auf Indisch buchstabieren

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riemsche
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Re: auf Indisch buchstabieren

Beitragvon riemsche » 03.12.2006, 21:08

servus halil -
wenn du das intro des ersten beitrags genauer liest, wirst du sehen, dass es sich hier nie um eine erzählung mit all den dafür formal erforderlichen basics handeln sollte und mit sicherheit auch weiterhin nicht wird. memos für ne homepage. sie zusammen mit ergänzend bildmaterial zu lesen, hat nichts mit gängig prosa zu tun - sehr wohl aber mit informellem text. drum_ bitte nicht z viel hinein interpretieren sondern nach gusto durchlesen .... danke

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Die Verwendung leuchtender Farben im alltäglichen Leben abseits von Werbeflächen lässt schon mal die Kitsch-Alarmglocken schrillen. Was aber an schier unmöglichen Farbkombinationen möglich ist, wenn Licht und Umfeld stimmen, begeistert und erstaunt.

Bunt bemalte Holztüren, raffiniert Verschnörkeltes, Bilderrausch wohin man schaut. Eingangsbereich, Fensterläden, Räume bis an die Decke voller Regenbogenstapel aus handgeschöpftem Papier. Ballen prachtvoll verspiegelter Patchwork-Teppiche, dieselbe hypnotische Wirkung wie in OldSchoolPsychedelic strahlende Hippie-und Nachtmärkte, unter Zuhilfenahme einer Lupe auf Marmortäfelchen gepinselte erotische Miniaturmalereien oder eine mit dem Licht spielende Mondsteinkette sind es wert, den störenden UV-Filter von der Nase zu nehmen und ganz genau hinzugucken. Frauen tragen feinstofflich Farbfilm, kunstvoll um den Körper geschlungene Saris aus 1001erNacht, ihre natürliche Anmut, der angeborene Catwalk. Das üppige Farbrondell inmitte von Gewürz-Obst-und Blumenläden, bis auf den letzten Quadratzentimeter mit bunten Steinchen handgepixelte Tempelanlagen, dicke Ockersteine, die in allen Farben bluten, fette Pigmente, so ururalt, dass ich sie förmlich spüren, schmecken, riechen kann: pure Energie.

Der positive Einfluß von Farbe auf Life & Living ist _ganz im Gegensatz zu kunterbunten Souvenirs, die es zuhause nur bis zum Briefkasten und auf Ethnoparties schaffen_ in Indien überall präsent. Für nach oh-felix-Austria heimkehrende Fernreisende wie mich schlagen lange danach selbst noch die knalligen Fingernägel heimischer Supermarktkassiererinnen Brücken nach Goa.

Der positive Einfluß von Farbe auf Life & Living ist _ganz im Gegensatz zu kunterbunten Souvenirs, die es zuhause nur bis zum Briefkasten schaffen_ in Indien überall präsent. Für nach oh-felix-Austria heimkehrende Fernreisende wie mich bauen lange danach selbst noch die knalligen Fingernägel heimischer Supermarktkassiererinnen Brücken nach Goa.

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Re: auf Indisch buchstabieren

Beitragvon whatsup » 12.01.2007, 20:25

Hallo Kasparov !
Hast du von deinen Indienerlebnissen eigentlich auch Fotos gemacht? Fahre nämlich im Herbst nach Rajasthan und bin daher für jede Hintergrundinfo dankbar.
Beim Buchstaben A mußte auch ich schlucken :-| aber dann ziehen mich deine Eindrücke doch ganz schön in den Bann. Ich habe jetzt schon Reisefieber :-)
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Re: auf Indisch buchstabieren

