute, ich glaube, - jedenfalls weiß ich es nicht sicher - du möchtest das Schwindellerregende signalisieren, aber dir ist der Begriff zu sperrig. So aber, also in der Verkürzung auf das Trügerische, funktioniert das nicht, selbst wenn der Leser die erste Variante mitdenkt, da er jene nur als Wortfindungsfehler des Autors ausmacht. Nun könnte man ja sagen, das Trügerische hat doch auch seinen Reiz. Ja, könnte man, wenn man in Folge nicht erführe, dass es sich um eine Autobahnbrücke handeln muss.

Hier gehen nämlich die Bilder mit der Schilderung auseinander. In Strophe 1 werden die Bahnen für die Vorstellung von einem Wanderer nahezu alternativlos gelegt. Meine Assoziation ging jedenfalls in diese Richtung (vgl. "Weg", "Nässe", "Schwindel (erregend)" als Signale für eine direkt körperliche und nicht durch die Wände eines Fahrzeuges abgemilderte Erfahrung).

Dann aber:

Perry hat geschrieben:das kürzere übel gewählt heißt es tief luftholen
bevor es hineingeht in die röhren durch die
sich der verkehr mal ein- mal mehrzügig drängt


Abgesehen davon, dass wir später ("Stau") erfahren, dass sich der Verkehr wohl mehrzügig drängt (und das bei vermutetem Ort auch nie anders ist), dachte ich hier noch: Was, wir haben hier einen todesmutigen Wanderer, der durch einen Autobahntunnel will und vorher nochmal tief Luft holt?

Meine Gedanken wurden dann hier überholt:

Perry hat geschrieben:eingefahren ins unterirdische gibt es kein zurück
es tropft von der decke wie schweiß von gehörnter
stirn einbrechender elbteufel albt das gehirn


Also doch ein Autofahrer, der sich nicht in den vorherigen Bildern abzeichnet, im Gegenteil!
Hier dürfen wir also zurecht vermuten, dass wir durch den Elbtunnel geleitet werden. Nun habe ich keine Vorstellung davon, was ausgesagt werden soll, wenn der "Elbteufel (ich nehme an eine Art Wahnvorstellung, möglicherweise Klaustrophobie) das Gehirn albt", ich weiß nicht, was dieses "albt" hier bedeuten soll und was es bedeutet, wenn ein Gehirn gealbt wird.

Weiter:

Perry hat geschrieben:vor dem tunnel drei km stau meldet der ndr
eine galgenfrist für all jene die nachfolgen
lemminge auf selbstmörderischer wanderschaft


Hier dann also nochmal eine Rückführung aus dem Tunnel hinaus. Der NDR signalisiert noch einmal Hamburg als Ort des Geschehens, ansonsten wird hier die 3. Strophe antizipiert (eigentlich überflüssigerweise) mit Begriffen wie "Galgenfrist" und "selbstmörderisch". Anzumerken wäre, dass "selbstmörderisch" dann eben doch wieder der falsche Begriff ist, eben weil nicht mit Todesabsicht gehandelt wird.
Und plötzlich ist auch wieder der Wanderer da, der selbstmörderische Wanderer, der gedankenlose Wanderer (Lemming) freilich, der, das wissen wir nun allerdings, gar kein Wanderer ist.

An der Stelle steige ich dann aus und frage mich, was das Ganze soll. Offensichtlich ist dir der Text gehörig durcheinandergeraten. Er ist nicht drunter oder drüber, er geht drunter und drüber.

