Der Kurier

Du schreibst Gedichte? Laß sie nicht in einer Schublade verschimmeln! Menschenbeifall wirst Du hier finden, aber auch Kritik und Rat.
Spiderman
Hippokrene
Beiträge: 469
Registriert: 08.09.2002, 23:56
Wohnort: München

Der Kurier

Beitragvon Spiderman » 29.08.2004, 02:04

Der Kurier

Gelegentlich nehme ich blind
eine Auffahrt, ohne zu wissen,
ob ich richtig bin
und ob ich's überhaupt darf.
Dann frage ich mich,
ob ich jetzt im doppelten Wortsinn
ein Geisterfahrer
und ein Risiko für die Sicherheit bin.
Schließlich sagen ja viele,
ich seh aus wie ein Geist.
Ich dreh das Radio laut
und wart auf mich im Verkehrsfunk.
Gerne erzählte ich mir diesen Witz:
„Ein Geisterfahrer?! Hunderte!"
Freilich komme ich nie dazu,
irgendwie lande ich immer
auf der richtigen Spur.
„Schade" denke ich manchmal,
doch meistens denke ich „Gott sei dank".

Nennt mich einen Versager,
denn ich bin ein Versager,
mehr als Kurier ging bei mir nicht,
mein Job ist ganz sicher nicht populär.
Für wen ich arbeite? Gute Frage.
Blaue Pappschachteln
liefere ich ab bei den Leuten
und die sind ganz leer,
die Pappschachteln, mein ich,
das heißt, eigentlich nicht nur die.
Und irgendwie wundert's mich nicht,
dass sich so mancher beschwert,
aber was soll's,
das ist halt mein Job
und ich bin ein Versager.
Ich bin so hässlich
wie ein von Maden zerfressener Pfau.
Ich hab die Zielstrebigkeit einer Qualle
und die Logistik eines pissenden Bullen,
mal die eine Richtung, mal die andere,
wo ich grad hinfahre,
lass ich gerne den Zufall entscheiden.
Nennt mich einen Versager
und ich denk mir „Scheiße, was soll's?"

Die Leitplanken auf der Fahrt,
die Alleebäume und die großen Laster
mit den Schildern
vorne im Führerhaus,
den Vornamen der Fahrer,
das alles übt eine besondere Magie,
eine Anziehungskraft auf mich aus,
einfach rumreißen den Lenker
und aufhören,
einfach aufhören.
Irgendwie wär es schon paradox,
sollte ich sterben.
Wie eine Ratte, die sich selber verspeist.
Dabei lebe ich gern.

Ihr wisst nicht,
wie gut zu einem doppelten Espresso
am Morgen, wenn's noch dunkel ist,
meine Zigarette mir schmeckt.
Ihr wisst nicht,
wie schön's für mich ist,
das La Scala Konzert vom Keith Jarrett
ganz laut in meinem Wagen zu hören.
Die Stimmung nachts auf der Autobahn,
manchmal könnte ich heulen,
weil's so schön ist.
Ich mag die Luft, die ich atme,
auch wenn sie allzu oft stinkt.

Nennt mich ruhig einen Versager,
denn ich bin ein Versager,
aber wahrscheinlich seid ihr zu höflich,
mich einen Versager zu nennen.
Scheiß auf eure Höflichkeit,
ich kenne eure Einfühlsamkeit,
eure gewählten Worte,
eure Empfindungen, euer Sehnen.
Scheiß drauf!
Scheiß auf euren Zwang,
euch selbst zu perfektionieren.
Scheiß auf eure Häuser und Autos
und Scheiß auf euren Verzicht,
auf eure Gesinnung, eure Ehrlichkeit,
Scheiß auf eure geschmackvolle Kleidung.
Scheiß auf eure religiöse Erleuchtung,
Scheiß auf eure künstlerischen Ambitionen,
Scheiß auf eure tollen Berufe
und die schönen Männer und Frauen,
die Ihr Lebenspartner nennt.
Scheiß auf euer Geliebt-werden-Wollen.
Ihr glaubt, ihr könntet etwas erreichen.
Scheiß auf eure Ziele im Leben,
Scheiß auf euer Wünschen und Sehnen.
Ich bin ein Versager
und ihr könnt einen drauf lassen,
dass ich verdammt nochmal stolz darauf bin.