Beitragvon riemsche » 02.03.2007, 23:40

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Balbir ist Masseur. Seine Werkzeuge: eine leichte Strohmatte, das Senföl, seine begabten, grausam-zärtlichen Hände. Für ein paar Rupies verabreicht er eine "fullbody massage", Ausziehen inklusive. Mitten in der Stadt liege ich in Unterhosen da. Eine Kuh schleckt der anderen den Hintern, Kinder spielen Fangen, begnadete Nichtstuer genießen das Nichtstun, neben mir lässt sich Aril -mein Fahrer- die Waden kneten. Ich rieche Charas, das feine indische Haschisch, die Einladung zum Mitrauchen kommt prompt.
Ein Sadhu krächzt "RamRam", aus dem nahen Shivatempel klingen die Glocken und Becken des Morgengebets, die Rangierloks vom Bahnhof quietschen herüber, Balbir massiert, ich schreie, ich schnurre. Mein Skelett rumpelt, ich schließe die Augen und erfahre, wie jemand meinen Leib quetscht, ihn streckt, ihn schrumpft, auf ihm trampelt und bodenturnt, ihm Arme und Beine melkt, sich mit den Knien in meine - jetzt nackten - Hinterbacken bohrt, die Füße verbiegt, sie ausrenkt und wieder einrastet, höre wie durch Watte das Gekicher der Umstehenden über den haltlosen Schwächling, der eine harmlose Massage intoniert, spüre Balbins eigenen Hintern auf meinem Lendenwirbel, ahne, dass noch lange kein Ende sein wird, gebe mich hin, wimmere weiter, fühle den hartnäckigen Willen des Inders, mir das zähe Fleisch zu schrubben und es zu schuppen, ihm endlich - endlich - wohl zu tun, es still zu legen und zu besänftigen. Ich ruhe, zähle meine Glieder ab, bin vollzählig.

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Re: auf Indisch buchstabieren

Beitragvon riemsche » 05.03.2007, 22:52

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Im Sitaram-Basar finde ich Moraji, einen von 2000 Badern, die in irgendeiner Nische, am nächsten Häusereck, zwischen zwei geparkten Autos, einen Stuhl aufstellen und zu arbeiten beginnen. Gegenüber Morajis Standplatz hat das Indian Coffeehouse geöffnet: ein Wandschrank mit ein paar Tassen im Regal und einer verbeulten Espressomaschine auf dem Trottoir. Der Kaffee schmeckt. Während wir austrinken, bleibt eine Kuh stehen, wirft mir einen flüchtigen Blick zu, uriniert, sieht mich wieder an, fladet. Ein Frau im Sari muss bltzschnell ausweichen, ein Kind will meine Schuhe putzen, eine Ziege nimmt ein Sonnenbad, über Lautsprecher warnt die Polizei vor Taschendieben, die Straße ist hoffnungslos verstopft, die Rasur kann beginnen.
Hinterher ist Moraji böse. Weil ich keinen Haarschnitt brauche. Wenigstens Öl, meint er. Sein Lächeln hätte mich warnen sollen. Der Mann ist Kopfjäger, ein Catcher, ein Dominator. Schmiert mir braunen Talg auf die Schädeldecke, nimmt alle seine zehn glitschigen Finger, um mich einzufetten, mangelt die Schläfen, presst die Stirn, fegt die Nasenlöcher, zupft die Lider, biegt die Ohren, reinigt die Muschel, holt das Schmalz, packt blitzschnell mit beiden Händen den Kiefer und reißt Mensch und Kopf nach rechts aus dem Stuhl - synchron mein Aufschrei und ein Knacken -, wiederholt den Ruck nach links, wieder mein Angstgurgeln und das Geräusch ausrastender Wirbel und Knochen, jetzt lande ich im Schwitzkasten, mein Rücken biegt sich nach vorn, Moraji platziert einen Genickschlag, die Rosskur ist beendet.
Etwas Eigenartiges passiert: Sofort und völlig unbewusst greife ich nach meinem Kopf. Er ist noch da, fühlt sich so leicht an, so schwerelos. Moraji strahlt, ich leuchte.

