N wie Natalie

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der_Baer
Medusa
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N wie Natalie

Beitragvon der_Baer » 24.10.2002, 22:57

N wie Natalie

Verdammt, kann sich denn das Putzpersonal nicht ein wenig leiser verhalten? Ich könnte noch ein paar Stunden Schlaf gebrauchen. In meinem Kopf hämmert ein mittlerer Vorschlaghammer, meine Zunge dürfte um das Dreifache angeschwollen sein und außerdem fühlt es sich an, als wäre ein Miniaturbärenpelz in aller Schnelligkeit darauf gewachsen. Als ich mich aufsetzen will, weigern sich sämtliche Knochen, Sehnen und Muskeln, aber unter Krachen und Knacksen zwinge ich mich hoch und schiele vorsichtig unter den Lidern hervor.
Ich bin wieder einmal im Hinterzimmer auf den Plüschbänken entschlummert. Na ja, die Nacht war lang, die Session heiß und wenn ich es nicht bis zur ersten U-Bahn schaffe, dann lässt mich Mike schon mal hier übernachten. Und wenn die Staubbrigade antanzt, dann ist es knapp nach Neun. Doch ein reservierter Blick auf die Uhr belehrt mich eines Besseren. Der Besenschwingertrupp muss schon lange hier gewesen sein, ohne dass ich ihn gehört hätte. Es ist schon fast vierzehn Uhr.
„Es war vereinbart, dass ich hier einen Soundcheck mit der Hausband mache. Ich werde hier auf keinen Fall ohne musikalische Begleitung nur mit Playback auftreten!“
„Beruhigen Sie sich doch! Die Band hatte eine lange Nacht und wird ein wenig später eintreffen. Darf ich Sie in der Zwischenzeit mit einem Kaffee vertrösten?“
Mike hat offensichtlich ein gewisses Manko in seiner Planung. In seinem Laden hat es noch nie eine Hausband gegeben. Hier wird zu besonderen Anlässen eine Gruppe engagiert, aber ansonsten treffen sich hier die Musiker, die gerade nicht auf Engagement sind und jammen zum Spaß um die Wette. Da bin
ich ja neugierig, wie er sich aus der Affäre zieht. Behutsam luge ich um die Ecke, um zu sehen, wer hier diesen Zirkus veranstaltet. Aber Mike hat mich gesehen. Freudestrahlend kommt er auf mich zu, schließt mich in die Arme und brüllt: „Unser Hauspianist ist ja ohnehin schon hier!“ und zu mir gewand zischt er: „Wenn du mich jetzt hängen lässt, bekommst du auf Lebzeiten Lokalverbot und deine offenen Rechnungen präsentiere ich dir schneller, als du pupsen kannst!“
„Und wenn ich spiele, sind meine Schulden getilgt?“
„Erpresser! Okay, aber gib dein Bestes, die Lady ist Weltklasse!“
Und schon werde ich nach vorne gezerrt und stehe einer nicht mehr so ganz jungen Dame gegenüber, die zwar versucht, in ihrem Leopardenimitat nach Endzwanzigerin auszusehen, aber zehn Jahre mehr verpasse ich dem Schokoladenpüppchen allemal.
„Natalie, darf ich Ihnen Bär vorstellen? Bär, das ist Natalie, unser heutiger Stargast!“
„Wenn die Dampfwalze so spielt, wie sie aussieht, bekomme ich einen Schreikrampf!“
Sie hat es zwar leise gemurmelt, aber ich habe es trotzdem verstanden. Na warte, Krausköpfchen, dir werde ich zeigen, was ich drauf habe. Wenn ich mit dir fertig bin, gewöhnst du dir das Singen ab!
„Mike, bring mir einen Kamillentee mit Zitrone und ein Sandwich und dann kann es von mir aus los gehen!“
Ich verschwinde nach hinten, stecke auf der Toilette den Kopf
unter die Wasserleitung und hole mir aus Mikes Schrank ein frisches T-Shirt mit Hausaufdruck, die eigentlich für die Fans zum Verkauf bestimmt sind, aber in der Not frisst der Teufel Fliegen. Natalie schlürft einen Espresso und beäugt mich misstrauisch,
während ich den Kamillentee in mich schütte, gut gesäuert und ohne Zucker, und das Sandwich, garantiert vom Vortag übrig geblieben, muss auch noch in meinen rebellierenden Magen hinunter.
