Trennung

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Hugo Homunkulus
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Trennung

Beitragvon Hugo Homunkulus » 17.07.2009, 18:57

Trennung
Ein kurzer Dialog für 2 Personen und 20.000 Statisten


Personen:

MARQUISE DE CABOCHE – Ein Adliger
MONSIEUR VENTRE – Ein Bürgerlicher
DER SCHWARZE MANN
DAS VOLK VON PARIS

Hugo Homunkulus
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Erste Szene

Beitragvon Hugo Homunkulus » 17.07.2009, 18:57

MARQUISE DE CABOCHE
Hören Sie das?

MONSIEUR VENTRE
Nein, mein Magen knurrt.

MARQUISE DE CABOCHE
Sie spannen den Karren an, der uns --

MONSIEUR VENTRE
Seit Wochen dieser Fraß. Die reinste Folter, wenn Sie mich fragen.

MARQUISE DE CABOCHE
Noch eine Stunde, oh Gott, noch eine Stunde.

MONSIEUR VENTRE
Heute morgen dieser Schleim zum Frühstück, bei dem man nicht sicher sein konnte, ob es Hafer oder eine Krankheit ist. Ich sterbe, wenn ich nicht gleich etwas zu essen bekomme.

MARQUISE DE CABOCHE
Dass Sie jetzt an Essen denken können! Noch eine Stunde bis wir dem Schwarzen Mann gegenüber treten und Sie denken an nichts anderes als an --

MONSIEUR VENTRE
Riechen Sie das?

MARQUISE DE CABOCHE
Nein.

MONSIEUR VENTRE schnüffelt in der Luft herum.
Bouillabaisse.

MARQUISE DE CABOCHE verächtlich
Souillebaisse?

MONSIEUR VENTRE
Ich rieche eine Bouillabaisse auf zwei Kilometer Entfernung.

MARQUISE DE CABOCHE
Wenn sie zum Himmel stinkt.

MONSIEUR VENTRE
Sie werden schon sehen. Brot und Käse bekommen wir auch und einen Burgunder.

MARQUISE DE CABOCHE
Sie phantasieren.

MONSIEUR VENTRE schwelgerisch
Und als Nachtisch: Mousse au Chocolat.

MARQUISE DE CABOCHE
Sie halluzinieren. Und selbst wenn: Sie würden es gar nicht drin behalten.

MONSIEUR VENTRE
Ich behalte alles drin.

MARQUISE DE CABOCHE
Das sieht Ihnen ähnlich, Sie Mastschwein.

MONSIEUR VENTRE
Sie Aasgeier, selbst die kleinste Freude müssen Sie einem noch verderben. Ich höre einfach nicht auf Sie. Dass man uns zusammen in eine Zelle gesperrt hat, die reinste Folter ist das.

MARQUISE DE CABOCHE
Ach, jetzt werden Sie doch nicht theatralisch. Hier ist sowieso niemand, der einen Sous auf ihr Gezeter gibt. Doch ich gäbe einen Louis d’Or für fünf Minuten Schweigen.

MONSIEUR VENTRE
Ahhh, dunkle Schokolade im Wasserbad zerlassen --

MARQUISE DE CABOCHE
Noch einmal eins zu sein mit meinen Gedanken --

MONSIEUR VENTRE
Das Eiweiß von vier Eiern steif geschlagen --

MARQUISE DE CABOCHE
Noch einmal in die spiegelnde Flut zu steigen --

MONSIEUR VENTRE
Eigelb, Zucker und warmes Wasser zu einer Creme verrührt --

MARQUISE DE CABOCHE
Noch einmal mich rein zu waschen vom Staub des Alltags --

MONSIEUR VENTRE
Dann mit der weichen Schokolade vermengt –-

MARQUISE DE CABOCHE
Noch einmal zu träumen --

MONSIEUR VENTRE träumerisch
Und Eischaum und Schlagsahne behutsam darunter gehoben --

MARQUISE DE CABOCHE zornig
Ohne unterbrochen zu werden.

MONSIEUR VENTRE eingeschüchtert
Nun verlieren Sie doch nicht gleich den Kopf. Dafür ist auch noch später Zeit. Schließlich sitzen wir in einem Boot, nicht wahr?

MARQUISE DE CABOCHE
Kennen Sie denn nichts als die Bedürfnisse Ihres Bauches?

MONSIEUR VENTRE
Zuerst braucht der Mensch etwas zu beißen. Leichtes Parfüm und schwere Gedanken verströmen kann man erst, wenn man satt ist.

MARQUISE DE CABOCHE
Ich habe Sie satt.

MONSIEUR VENTRE
Sie haben alles satt.

MARQUISE DE CABOCHE
Carpe horam! Ihr Leben haben Sie vergeudet. Nicht mehr zu ändern! Aber warum nutzen Sie nicht noch die letzten Minuten, die Ihnen bleiben, für etwas Würdevolles?

MONSIEUR VENTRE
Eine gestopfte Pfeife wäre nicht schlecht.