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Re: auf Indisch buchstabieren

Beitragvon riemsche » 12.03.2007, 00:38

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"Eine Stunde, zwei Stunden, ja die ganze Nacht garantiere ich eine volle Erektion !!" Spannung in den Gesichtern der Zuschauer. Ismail kennt sich aus, legt noch zu, erschwindelt Großtaten fulminanter Liebeskraft.
Dann schlitzt er dem Leguan mit einem Rasiermesser die Kehle durch und den Bauch auf, nimmt das Fettgewebe heraus und wirft es in die Pfanne. Das heiße Öl gießt er in einen Behälter, brät nun die Dotter von zwölf Eiern, plappert weiter, mischt bei, ruft die Namen magisch klingender Zutaten, erwähnt Skorpionblut und verschwindet fast im Rauch seiner schwarzstinkenden Hexenküche. Leguanöl und Dottersaft werden am Schluss vermengt und in flakonähnliche Fläschchen abgefüllt.
Die Kundschaft drängt bereits, ganz und gar heiß geredet: Die Aussicht auf ein strammes, zuverlässiges Männerglied euphorisiert. Seit 34 Jahren verspricht Ismails Familie - zuerst der Vater, nun der Sohn - ein einsatzfähiges Geschlechtsorgan. Im Umkreis von 50 Meter garantiert das noch ein halbes Dutzend anderer Weismacher. Sämtlich "specialists", alle mit einem "diploma" und der wunderbaren Gabe, Lügengeschichten zu erzählen, alle mit jahrhundertealten Geheimrezepten für ihren verführerischen Hokuspokus. Salben, Puder, Pillen - jeder hält jeden für ein Schlitzohr, keiner redet dem anderen dazwischen, sie leben bestens, der Markt ist riesig und gläubig.
Indische Männer sind verrückt nach Sex. Die logische, die biologische Folge einer prüden öffentlichen Moral. Immer fragen sie mich aus nach der Liebe in Europa, und niemals sehe ich einen Mann und eine Frau sich küssen, niemand umarmt Hüften, streichelt Nacken. Der Gründe sind viele. Der Einfluss des unduldsamen Islam, der Zusammenstoß des sinnlichen Hinduismus mit dem korsettfrigiden Viktorianismus, die aktuelle Politik der schamlosen Heuchlerei. Ismail, der Leguantöter, zahlt jede Woche 400 Rupien an die in seinem Stadtteil patrouillierende Polizei, um ungestört - und steuerfrei - sein dottergebackenes Aphrodisiakum verhökern zu können.
Aber Indien wäre nicht dieses millionenundeinmal sich widersprechende Land, wäre nicht alles auch wieder ganz anders: Fünf Meter große, liederliche Frauenzimmer in prallen Blusen blicken lüstern von Filmplakaten auf Heerscharen brennender Männeraugen. An jeder zweiten Apothekentür sieht man einen steinernen Gott an den Himmelskurven seiner Göttin spielen - Poster für "feurige" Kapseln. Mitten in Chandi Chowk hängt eine breite Tafel: "Consult for early discharge". In welcher Stadt sonst weiß man so schnell, wo ein vorzeitiger Samenerguss behandelt werden kann?

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Re: auf Indisch buchstabieren

