Der Nebel

In diesem Forum kann sich jeder mit seinem Text der Kritik des Publikums stellen. Selbstverständlich auf eigene Gefahr ...
Hugo Homunkulus
Minotauros
Beiträge: 52
Registriert: 04.03.2008, 00:00
Wohnort: Glaskolben

Der Nebel

Beitragvon Hugo Homunkulus » 02.10.2009, 23:55

Gegen Mittag hatte mich eine unerklärliche Müdigkeit überfallen und ich hatte mich für eine Stunde schlafen gelegt. Als ich erwachte, war die Welt nicht mehr dieselbe. Sie hatte Farbe, Form und Tiefe, ehe ich meine Augen schloss. Jetzt waren alle Dinge blass und unscharf, ja, sie schienen ihrer räumlichen Ausdehnung beraubt. Es war, als hätte sich über alles ein feiner weißer Schleier gelegt, als wäre nur noch dieses verblasste Abziehbild der Wirklichkeit geblieben. Natürlich bezweifelte ich sofort, was ich da sah. Ich rieb mir die Augen, um den Schleier des Schlafes los zu werden, der meinen Blick trüben musste. Ich versuchte es mit kaltem Wasser, um die Müdigkeit zu verscheuchen, die mich noch immer in ihrem Bann hielt... es half nichts. Der Schleier blieb.

Ich verließ das Haus und ging die Straßen entlang. Die Linien der Häuser und des Bordsteins verschwammen vor meinen Augen. Wenige Meter vor mir verliefen sie in einem diffusen und indifferent weißen Etwas. Selbst der Ton, den meine Schuhe auf dem Gehweg erzeugten, war irgendwie dumpf. Es war unmöglich zu unterscheiden, ob ich ging oder taumelte, ob ich mich in eine Richtung fortbewegte oder ob der Weg unter meinen Füßen hinweg glitt, während ich die Beine hob und mühevoll versuchte das Gleichgewicht zu halten. Es war nicht nur, als hätten die Dinge ihr gewohntes Aussehen, ihre eigentliche Gestalt und Beschaffenheit verändert, sondern als wäre alles plötzlich in Bewegung geraten. Der Weg unter mir, der Zaun zu meiner Linken, das Tor, das gerade vorbeizog, all diese Gegenstände begannen – wie es schien – zu fließen und mich langsam mit sich zu ziehen – und der Nebel um mich herum dickte sich ein.

Ich stand vor einem großen Tor und ich kann nicht sagen, wie ich dorthin gekommen war. Die ängstlich-echten und die leblos-leidenden Gesichter von Heiligen schauten mich an. Sie waren unheimlich, denn sie hatten Kontur, die Reliefs ihrer Gesichter waren scharf umrissen und ihre Augen schwarze Löcher, die mich fragend anstarrten. Es war das mit gusseisernen Beschlägen künstlerisch verzierte Tor einer Kirche. Ich öffnete und betrat das Kirchenschiff. Der Nebel schien hinter mir einzutreten und sogleich legte sich sein Atem über die Sitzreihen, beschlug die Glasmosaike der hohen Fenster, hüllte den Altar ein und strömte schließlich das große Kreuz empor, dessen Gold augenblicklich zu verwelken schien. Wo gerade noch ein warmer Glanz von ihm auszugehen schien, war es mit einem Mal vergilbt und stumpf. Und der schlaffe Körper der Jesusfigur, der da hing, sah plötzlich ganz aufgedunsen aus.

Ich stieg in den Turm hinauf. Ich wollte sehen, was es mit diesem Nebel auf sich hatte. Vielleicht, so sagte ich mir, würde ich es vom Turm aus überblicken können. Vielleicht würde ich sogar erkennen können, aus welcher Niederung es heraufzog oder zumindest aus welcher ungefähren Richtung. Die steinerne Wendeltreppe wand sich in einer Spirale hinauf und die Stufen flackerten vor meinen Augen auf. Alles drehte sich. Meine Beine fühlten sich immer schwerer, meine Knie immer weicher an. Ich stieß mit den Schultern gegen die Wände, die nachgaben und mich zurück stießen. Wie ein Trampolin, dachte ich, während es vor meinen Augen weiß wurde. Ich lief, ich rannte, ich stürzte nach oben. Die Treppen rollten unter mir hinweg, ich krabbelte, ich fiel. Ich stand wieder auf, krallte mich in eine Ritze zwischen zwei Steinen und zog mich keuchend auf die obere Plattform. Als ich die Augen wieder öffnen konnte, sah ich den Turm, ummantelt von Weiß.

Das Nichts warberte einen Augenblick um den Giebel und die Glocken herum – ehe es zum Sprung ansetzte und alles verschlang. Ich blieb zurück, balancierend auf einem unsichtbaren Punkt, schwebend, über dem weißen Abgrund.

Zurück zu „Texte“

Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 52 Gäste