MARQUISE DE CABOCHE
Haben Sie nie darüber nachgedacht, woher wir kommen, wohin wir gehen und warum --

MONSIEUR VENTRE
-- das Leben zu kurz ist, um über Fragen nachzudenken, auf die es keine Antwort gibt?

MARQUISE DE CABOCHE
Warum wir hier sind?

MONSIEUR VENTRE
Wir sind hier, weil uns das Revolutionstribunal verurteilt hat. Ich bin ein einfacher Mann und vertraue da ganz auf mein Bauchgefühl...

MARQUISE DE CABOCHE
Sie meinen Blähungen?

MONSIEUR VENTRE
... und mein Bauch sagt mir: Denk nicht zuviel darüber nach, warum du hier bist, du kannst es ja doch nicht ändern. Sie skandieren Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und jetzt sitzt du hier zwischen diesen grauen Mauern, weil Danton, dein Freund, dem Terror der Freiheit ein Ende machen wollte? Niemand ist frei.

MARQUISE DE CABOCHE
Die Gedanken sind frei!

MONSIEUR VENTRE
Zu viel Ruminieren bekommt mir nicht. Davon kriege ich nur Magengeschwüre.

MARQUISE DE CABOCHE
Erst bläht sich der Bauch, dann bläst es unwillkürlich aus allen Körperöffnungen. Blabla ist eine physiognomische Begleiterscheinung der Flatulenz.


Die Tür geht scheppernd auf. Ein Mann mit breiten Schultern unter einer schwarzen Maske kommt herein.


DER SCHWARZE MANN
Mit wem redest du?

MONSIEUR VENTRE
Ich?

MARQUISE DE CABOCHE
Mit niemandem.

DER SCHWARZE MANN
Noch eine halbe Stunde. Hier!


Er schiebt mit den Stiefeln einen Blechnapf in den Raum und knallt die Tür wieder zu. Man hört, wie der Riegel vorgeschoben wird.


MONSIEUR VENTRE schaut neugierig in den Napf.
Mehlsuppe.

MARQUISE DE CABOCHE hämisch
Bon Appétit!

MONSIEUR VENTRE zuckt mit den Schultern und beginnt die Suppe zu löffeln.

MARQUISE DE CABOCHE
Ekelhaft.

MONSIEUR VENTRE
Und Sie wollen nichts?

MARQUISE DE CABOCHE
Nein.

MONSIEUR VENTRE freudig
Umso mehr für mich.

Hugo Homunkulus
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Zweite Szene

Beitragvon Hugo Homunkulus » 17.07.2009, 18:59

MARQUISE DE CABOCHE und MONSIEUR VENTRE stehen Rücken an Rücken gefesselt auf einem Ochsenkarren, der die beiden langsam, aber unaufhaltsam zum Place de la Révolution befördert. Am Straßenrand DAS VOLK VON PARIS, das sie immer wieder als „Verräter“ beschimpft.


MONSIEUR VENTRE
Ein schöner Tag.

MARQUISE DE CABOCHE
In der Tat.

MONSIEUR VENTRE
Seit Wochen sehe ich zum ersten Mal die Sonne.

MARQUISE DE CABOCHE
Meine Augen sind das helle Licht nicht mehr gewöhnt.

MONSIEUR VENTRE
Wir werden uns einen Sonnenbrand holen – so ungeschützt auf diesem Wagen.

MARQUISE DE CABOCHE
Aber dafür stehen wir im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.

DAS VOLK VON PARIS
Verräter!

MONSIEUR VENTRE
Ja, wir sind die Attraktion des Tages.

MARQUISE DE CABOCHE
Brot und Spiele.

MONSIEUR VENTRE
Und wir spielen mit.

MARQUISE DE CABOCHE
Haben Sie Angst?

MONSIEUR VENTRE
Nein. Es fühlt sich nur etwas merkwürdig an.

MARQUISE DE CABOCHE
Als wäre dies alles nicht wirklich.

MONSIEUR VENTRE
Nicht wirklich wirklich.

MARQUISE DE CABOCHE
Als würde dies einem anderen passieren.

MONSIEUR VENTRE
Als wäre es ein Traum.

MARQUISE DE CABOCHE
Aber es geschieht.

MONSIEUR VENTRE
Geschieht wirklich.

MARQUISE DE CABOCHE
Wirklich wirklich.

MONSIEUR VENTRE
Ist kein Spiel.

MARQUISE DE CABOCHE
Kein Spielerisches.

MONSIEUR VENTRE
Mein Herz schlägt wie wild gegen meine Brust.

MARQUISE DE CABOCHE
In meinem Kopf schwirren tausend Gedanken herum.

MONSIEUR VENTRE
Als wäre ich verliebt.

MARQUISE DE CABOCHE
Als wäre ich glücklich.

MONSIEUR VENTRE
Das Volk will Blut sehen.

MARQUISE DE CABOCHE
Und wir spenden Blut.

MONSIEUR VENTRE
Das ist die Herrschaft des Pöbels.

MARQUISE DE CABOCHE
Das ist der Terror der Hysterischen.

MONSIEUR VENTRE
Die Oberen können es nicht aufhalten.