Beitragvon riemsche » 16.03.2007, 20:00

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Mahabir ist nicht Hindu, nicht Muslim, nicht Sikh, Mahabir ist ein Jaina, Anhänger des Jainismus: sehr beeinflußt von Buddha, aber noch viel radikaler, viel sanfter. Aller Menschen, aller Tiere, aller Welt Freund. Wenn ich mich ihm gegenübersetze, dann ohne Schuhe, Gürtel und Geldbörse. Alles aus Leder - was den Tod eines Tieres bedeutet hat. Und was meine Wiedergeburt als Schlachtvieh zur Folge haben wird. Zur Bestrafung, zur Bewußtwerdung.
Mahabir vermittelt eine spektakuläre Erfahrung. Er lehrt nicht, will nicht besserwissen, erzählt seine Einsichten, klar, heiter, sehr intensiv. Einmal nimmt er mich mit zu seinen vier Gurus. Oben auf den Dächern der Tempel leben sie, jeder für sich. Blick auf Häuser, fern und leise der Verkehr. Ein Buch liegt vor ihnen, daneben die Wasserkanne zur Reinigung nach dem Stuhlgang und der Wedel aus Pfauenfedern. Wo immer sie sich setzen, mit ihm wird vorher der Boden freigewischt, um auch nicht das kleinste Insekt zu töten.
Die Gurus sind nackt. Auch nackt, wenn sie nach ein paar Tagen weiterziehen. Die vollkommene Blöße und der immer nur kurze Aufenthalt an einem Ort sollen verhindern, dass Beziehungen, dass Abhängigkeiten zu Dingen und Menschen entstehen. Jeder hat Freunde, Familie aufgegeben, hat alles, absolut alles, hinter sich gelassen. Das Ziel ist: leer werden für eine von jeder persönlichen Vor-Liebe freien Liebe. Ein strenges Leben. Zwei Stunden Schlaf, und selbst die werden nach 48 Minuten für ein kurzes Meditieren unterbrochen. Einmal am Tag essen, morgens. Im Stehen, Chapati und Milch. Ich verstehe nichts von begierdeloser Liebe, kann nicht leben mit Brot und Milch und 120 Minuten Schlaf, spüre aber, dass ihnen dieses Leben guttut. Ihre Ausstrahlung, ihre souveränen in sich ruhenden Augen, diese vollkommene Abwesenheit von Eitelkeit.
Es ist Zeit für "Darshan", Zeit für sie, Besuche zu empfangen, zuzuhören und Vorschläge zu machen. Auch Frauen kommen. Und nichts ändert sich. Die Frauen erzählen, und die splitternackten, straffen, gar nicht alten Männer - einen Meter entfernt - nicken, antworten. Nicht die Nuance einer verschämten Handlung, um abzudecken, zu vertuschen. Hinreißend. Das macht dem Jainismus keine Religion der Welt nach.

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Re: auf Indisch buchstabieren

Beitragvon riemsche » 18.03.2007, 00:41

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Oft gehe ich zum Nigam Bodhghat, dem Platz, wo die Hindus ihre Toten verbrennen. Vor den Toren des Basars, direkt am Fluss Yamuna, der aschgrau vorbeifließt. Jede Nacht leuchten um die zehn Scheiterhaufen. Ein paar Stunden dauert es, dann züngeln Flammen aus den leeren schwarzen Augen, der Rumpf richtet sich auf, Fleischfetzen knallen, Rauch treibt zwischen den Zähnen hervor. Das ist ein guter Abschied: dableiben und zuschauen, wie ein naher Mensch verglüht. Zeit für letzte Vorwürfe, für ein letztes Verzeihen. Es ist ruhig, eine Kuh wärmt ihre Haut, zerzauste Hunde, eine Ziege stochert in alten Knochen. Von einem winzigen Krishna-Tempel kommt das glückliche Geschrei eines Brahmanen. Eine Stunde am Abend umwandert er sein Heiligtum, wirft die Arme hoch und ruft: "Hari om !". Arul raucht, hustet, die Kuh sucht sich eine andere Leiche als Heizkörper, eine Frau weint leise, Nebel fällt.
Einmal um diese Zeit treffe ich Nakim. Er ist Bauarbeiter auf einer kleinen Brücke, kann nicht schlafen, sitzt auf seinem Feldbett. Neben ihm ein Haufen Kies und Sand. "How are you?" fragt er, als ich vorbeikomme, und mit einem: "Take it, please" reicht er mir ein Stück Chikkli, eine aus Kokosnuss, Erdnüssen und Zucker gepresste Süßigkeit. Sein Bruder wacht auf, noch zerschlissener, noch drahtiger wie Nakim. Er verteilt Bidis. Seltsam. Wie glücklich und verwirrt ich jetzt bin. Indien wird dich töten oder erlösen, sagen sie hier. Aber nie wird dein Herz stillstehen, immer wieder wird es sich erregen beim Anblick des Nichtfassbaren.