Ich werde zur Stelle sein,
rechtzeitig, verlaßt euch darauf.
Die rechte Zeit kann jederzeit sein.
Mit der blauen Schachtel
stehe ich vor der Tür.
„Time to go, Freunde!"
heißt's dann, „Servus, das war's!"
Was hattet ihr anderes erwartet?
Den schwarzem Umhang?
Die Sense und die knöcherne Hand?
Mein Job ist banal, mein Auftreten nüchtern.
Nennt mich einen Versager,
denn ich bin ein Versager.
Ich versage euch jeden Rest,
von dem ihr meint, das er bleiben könnte,
euer Leben, eure Absurdität,
kompromißbereit war ich noch nie.
Ihr glaubt nicht daran?
Ihr meint, dass was bleibt?
Ein Gedanke, eine Idee?
Die Erinnerungen anderer Menschen?
Fingerabdrücke gelöst von Raum und von Zeit?
Bitte, jede Wette gehe ich ein
und gewinn sie am Ende ja doch:
was ihr in diesem Augenblick seid,
ist ein Mißverständnis, ist Illusion,
denn im Endeffekt seid ihr, Gott weiß,
Funken beim Verschwinden im Nichts.
Die nette Lyrik-Spinne von nebenan!

Silentium
Mnemosyne
Beiträge: 2771
Registriert: 24.05.2003, 17:50

Re: Der Kurier

Beitragvon Silentium » 29.08.2004, 18:37

Tu uns allen einen Gefallen und sei nicht so verdammt gut, ja? Da wird man ja nervös.


Die zwei Sachen verwirren natürlich beim ersten Mal lesen und sind erst am Schluss verständlich. Aber das ist Absicht, nehme ich an?
Dann frage ich mich,
ob ich jetzt im doppelten Wortsinn
ein Geisterfahrer
und ein Risiko für die Sicherheit bin.

Irgendwie wär es schon paradox,
sollte ich sterben.
Wie eine Ratte, die sich selber verspeist.


Die Frage ist natürlich nur: kann der Tod überhaupt durch einen Autounfall oder so sterben? Scheint, als würde ein Katapult über's Fliegen nachdenken. Aber die Stelle selbst ist schlichtweg genial.

Einzig:
Scheiß auf euren Zwang,
euch selbst zu perfektionieren.
Scheiß auf eure Häuser und Autos...

klingt hin und wieder ein bissl wiedergekäut.
I would go to the Dark Side in a heartbeat if I thought they had better dialog over there.
- Ursula Vernon

Flocke
Kalliope
Beiträge: 970
Registriert: 12.12.2003, 16:53

Re: Der Kurier

Beitragvon Flocke » 31.08.2004, 09:49

Hallo, Spiderman.

Also, ich würde ja gerne was kritteln, aber ich finde einfach nichts... Und immer nur Lob ist ja öde. (na ja, nicht unbedingt für den Autor.)

Ich habe erst in der letzten Strophe kapiert, um wen es da eigentlich geht. Kann für das Gedicht sprechen, aber auch gegen mich. Oder so.

Aber wenn es um den Tod geht (auch kein schlechter Vergleich mit dem Kurierfahrer), dann macht mich allerdings folgende Bemerkung ein wenig stutzig:

doch meistens denke ich „Gott sei dank".


Ist der Tod nicht neutral bzw. sollte es sein? Und eine ähnliche Instanz wie Gott und Teufel, warum sollte er sich bei einem von beiden bedanken? Ich weiß, es ist so eine Redensart, auch unter "Ungläubigen", aber hier scheint es mir nicht so zu passen. Aber das wäre dann auch das einzige.

Lieber Gruß
Flocke
...Der den Wind kennt / besser als alle Bücher / den Baum / frag nach Wahrheit...

charis
Melpomene
Beiträge: 766
Registriert: 18.10.2002, 15:48
Wohnort: wien

Re: Der Kurier

Beitragvon charis » 31.08.2004, 23:25

hey flocke, da passt ja deine sig mal richtig gut, was? ;-)

spider, genial, wie du auf die falsche fährte lockst, genial das wortspiel mit dem versagen. auch ich wäre nicht drauf gekommen, was/wen du meinst. der abgebrühte bartstoppelige ton des gevatters ist 1A.

woran ich "hängen" geblieben bin:
  • wie flocke an der zweifachen nennung gottes. lieber hätt ich den da nicht dabei, irgendwie. grade die existenz gottes würde ja die sinnlosigkeit, die in der letzten strophe angesprochen wird, relativieren, das nichts füllen. oder?
  • an den blauen pappschachteln - bin ich dumm, kapier ich was nicht, aber was meinst du damit? särge? essen auf rädern? the blue box? :-| ??
  • zielstrebigkeit einer qualle?

morbid, cool, traurig, blau und schön.

greetz!