MARQUISE DE CABOCHE
Aus Angst, selbst unters Messer zu kommen.

MONSIEUR VENTRE
Sie machen reinen Tisch.

MARQUISE DE CABOCHE
Stillen den Blutdurst des Volkes.

MONSIEUR VENTRE
Füttern es mit den klugen Köpfen der Revolution.

MARQUISE DE CABOCHE
Die armen Seelen.

MONSIEUR VENTRE
Ob's mit der Himmelfahrt noch klappt, wenn die Seele in zwei Teile zerhackt wurde?

MARQUISE DE CABOCHE
Die Seele ist unteilbar.

MONSIEUR VENTRE
Ob die Himmelswächter uns hindurch lassen, wenn wir ankommen, mit dem Kopf unterm Arm?

MARQUISE DE CABOCHE
Nichts, was die uns antun, wie grässlich es auch sei, kann unsere Seele beschädigen.

MONSIEUR VENTRE
Sie meinen, sie ist unberührbar?

MARQUISE DE CABOCHE
Genau. Haben Sie denn nicht Descartes gelesen? Die Seele ist eine ganze eigene Substanz, vollkommen verschieden von unserem Körper und der Materie, die uns umgibt.

MONSIEUR VENTRE
Aber irgendwo im Körper muss sie doch nisten?

MARQUISE DE CABOCHE
Im Kopf natürlich.

MONSIEUR VENTRE
Warum im Kopf?

MARQUISE DE CABOCHE
Weil wir damit denken. Weil hier unsere ganzen Erinnerungen, unser Wissen, unsere Erfahrung vereint sind.

MONSIEUR VENTRE
Mir erscheint es plausibler, dass sie im Herzen sitzt! Im Mittelpunkt unseres Körpers, von wo aus sich die Gefühle ausbreiten! Der Kopf ist doch viel zu kalt, um Sitz des ewigen Feuers zu sein!

MARQUISE DE CABOCHE
Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Sprechen, Verstehen – dies alles ist Sache des Kopfes. In der Zirbeldrüse sitzt die unsterbliche Seele, daran kann es keinen Zweifel geben.

MONSIEUR VENTRE
Aber vielleicht irren Sie sich und Sie sitzt weder im Kopf, noch im Herzen, sondern im Solar Plexus.

MARQUISE DE CABOCHE
Sie spekulieren.

MONSIEUR VENTRE
Sie wohl nicht? Jedenfalls kann ich nicht einsehen, warum der Sitz des Verstandes auch zugleich das Zuhause der Seele sein sollte. Das erscheint mir zu aristokratisch gedacht.

Vielleicht irren wir uns beide und so etwas wie eine Seele existiert überhaupt nicht. – Das Messer fällt. Der Verstand sagt: „Bonne nuit!“ Das Herz sagt: „Dormez bien!“ Und dann Licht aus. Fin.

MARQUISE DE CABOCHE
Nur ein seelenloser Heide kann so reden.


Der Wagen hält und beide werden über eine schmale Treppe auf das Schafott geführt, während sie fluchen. Oben steht DER SCHWARZE MANN, der Scharfrichter, neben der Guillotine.


MONSIEUR VENTRE
Sie Dickschädel.

MARQUISE DE CABOCHE
Sie Fettwanst.

MONSIEUR VENTRE
Sie Herr von Wegenbregen.

MARQUISE DE CABOCHE
Sie Hans Wanzenpansen.

DER SCHWARZE MANN denkt, er sei gemeint:
Sei still, du Querulant!

MONSIEUR VENTRE
Sie Hirngespinst.

MARQUISE DE CABOCHE
Sie Schmerbauch.

MONSIEUR VENTRE
Sie Schreibtischtäter.

MARQUISE DE CABOCHE
Sie Triebtäter.

DER SCHWARZE MANN
Hast du nicht gehört?

MONSIEUR VENTRE
Sie Kopfgeburt.

MARQUISE DE CABOCHE
Sie Blasebalg.

DER SCHWARZE MANN
Gleich schweigst du still.


DER SCHWARZE MANN schnallt MONSIER VENTRE auf die Wippe fest. Er schiebt ihn zwischen die Führungsschienen. Die obere Lünette wird heruntergelassen und der Hals fixiert.


MONSIEUR VENTRE
Jetzt dürfen Sie ein letztes Mal eine gestärkte Halskrause tragen.

MARQUISE DE CABOCHE ruhig
Gleich werden wir getrennt.

MONSIEUR VENTRE, der Leib, pathetisch
Adieu, mon ami!


Das Fallbeil saust herunter. Der Kopf fällt in einen Korb.


MARQUISE DE CABOCHE, der abgetrennte Kopf, sterbend
Adieu!

ralf
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Re: Trennung

Beitragvon ralf » 17.07.2009, 22:59

vom dritten dialog an war klar, dass die jungs auf die guillotine warten. hast du das beabsichtigt?

Hugo Homunkulus
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Re: Trennung

Beitragvon Hugo Homunkulus » 18.07.2009, 00:44

Aber natürlich. Ich überlasse doch nichts dem Zufall. ;-)


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