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Re: auf Indisch buchstabieren

Beitragvon [) i r k » 18.03.2007, 12:28

Seltsam. Wie glücklich und verwirrt ich jetzt bin. Indien wird dich töten oder erlösen, sagen sie hier. Aber nie wird dein Herz stillstehen, immer wieder wird es sich erregen beim Anblick des Nichtfassbaren.

Das ist das Schönste, Ergreifendste, was du je geschrieben hast. Ich hab Tränen in den Augen.

Und überhaupt ist dieses Indien A-Z sehr, sehr gut - ich habe allerdings noch nicht alles gelesen.

MfG,
[) i r k
"du trittst da fast in die fußstapfen des unseligen dr goebbels und seiner zensur und verdammungsmaschine." (Ralfchen)

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Re: auf Indisch buchstabieren

Beitragvon riemsche » 18.03.2007, 16:05

lieben Dank für s feedback Dirk.
hatte von beginn an gewisse bedenken. aber mittlerweile spinnt sich der rote faden von alleine. mir anhand eines chaotisch durcheinand von notizen spontan s bild zu puzzeln, hält mich davon ab in versuchung zu kommen, eine durchgängige geschichte zu erzählen. du löscht mir da bezüglich zweifel ein paar empathisch fragezeichen. ;-) das tut gut
lGr

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Re: auf Indisch buchstabieren

Beitragvon riemsche » 19.03.2007, 22:58

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Basare bieten alles, was der Mensch benötigt. Ballen von Seide für Saris, weißes Leinen für Kurta und Dhoti, die gängige Männerkleidung. Gewürze, frisch geköpfte Hennen, Fischberge, gebrauchte Autobatterien, Kikarholz zum Zähneputzen, Betelnüsse - zubereitet mit Tabak und Kalk - zum Kauen und Spucken, Hochzeitsflitter, Lotterielose, Kuhmist zum Feuermachen, Stacheldraht, reparierte Mercedeshupen, extrabreite Kloschüsseln und hellblaue PlayboyBadewannen, eine Million Räucherstäbchen, Götterbildchen mit der Geschichte von Lord Krishna und dessen 16000 Freundinnen, Zierfische im Glaskrug.
Das und die kleinsten, banalsten, wichtigsten Dinge des Lebens sind hier zu haben. "You name it, we deliver" steht auf einem verbeulten Blechschild geschrieben.

Ein SandwichMann zieht herum, präsentiert verröchelnde Ratten auf seiner Pappe, erledigt jedes Untier "forever". Das Gift trägt er im linken Hosensack. Ein alter Mann sitzt in einem Berg Büstenhalter und verkauft einem anderen alten Mann drei Stück, einen schwarzen, einen beigen, einen weißen. Unergründliches Indien. Ein Zauberer besitzt zwei Behälter und einen Ball. Der Ball verschwindet. Ich weiß nicht, wohin. Das ist sein einziger Trick, er hält ihn am Leben. Einer klebt falsche Bärte. Ein anderer repariert mit Lupe und Kleber zerfetzte Banknoten. Ambulante Ohrreiniger putzen mit Nadel und Watte für eine Rupie ein paar Ohren. Jemand sucht gegen Entgelt anderer Leute Läuse. Öffentliche Schreiber schreiben für Analphabeten. Drogenhändler winken mich in Hausflure, bieten mir Gola, Hasch aus Kashmir, Bati, grünen Nepalesen, Opium aus Indien und Brown Sugar - Heroin aus Pakistan.
Ein Kräuterweib will mein kurzes Haupthaar retten. Jemand verrät mir: "He´s coming soon". Er nennt keinen Namen. Ein Sterndeuter verkauft das Datum des nächsten Erdbebens. Eine Riege liebenswürdiger Lügenbolde phantasiert eine fantastische Zukunft. Ringe blitzen an ihren Fingern, Glückssteine bedecken den Boden, Rauch zieht davon. Ein zerlesenes Buch und das Bild des Affengottes Hanuman prophezeien mir: Ich werde 89, bis dahin alles easy, fame and glory, Geldsäcke, das reinste Glück. Bis Arechya, mein zahnloser Astrologe, alles zerstört, als er mir für das kommende Jahr eine Hochzeit androht. "Beautiful rich woman" beruhigt er. Aber das "total issue" meiner Kinder, ist hoch: "Nine", grinst Arechya.