Spiderman
Hippokrene
Beiträge: 469
Registriert: 08.09.2002, 23:56
Wohnort: München

Re: Der Kurier

Beitragvon Spiderman » 04.09.2004, 12:54

Gott drinnen lassen? Gott draussen lassen? Hm, hab ihn ja eher als unwichtige Randfigur drinnen, könnte ihn auch weglassen. Andererseits, ohne ihn kommt mir mein lyrisches Ich wie ein Waisenknabe vor. Ob der Tod neutral ist, Flocke, weiß ich gar nicht so genau. Ich finde, er hält eher zum lieben Gott als zum Teufel. Schließlich steht der Teufel auf der Seite des Materiellen, der Lust und des Lebens. Gott ist da eher derjenige, der uns das versagt, unser Leben auf den Tod hin ausrichtet.

Blaue leere Schachtel: so viel gibt es da gar nicht zu kapieren. Es ist ein unscheinbarer Gegenstand. Und es ist etwas, das leer ist. Und das Blau ist halt ein Link auf die menschliche Sehnsucht nach Unsterblichkeit.

Charis, "Zielstrebigkeit einer Qualle" ist doch wohl ein super Bild!

Silentium, wahrscheinlich hast Du recht: die "Scheiß auf..."-Stellen kann ich straffen.

Danke Euch dreien für Ermutigungen und Kommentare!

Spiderman
Die nette Lyrik-Spinne von nebenan!

razorback
Phantasos
Beiträge: 1983
Registriert: 10.09.2002, 20:36
Wohnort: Leverkusen
Kontaktdaten:

Re: Der Kurier

Beitragvon razorback » 04.09.2004, 14:12

Zunächst: Formal und stilistisch makellos. Wirklich. Ich finde nichts zu bekritteln. Nichts. Liest sich so weg und liest sich verdammt gut! :applaus:

Mein einziges Problem: Ich glaube Dir diesen Tod nicht. Jemand der den Job schon so lange macht, müßte meiner Meinung nach entweder viel weiser, tiefer und schrecklicher oder - näher bei Deiner Version - viel überdrüssiger, gelangweilter und bitterer sein. Dein Tod klingt irgendwie nach: "Oooooooch, das nervt." Wenn er seine Schachteln erst seit zehn Jahren auslieferte oder die Urlaubsvertretung wäre, dann käme mir das nachvollziehbar vor. Bei dem Sensenmann selbst, der das ganze Jahrzehntausenden macht, nicht.

Es gibt eine grossartige Geschichte von Ray Bradbury ("The Scyth"), da wird der Job von einem zum anderen weitergegeben. Das würde passen (wenn auch anders als bei Bradbury). Da bräuchte ich allerdings eine entsprechende Erklärung.

Aber Spider, bitte:

Ich finde, er hält eher zum lieben Gott als zum Teufel. Schließlich steht der Teufel auf der Seite des Materiellen, der Lust und des Lebens. Gott ist da eher derjenige, der uns das versagt, unser Leben auf den Tod hin ausrichtet.


Das meinst Du nicht ernst, oder? Oder bist Du Atheist? Atheisten haben oft so ein niedliches Gottesbild. :-p ;-)
O You who turn the wheel and look to windward,
Consider Phlebas, who was once handsome and tall as You

Silentium
Mnemosyne
Beiträge: 2771
Registriert: 24.05.2003, 17:50

Re: Der Kurier

Beitragvon Silentium » 04.09.2004, 14:54

Also, ich hab den link ja schon Mal gepostet, glaub ich, aber das passt noch gut dazu:
http://comics.orf.at/stories/5922/main


Charis, "Zielstrebigkeit einer Qualle" ist doch wohl ein super Bild!

Da hat er aber recht!
I would go to the Dark Side in a heartbeat if I thought they had better dialog over there.
- Ursula Vernon

razorback
Phantasos
Beiträge: 1983
Registriert: 10.09.2002, 20:36
Wohnort: Leverkusen
Kontaktdaten:

Re: Der Kurier

Beitragvon razorback » 04.09.2004, 17:46

Silentium, vieeeeelen Dank für diesen Grossartigen Comic. Und dann auch noch mit Bradbury...