„Von mir aus kann es losgehen! Womit fangen wir an?“
„Kennen Sie Lady Be Good?“
Na, wenn sie gleich mit dieser Nummer loslegt, wird sie nicht lange singen, zum Einsingen ist es wohl ein wenig zu heftig, aber mir soll es egal sein. Ohne Antwort lege ich einfach los und als das Schokoladenbaby den Mund aufmacht, haut es mir fast die Sicherung durch. Mann, hat die Frau eine Stimme. Ich habe die größten Schwierigkeiten mich auf sie und das Spiel zu konzentrieren. Der Alt ist von einer solchen Dichte und moduliert jede einzelne Note, ohne in den Übergängen schlampig zu werden. Ihr Tonumfang umfasst locker drei Oktaven und zwar klar und deutlich artikuliert, mit perfekter Atem- und Stimmtechnik. Bei diesem Timbre und dem unterschwellig rauchigem Vibrato fährt einem die bekannte Melodie voll in die Finger und zwingt zur Improvisation. Und obwohl ich sie eigentlich nur begleiten soll, versuche ich in Rhythmus und Melodie die Führung zu übernehmen, um sie zu reizen und noch mehr von ihr zu hören. Erstaunt starrt sie mich aus ihren schwarzen Glutaugen an und dann verziehen sich ihre leicht wulstigen Lippen zu einem Grinsen.
Sie kontert! Ganz locker nimmt sie mir einfach die Töne weg, bevor ich die Tasten drücken kann. Und immer bin ich um den
Hauch zu langsam und werde wieder zur Begleitung. Sie drückt mir ihre Führung auf, springt von den tiefsten zu den höchsten Tönen, jazzt, was das Zeug hält und grinst dabei von einem Schwarzohr zum anderen. Mit einer Leichtigkeit fällt sie wieder in
den Originalton und ich bin froh, dass es zu Ende ist. Aber sie klopft mir nur auf dem Klavierdeckel den Takt an, ruft mir die Tonart zu und legt schon wieder los. Auch ein Standard! „Girl from Ipanema“. Kein Problem! Aber mittlerweile rinnt mir der Schweiß herunter. Das ist purer Kampf! Stimme gegen Saiten! Und so darf das heute Abend nicht laufen. Aber da bin ich dann ja nicht allein, denn Mike wird sicher irgendwo Schlagzeug und Kontrabass auftreiben. Ich quäle mich über die Runden, zum Einen fasziniert von diesem vollen Gesang und beglückt ihn begleiten zu dürfen, zum Anderen ängstlich konzentriert, den Anschluss nicht zu verpassen. Als sie fertig ist mit ihrem Teil, deute ich mit dem Kopf in Richtung Bar, denn ich brauche dringend eine Pause. Immerhin haben wir mit diesen zwei Nummern fast dreißig Minuten intensiv zusammen und gegeneinander gespielt, wobei ich normalerweise locker in einem Drittel der Zeit fertig gewesen wäre. Aber bei so einer faszinierenden Frau mit so einer faszinierenden Stimme verlieren sich sämtliche Gefühle für Zeit und Raum.
Mike steht hinter der Bar mit offenem Mund. Natalie klopft mir auf den Rücken, lacht mich an und sagt: „Du bist eindeutig besser, als du gerade aussiehst!“
Mike sieht Natalie an, guckt auf mich, blickt wieder auf Natalie und sagt: „Macht es dir was aus, wenn du nur vom Bären begleitet wirst? Das klingt eindeutig besser, als wenn ich dir noch ein Trio verpasse.“
Und Natalie zuckt einfach mit den Schultern, dreht sich zu mir und antwortet: „Okay?“
Okay, ja, ich kann mich ja wieder einmal nicht wehren. Noch fünf Stunden bis zum Konzert, also Zeit genug für eine ordentliche Dusche und ein noch ordentlicheres Abendessen und das ist das
Mindeste, sonst gehe ich keinen Schritt raus auf die Bühne und als ich Mike meine Absichten bekannt gebe, ist Natalie Feuer und Flamme. Natürlich interessiert sie meine Dusche nicht, aber von einem echten Wiener Schnitzel hat sie schon gehört, wenn ich nichts dagegen habe, schließt sie sich meiner Wenigkeit an.