Ein Haus weiter hört man die Tretmühlbohrer des Herrn Singh, eines "Bachelor of Dental Diseases", und die Schreie eines Patienten, dem er gerade das Gebiss aufbohrt. Die luftige Ein-Quadratmeter-Praxis verfügt über die notwendige Gerätschaft. Zwei unverpackte Spritzen, Ersatzzähne, elf leicht angerostete Eisenfeilen. Und die Wände voller Sonnenbrillen - Singhs Nebenverdienst. In einem Verschlag neben ihm verschleudert Zahid seine "All Pain Tablets". Mitunter räumen Polizisten mit ihren Knüppeln Tische ab. In diesen Fällen liegt ein Zahlungsrückstand vor. Man schaut vorbei, um nachdrücklich an eingegangene Verpflichtungen zu erinnern. Korruption überall. Jeder weiß, dass auf dem Markt lastwagenweise gestohlene Maschinen und Elektrogeräte verkauft werden. Die Polizei weiß es als erstes. Sie ist die letzte, die sich verplappert.
Nebenan In der G.B.Road warten sie - auch 14jährige. Als mir über ein schmieriges Treppenhaus von oben Polizisten entgegenkommen, verschwinde ich um die Ecke, Prostitution steht unter Strafe. Man beruhigt mich: "This building is goverment approved, relax" - heute ist also nur Zahltag für Bordelle. Vor halboffenen Türen schöne Mädchen, Kinder. Nicht schüchtern, durchaus drängend. Zu viele von ihnen stehen zur Verfügung, warten auf 100 Rupien "for one shot". Ein Job für harte Nerven, ein versteckter Blick genügt. Die gerippte Holzpritsche, am Boden das feuchte Klopapier und Gummis, sechs Quadratmeter ohne Fenster. Bitteres, grausames Indien. Und welche Ironie. G.B.Road bedeutet hier -offiziell falsch, aber bei den Leuten nur so bekannt- "Gandhi-Baba-Straße". Das muß ihn treffen, den Mahatma, den flammenden Keuschheitsapostel: sein Name für eine Puffzeile.

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1satzZurisikenUndneben....