:thanx: :thanx: :thanx:
O You who turn the wheel and look to windward,
Consider Phlebas, who was once handsome and tall as You

Silentium
Mnemosyne
Beiträge: 2771
Registriert: 24.05.2003, 17:50

Re: Der Kurier

Beitragvon Silentium » 04.09.2004, 20:11

Gelt, den Comic liebe ich auch.

Die Zeichnerin hat auch noch eine andere Serie (jeden Dienstag eine neue Folge), wo es etwas weiter hinten in der Handlung um eine Journalistin geht, die sich unfreiwillig mit SciFi befassen muss. Könnte auch was für dich sein. :-D
http://comics.orf.at/stories/35663

Ich find allerdings die Tod-Geschichte wesentlich besser. Angeblich ist ja eine Fortsetzung in Arbeit...
I would go to the Dark Side in a heartbeat if I thought they had better dialog over there.
- Ursula Vernon

charis
Melpomene
Beiträge: 766
Registriert: 18.10.2002, 15:48
Wohnort: wien

Re: Der Kurier

Beitragvon charis » 05.09.2004, 22:57

Charis, "Zielstrebigkeit einer Qualle" ist doch wohl ein super Bild!

Da hat er aber recht!


na tschuldigung, man wird doch wohl mal anderer meinung sein dürfen. quallen sind doch bitte so ästhetische, gläserne, elegante wesen. das passt einfach nicht. 8-o :-p

Silentium
Mnemosyne
Beiträge: 2771
Registriert: 24.05.2003, 17:50

Re: Der Kurier

Beitragvon Silentium » 06.09.2004, 01:08

so ästhetische, gläserne, elegante wesen

...und haben null zielstrebigkeit. Weil Quallen dort leben, wo sie die Strömung hintreibt (oder, wie im Fall der Spanischen Galeere) der Wind. Wo kein Hirn für Wegentscheidungen ist... fressende Löwenzahnsamen mit Nesselzellen.

Ich hatte mal dieses nette, einschneidende Erlebnis... Brüderchen Michi und ich haben in Norwegen in einer Art Bucht geschnorchelt. Schöner (und wärmer) als man meinen möchte. Nur, plötlich, waren ziemlich überall Quallen. Es ist, als wolle man durch ein Feld langsam hin und her gondelnder Minen schwimmen. Einmal hierhin, einmal dorthin. Du kannst dein Brüderlein sanft von einer Qualle wegziehen, die nahe an seinem Bein treibt, nur um zwanzig Sekunden später zu verhindern, dass sie aus der anderen Richtung direkt gegen seine Brust schwimmt. Letztendlich hat ihn dann doch eine erwischt. Das war vielleicht ein Geschrei. Tststs...

Darum: ich find das Bild sehr treffend.
I would go to the Dark Side in a heartbeat if I thought they had better dialog over there.
- Ursula Vernon

charis
Melpomene
Beiträge: 766
Registriert: 18.10.2002, 15:48
Wohnort: wien

Re: Der Kurier

Beitragvon charis » 06.09.2004, 01:18

hm hm hm...

[wenn diese frau nicht so schrecklich gescheit wäre...]

*grummel*

Flocke
Kalliope
Beiträge: 970
Registriert: 12.12.2003, 16:53

Re: Der Kurier

Beitragvon Flocke » 06.09.2004, 12:20

Der Comic ist echt süß, Stille, wo findest du das nur immer...

Gruß
Flocke
...Der den Wind kennt / besser als alle Bücher / den Baum / frag nach Wahrheit...

charis
Melpomene
Beiträge: 766
Registriert: 18.10.2002, 15:48
Wohnort: wien

Re: Der Kurier

Beitragvon charis » 06.09.2004, 23:30

sag wie lang IST der - echt sehr lässige - comic eigentlich? habe nach episode 35 aufgegeben... (nachdem eine seite mind. 20sec. zum laden braucht bei meinem 56!! :-E K!!! :-E MODEM!!!!! :damn:

Silentium
Mnemosyne
Beiträge: 2771
Registriert: 24.05.2003, 17:50

Re: Der Kurier

Beitragvon Silentium » 07.09.2004, 00:00

Was um die 140 Episoden, deucht mich.
I would go to the Dark Side in a heartbeat if I thought they had better dialog over there.
- Ursula Vernon


Zurück zu „Gedichte“

Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 116 Gäste