LG
hginsomnia

edit: Zunächst nahm ich eine Katastrophe an. Das kommt davon, wenn man statt "gehörnt" "behornt" liest (lesen will) ;-)

Perry
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Re: drunter oder drüber

Beitragvon Perry » 05.09.2013, 20:58

Hallo hginsomnia,
zuerst freue ich mich natürlich, dass Du dich mit diesem nicht ganz ernst gemeintem Gedicht auseinandergesetzt hast. Dieses albtraumhafte Gefühl, wenn der Verkehrsfluss mitten im Tunnel zum Stehen kommt und das Tropfen auf dem Autodach zu einem bedrohlichen Klopfen wird, habe ich noch aus meiner Urlausfahrt nach Dänemark im Kopf gehabt und hier verarbeitet.
Wenn ich deine Anmerkung insgesamt Revue passieren lasse, dann drängt sich mir der Eindruck auf, dass Du den Text scheinbar grundsätzlich nichts abgewinnen kannst oder willst. ;-) Aber da wir beide wissen, dass wir lyrisch sehr unterschiedlich ticken, gehe ich trotzdem auf deine Hinweise im Einzelnen ein:

Einmal hast Du ein Problem "mit dem schwindelnden einer hochbrücke", was ich nicht nachvollziehen kann, denn es geht doch klar aus dem Bild hervor, dass es um ein Schwindelgefühl auf einer Hochbrücke geht. Wenn Du die Bedeutung "trügerisch etc." mitlesen willst, dann geht das auch, weil diese technischen Meisterleistungen zwar Sicherheit ausstrahlen, die aber das LI nicht teilt, vielleicht weil es Höhenangst hat.

Weiter bringst Du einen Wanderer ins Spiel, der mit keinem Wort erwähnt wird. Natürlich ist die Fantasie des Lesers frei, doch kann der Autor nichts dafür, wenn diese in einer Sackgasse endet. Was die Wanderschaft der Lemminge betrifft, ist es -soweit ich weiß- eine Populationsflucht, bei der leider oft viele Tiere zu Tode kommen.

Was den Begriff "albt" anbelangt ist er eine Verbalisierung (Tunwort) eines Albtraums.
Wenn das Gehirn albt, bringt es albtraumhafte Vorstellungen hervor.

Der Schluss überzeichnet (Galgenfrist, Lemmingsyndrom) bewusst die Situation aus der Sicht des noch einmal davongekommen LI und stellt damit einen ironisch satirischen Ausklang da.

Mehr kann ich dazu nicht sagen.

LG
Perry

hginsomnia
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Re: drunter oder drüber

Beitragvon hginsomnia » 06.09.2013, 15:16

Hallo Perry,

ich glaube, wir müssen nicht jedesmal wieder darauf hinweisen, dass wir unterschiedliche lyrische Auffassungen vertreten. Wir sind uns ja einig, dass wir uns uneinig sind. ;-)

Ich präzisiere aber dennoch etwas weiter:

Perry hat geschrieben:Einmal hast Du ein Problem "mit dem schwindelnden einer hochbrücke", was ich nicht nachvollziehen kann, denn es geht doch klar aus dem Bild hervor, dass es um ein Schwindelgefühl auf einer Hochbrücke geht. Wenn Du die Bedeutung "trügerisch etc." mitlesen willst, dann geht das auch, weil diese technischen Meisterleistungen zwar Sicherheit ausstrahlen, die aber das LI nicht teilt, vielleicht weil es Höhenangst hat.


Mir missfällt allerdings diese Uneindeutigkeit hier. Ich halten das "schwindelne" für einen nicht ganz glücklichen Begriff, aber okay, ich lasse das jetzt mal beiseite und so stehen.

Perry hat geschrieben:Weiter bringst Du einen Wanderer ins Spiel, der mit keinem Wort erwähnt wird. Natürlich ist die Fantasie des Lesers frei, doch kann der Autor nichts dafür, wenn diese in einer Sackgasse endet. Was die Wanderschaft der Lemminge betrifft, ist es -soweit ich weiß- eine Populationsflucht, bei der leider oft viele Tiere zu Tode kommen.