Beitragvon riemsche » 04.11.2007, 21:29

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Quell vieler intensiv erlebter Momente sind die Sexclinics, Sexologists, Sexspecialists und Sextherapists, die im großen Basar von Old Delhi ihren hochdotierten und geheimnisvollen Gaunereien nachgehen und ich, Verlierer einer dummen Wette, komme als Patient, mein Leiden: sexuall weakness, das klingt grausam, aber die Herren schmunzeln, wissen schon Bescheid, beginnen mit einem thorough physical checkUp, also Hose runter, der schwierigste Moment, da ich schier unaufhaltsame Lachkrämpfe unterdrücke, wenn ich sehe, wie Sexganoven ihr Handwerk betreiben, Dr.Gupta hört mit dem Stethoskop meine most private parts ab, Dr. Sablok braucht eine Lupe - wie deprimierend - und der dritte, Dr. Rajinder, fingert mit einem Elefantenvibrator an mir ´rum, doch ich reiße mich zusammen und höre gefasst die Diagnose, die da lautet: kein einfacher Fall, kaum Reaktion, eine Behandlung wäre langwierig, vom Africa Treatment über das London Special bis hin zu den Nawabi Shahana Super Special Pills wäre alles zu haben, von 1150 bis 21000 Rupien, mit luxuriösen Ingredienzen: Moschus, Safran, gestampfte Kräuter und Pflanzen, Edelsteinpulver, Goldstaub, Silberkrümel, einfach alles, einzunehmen zweimal morgens, zweimal abends, mit Milch, die Instruktionen sind umfangreich, klingen umständlich kompliziert, während nebenan bei Allgemeinarzt Balraj Dhir und dessen zwei Helfern rasch und effizient gearbeitet wird, dort schreibt der Doktor auf Rezeptformulare mit elfzeiligem Briefkopf, das lieben die Inder, so eine pyramidale Lebkuchensprache, die aus einer ebenerdigen Bruchbude ein Forschungslabor zaubert und - Ayurveda schafft Vertrauen, ist die Wissenschaft vom langen Leben, reine Naturmedizin, zudem ist der Meister Gold Medalist und Psychiatrist, ein weiser Mann, der das Valium meistens im Schrank lässt, wie er mir sagt, während er noch mit anderen Patienten diskutiert, im Augenblick sind es vierzehn auf acht Quadratmeter, plus des Doktors Fahrrad, das an der Wand lehnt, plus einer bauchkranken Frau auf der Holzbank hinter dem Vorhang, den Stoß Zeitungen als Kopfkissen, ein Taubenschlag, Verband herunter, desinfizieren, Salbe drauf, neuer Verband, Schleife binden, "one rupee" - diese magische Ein-Rupie-Münze - "next, please" größere Wunden machen 50 Paisa mehr, mit Großmutters Haushaltsschere einen Fingernagel aus dem Eiterbett schneiden, eine gequetschte Zehe beruhigen, einen Abszess öffnen und die Penizillinspritze rein, Fäden aus zwei Kopfhäuten ziehen - einmal Unfall, einmal Polizeiknüppel, Kindertränen, Männerflüche, Frauenseufzer hinter vorgehaltener Hand, wo getuschelt wird, bei Mohammed Ghayas wäre alles anders, ein ehemaliger Ringer, der jeden Sonntag ganz in der Nähe seine Praxis unter freiem Himmel installiert, ein paar breite Schnüre, eine Rasierklinge, Phans Kholnaa nennt er die Methode, was soviel heißen soll wie: einen Knoten lösen, und alle Mühseligen, Gebuckelten schlurfen zu ihm her, Söhne transportieren gichtgeplagte Mütter, Ehefrauen ihren ausgepumpten Rikschamann, Freunde schleppen den hexenschußgequälten Nachbarn, Zuckerkranke, Arthritisgepeinigte, Bandscheibenopfer, alle hoffnungslosen Fälle, alle: "I tried anything", Mohammed behandelt jeden, zeigt selbstbewußt seine Pressemappe, ein Fotoalbum, ein Goldenes Buch, in das vorgebliche Bankdirektoren, Professoren, Schauspieler und das ganz normale, schwerkranke Fußvolk ihre Dankbarkeit hineingeschrieben haben, selbst die CP, die kommunistische Partei, wurde geheilt, jedermann preist den guten Doktor vom Meena-Basar, nur der Informationsminister fürchtet ihn, denn Mohammed will unbedingt ins Fernsehen, noch ist nichts entschieden, darum kuriert er bis zu 40 Patienten am Tag, schlechtes Blut ist seine einzige, einmalige Diagnose, es muss raus, er schnürt ein Bein des Leidenden, die Venen schwellen, vier oder fünf Ritze mit der Klinge in den Fußrücken und das böse, das schwarze Blut fließt ab, mit Wasser nachspülen, abwarten, ein bisschen Zementpuder auf die Wunde, geheilt - und wenn nicht, schwierige Fälle kommen wieder, wem die Sinne schwinden, weil er das Messer fürchtet, der wird behutsam gebettet, Ziegen und Gänse schauen zu, die Sonne brennt, auf dem wackligen Holztisch ein Bild von Buddha, er soll Mohammed im Traum das Rezept für eine Salbe gegen Kinderlähmung geflüstert haben, stolz holt er aus dem Schrank mit dem Viehfutter die Dose, zeigt ihn mir, den braunen Batz, im Bedarfsfall - bei ersten Lähmungserscheinungen - sofort auftragen, mehrmals .. oh heiliger, oh wunderbarer Schwachsinn.