Während ich mich minutenlang einer Genussdusche hingebe und mich in frische Klamotten zwänge, meinen Bühnensmoking einpacke, sitzt Natalie in meinem Wohnzimmer, begutachtet meine Plattensammlung und summt hin und wieder eine Nummer an. Mein Keyboard tönt auf und was ich zu hören bekomme, weist explizit auf eine klassische Konservatoriumsausbildung am Klavier hin. So wie sie spielt, könnte sie sich garantiert auch selbst begleiten, umso mehr fühle ich mich geehrt, dass ich heute Abend ihr Begleiter sein darf. Ohne meinen dicken Kopf von heute Morgen hätte ich diese Gelegenheit nie gehabt. Normalerweise müsste ich jetzt in eine philosophische Betrachtung über Für und Wider einer Überdosis Marillenbrand führen, aber der Hunger führt uns nur um die Ecke in mein Stammlokal, wo sie ein Wiener Schnitzel bekommt, das seinen Namen verdient, denn hier gibt es keine Touristen. Nach dem Essen besprechen wir noch den Ablauf des Abends, ich notiere mir die Reihenfolge der Nummern und die Tonart, in der Natalie singen will und dann ist es auch für sie Zeit. Ich rufe ein Taxi, das uns ins Hotel führt, damit auch sie das passende Outfit anlegen kann, während ich in der Hotelbar noch einen Nervositätsschluck zu mir nehme.
Als wir kurz vor 21 Uhr Mikes Laden wieder betreten, ist dieser gerammelt voll. Wo normalerweise 120 Leute gemütlich Platz haben, drängeln sich mindestens 300 Leute. Mike stellt mir einen Doppelten hin, ich kippe ihn hinunter und dann schubst er mich
bereits in Richtung Bühne, damit ich keine Zeit habe, daran zu denken, was jetzt kommt. Den Deckel hoch und dann beginne ich ein leichtes Einspielen.
Mike schnappt sich das Mikro. „Ladies and Gentlemen, meine Damen und Herren! Zum ersten Mal live in Wien, first time in Vienna......Miss Natalie C.!!!“
Und dann kommt sie! In ihrem hellblauen, glitzernden Kleid und den gleichfarbigen High-Heels stelzt sie ins Scheinwerferlicht! Ihre kakaofarbene Haut glänzt leicht unter den Spotlights und als sie den Mund aufmacht, wird es ruhig im Keller. Fast gespenstisch still wird es. Mit offenen Mündern sitzt das Publikum da. Natalie würde hier nicht einmal ein Mikrophon brauchen. Ihre Stimme wird zum Instrument, webt sich von Wand zu Wand, bricht sich an den Bögen und Kanten der rohen Ziegelsteinwände und verschmilzt mit den Klängen, die ich sanft in ihre Klangmuster verstricke. Hier ist kein Kampf zwischen ihr und dem Piano zu spüren, wie ich am Nachmittag befürchtet habe. Nein, wie von selbst ordne ich mich ihrer Stimme unter und versuche, ihren Gesang zu unterstützen, die hohen Töne noch höher zu heben, die tiefen Töne noch tiefer zu drücken und über all dem beginnt eine Harmonie zwischen ihr und mir, die am Nachmittag nicht spürbar war.
Als die erste Nummer vorbei ist, herrscht sekundenlanges Schweigen. Doch dann brandet der Applaus auf, die Leute schreien, pfeifen und klatschen sich die Hände wund. Ein kurzes Nicken von Natalie und ich lege wieder los, wie vereinbart. Von Ton zu Ton werden wir beide mitgerissen und singen und spielen uns in einen Rausch, der in einem Furioso endet, stärker als ein Orgasmus, schöner als das schönste Liebesspiel und berauschender als jedes Gift.
Noch Stunden vereinigen wir uns in diesem musikalischen Liebesreigen. Es ist, als würden wir immer zusammen sein. Sie streichelt mich mit ihrer mal samtigen, mal elektrisierenden Stimme und ich knüpfe rund um sie einen Klangteppich aus Triolen, hülle sie ein in ein Netz von Tönen, um ihre prachtvollen Laute darin einzufangen und fest zu halten für die Ewigkeit. Unsere Blicke treffen sich und unsere Herzen spielen das selbe Lied. Unsere Gefühle klammern sich aneinander, wie zwei Ertrinkende. Und wir wissen beide, dass einer ohne den anderen nur ein Nichts ist.
Doch dann ist es aus. Nach einem gemeinsamen Glas Champagner und zahlreichen Gratulationen haucht sie mir einen Kuss auf die Wange und mit einem „Nice to meet you, maybe another time?“ ist sie verschwunden. So plötzlich wie der Tag begann, so plötzlich endet er. Und es bleibt nur mehr die Erinnerung an einen Augenblick im Leben, der unvergessen bleiben wird. Es war eine Liebe für eine Nacht, eine Verbindung der Seele, ein berauschendes Fest der Gefühle. Ein Moment im Leben, der für immer zu den Höhepunkten gehört
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