Das geht aber so nicht, Perry, hier einfach nur eine Assoziation des Lesers anzunehmen und sich nicht weiter dafür verantwortlich zu fühlen. Ich habe eigentlich sehr deutlich beschrieben, warum die Bilder eigentliche nur eine solche Assoziation zulassen. Wanderer, Läufer, Geher, jedenfalls ein nicht motorisierter Mensch entwickelt sich aus dem Bild- und Wortfeld deines Textes. "Lemminge" sind nicht motorisiert, in "Wanderschaft" steckt der Wanderer schon drin (ganz gleich, ob du auf die Populationsflucht verweist, die es ja gibt), zur 1. Strophe habe ich ja schon a.a.O. meine Eindrücke beschrieben. Hier decken sich einfach die Bilder nicht mit dem Beschriebenen. Ich kann auch nicht, um ein anderes Beispiel zu nehmen, von "Wald", "Blumenduft", "Schweiß", "Hitze", "Anstrengung" sprechen, um dann zu sagen, ich hätte einen Menschen in einer Höhle beschreiben wollen.

Perry hat geschrieben:Was den Begriff "albt" anbelangt ist er eine Verbalisierung (Tunwort) eines Albtraums.
Wenn das Gehirn albt, bringt es albtraumhafte Vorstellungen hervor.


Kann man das wirklich so schreiben? Mir ist das so noch nie untergekommen und es deckt sich nicht mit meinem Sprachgefühl, aber ich weiß es nicht. Zudem: Wenn es so ist, dass das Gehirn "albt" (und nicht "gealbt" wird), was mache ich dann syntaktisch mit dem Elbteufel?

Perry hat geschrieben:es tropft von der decke wie schweiß von gehörnter
stirn / einbrechender elbteufel ??? / albt das gehirn


LG
hginsomnia

Perry
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Re: drunter oder drüber

Beitragvon Perry » 07.09.2013, 01:43

Hallo hginsomnia,
nun ein stückweit konnte ich dich ja schon mitnehmen, dann versuche ich es mit dem Rest eben nochmal. ;-)
Was den nichtmotorisierten Wanderer anbelangt, zäumst Du das Bild von hinten auf "Wanderschaft", wobei aber bereits in den Strophen vorher von "verkehr" und "eingefahren" die Rede ist. Der anfangs erwähnte Weg, lässt offen wie er benutzt wird.
Das "albt" ist sicherlich kein gängiges Verb, sondern eine Wortschöpfung im Rahmen lyrischer Freiheit, was auch auf das "schwindelnde" zutrifft. Ich bin der Meinung, dass Lyrik eine Kunstform ist, die solche Wortschöpfungen zulässt.
LG
Perry

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Re: drunter oder drüber

Beitragvon hginsomnia » 07.09.2013, 16:09

Ich, nochmal, Perry,

Perry hat geschrieben:Das "albt" ist sicherlich kein gängiges Verb, sondern eine Wortschöpfung im Rahmen lyrischer Freiheit, was auch auf das "schwindelnde" zutrifft. Ich bin der Meinung, dass Lyrik eine Kunstform ist, die solche Wortschöpfungen zulässt.


Aber müssen wir wirklich mit solch abgehobenen Allgemeinplätzen argumentieren? Ja, Lyrik ist eine Kunstform und ja, diese lässt Wortschöpfungen zu. Die Frage ist doch eher, ob die Wortschöpfung funktioniert (beim Leser) und ob sie klingt. Zudem bleibt ja das syntaktische Problem, bzw. die Frage, die ich dazu habe, unbeantwortet.

Perry hat geschrieben:Was den nichtmotorisierten Wanderer anbelangt, zäumst Du das Bild von hinten auf "Wanderschaft", wobei aber bereits in den Strophen vorher von "verkehr" und "eingefahren" die Rede ist. Der anfangs erwähnte Weg, lässt offen wie er benutzt wird.


Nochmal, Perry, es geht mir um die Bilder, die nicht zum Beschriebenen passen. Da ist doch die Reihenfolge egal. Mir ist schon klar, was du beschreibst, nämlich keinen Wanderer. Die Frage ist doch, warum die ihn z.T. wie einen solchen erscheinen lässt.
Also nochmal: Ich weiß genau, was du beschreibst, ich halte nur das wie für misslungen.

LG
hginsomnia

Perry
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Re: drunter oder drüber

Beitragvon Perry » 07.09.2013, 18:32

Hallo hginsomnia,
deine Sicht bleibt Dir unbenommen, auch wenn es nicht meine ist. ;-)
LG
Perry


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