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Re: 1satzZurisikenUndneben....

Beitragvon buddhabrot » 04.12.2007, 20:32

:rofl:
Sehr gut!
Wer nicht überzeugen kann, sollte wenigstens Verwirrung stiften.

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Re: 1satzZurisikenUndneben....

Beitragvon riemsche » 16.12.2007, 22:57

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Ich verdanke der von Inge S. http://www.einfach-unterwegs.com/ weitaus mehr wie nur souverän geführten Rajasthanreise und der dadurch erst möglichen Bekanntschaft mit Gleichgesinnten meinen Spitznamen "Ganesh-Baba". Er und eine Kombination glücklicher Umstände schufen mir jene Freiräume, die mich inspirierten, tagtäglich persönliche Aufzeichnungen zu führen und gefrorene Zeit in Bildern festzuhalten. Ich danke in diesem Kontext für persönliche Begegnungen der sehr berührenden Art, Fortuna für die Möglichkeit, sie wahrzunehmen und natürlich dem geneigten Leser, dass er selbst dem langen Satz zuvor, fern dem abgewetzten Kritzelbuch mit Eselsohren, seine Aufmerksamkeit schenkte. Danke und: Ja, fahrt -wenn irgendwie geht- unbedingt auch dort hin. Fliegt preisgünstig, nehmt private Gästehäuser statt teure Hotels, und investiert ohne Umweg in all die so selbstverständlich hilfsbereiten Leute vorort. Sie werden sich -liegt am Elefantengott- bei einem zufälligen Wiedersehen an eure Gesichter, Namen, noch zigJahre später gut erinnern.

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KaRe
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Re: 1satzZurisikenUndneben....

Beitragvon KaRe » 21.02.2008, 15:04

danke für den Text, er hat mich gut unterhalten, ich finde ihn sehr witzig :-D Die Geschwindigkeit darin gefällt mir. Oder lese nur ich den Text so schnell?

Gruß,
KaRe
es wäre gar nicht so schön ohne mäntelchen, wenn man keines hätte

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Re: 1satzZurisikenUndneben....

Beitragvon vogel » 28.02.2008, 18:35

Hallo,

also bewundernswert, wie lang man Sätze machen kann. Wahnsinn und trotzdem ein richtiger Einsatz von Kommata...
Trotzdem..Inhaltlich fällt mir der Text sehr auf die Nieren. Vorallem zum Schluß, als es um die Füße geht. Schon irgendwie eklig.
Aber davon abgesehen. Ich verstehe

a) den Titel nicht. Gut, es ist ein Satz. Aber welche Nebenwirkungen?
b) nicht, was mir der Autor sagen will :-& ... Ich mein, als Inner Monolog kann ich gut verstehen, wie man von einer Urologischen Untersuchung weiter denkt bis zu dem geschäftigen Treiben der Ärzte. Aber wo ist die Pointe? Habe ich irgendwas überlesen? Warum konnte ich nicht lachen (im Gegensatz zu den anderen, anscheinend..)?
Und mir erschließt sich auch nicht so recht die Sache mit Buddha und Mohammed.

Verwirrte Grüße,
Vogel
Mein Ich ist ein Pfogel aus Metall, doch Du hast ihn berührt und beschützt.


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