Der Tod der Kritikerin - Kennenlernen 8. Teil

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Pentzw
Kalliope
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Der Tod der Kritikerin - Kennenlernen 8. Teil

Beitragvon Pentzw » 25.05.2012, 00:53

Am liebsten fahre ich ziellos Zug, ja wirklich. Ich habe eine sogenannte Mobikarte, da kann ich mit dem Zug kostenlos einen riesigen Umkreis beschreiben. Und am liebsten setze ich mich gegenüber jemanden, der schläft und schlummert. Zuvor bin ich durch die Abteilungen gestreift und wenn ich auf einen Dösenden oder Schlafenden gestoßen bin, versuche ich mich in seiner Nähe zu platzieren. Das hat so etwas Beruhigendes für mich. Ich bin nicht allein einerseits, andererseits fühle ich mich nicht durch die Anwesenheit eines anderen herausgefordert. Ich muss nichts spielen, wenn sie mich verstehen. Ein Schlafender hat etwas unsäglich Ruhiges, was er ausstrahlt. Ja Ruhe. Das ist unbeschreiblich relaxend und entspannend, kann ich ihnen versichern.
So hockte ich eines Tages vor einer schlafenden Frau, nur den Kopf nach vorne genickt, schlummernd, kaum Atemstöße von sich gebend, drollig in sich versunken, wie nur Frauen es können.
Plötzlich jedoch öffneten sich ihre Augen, als fühle sie sich von jemanden dazu aufgefordert, der sie gerufen habe. Ihre Pupillen, offen und in die Ferne gerichtet, mussten mich nicht suchen, sondern hatten mich mit dem ersten Augenaufschlag im Blickfeld und fixierten unverrückbar die meinigen. Eine Ewigkeit.
Aber: „Beobachten Sie mich?“, kam es hervor.
„Ja!“, verblufft. „Ein bisschen! – Pause – Hin und Wieder!“ Und zur Unterstützung dessen, dass ich sie ja nicht hartnäckig verfolge und unbeirrt bobachte mit meinen Blicken, hob ich meinen Stift und mein Blatt Papier, krauste die Stirn, um nach Gedanken zu suchen und um wieder weiter zu schreiben, was ich damit vorgab, vorwiegend und die meiste Zeit getan zu haben und mein Blick rein zufällig auf sie zum Ruhen gekommen war, wie vielleicht die Kugel einer Tombola, die eine große Gewinnausschüttung verspricht.
Mir fiel jedoch nichts ein. Stattdessen wanderten meine Blicke immer wieder zu ihr hinüber bzw. kreuzte sich mein Blick mit ihren stetig auf mich gerichteten.
Nun fühlte ich mich verpflichtet, etwas zu sagen, Konversation zu treiben, irgend ein Gespräch in Gang zu setzen, um die Versteift- und Verkrampftheit zwischen uns Fremden aufzulockern.
„Sie sind müde?“
„Nein, nicht mehr!“
Das war wiederum eine Aufforderung, etwas zu sagen. Aber nur was? Andererseits hätte ich ja nicht mehr das Gespräch weiterverfolgen brauchen.
Aber ich sagte: „Ich hoffe nicht, dass ich sie aufgeweckt habe!“
„Nein, haben sie nicht!“
„Aber entschuldigen Sie, wenn ich es gemacht habe...“
„Warum sollten Sie das gemacht haben?“
„Na, ich muss zugeben, dass ich sie wohl angeschaut habe als sie schliefen.“
„So, haben Sie das?“
„Ja, und wohl etwas über Gebühr!“
„Und jetzt glauben Sie, dass ich deswegen aufgewacht bin?“
„Ja, ich befürchte es!“
Sie lachte verhalten. „Ach, ich glaube das nicht. – Wieviel Uhr ist es?“ Sie suchte in ihrer Tasche nach einer Uhr, aber ich kam ihr zuvor und nannte ihr die Uhrzeit.“
Sie wandte den Blick zum Fenster und versuchte dadurch hinauszusehen, wohl um die Tageszeit zu erkennen und seufzte: „Ach, so lange habe ich geschlummert. Es ist ja schon fast Abend.“ Nachdem sie sich geräuspert hatte, meinte sie abschließend zu mir gewannt, verhalten lächelnd: „Sehen Sie, es kann nicht nur an Ihnen gelegen haben, dass ich aufgewacht bin.“
Damit hatte sie mir aber nur die halbe Absolution erteilt. Ich stand noch immer etwas in ihrer Schuld.
Ich hatte sie während des Gesprächs gemessen. Der zu große Quader, ein Schmuckstück, der als Ring fungierte - der musste doch schwer am Finger hängen? Warum tat sie sich das an? Die feingezeichneten Lidschatten, die blauen, künstlichen Krähenfüsse und das akkurat zugeschnittene Haar, das grell-rot mit Henna gefärbt war - musste das ein Aufwand gewesen sein!
Sicherlich, für eine Frau lohnte sich dies, wenn sie nach Aufmerksamkeit heischte und die hatte sie wenigstens bei meinem Teil bekommen. Ich war fasziniert davon.
Fragiles, Bruchstückhaftes und Verletzliches strahlte sie aus – wie ein Frauenbildnis Picassos.
Sie hielt große Stücke auf sich selbst, wollte die Aufmerksamkeit Außenstehender erregen. Das war nicht plump, nicht anmachend, das war mit ungeheuer viel Liebe, Zeit und Energie aufgestellt worden. Diese Frau hielt sehr viel auf sich, was mich verführte wie ein Stück Gold, vor dessen Anziehungskraft man sich nicht losreißen kann.
Ich musste weiterreden, ohne dass ich es wirklich wollte. Ich hatte in diese Mitte vorzustoßen, zu erkunden, was dieses frauliche Kunstwerk daselbst zusammenhielt.
Doch merkte ich, dass ich kaum hinter der Maske ihres Gesichtes dringen konnte. Sie sendete Strahlen aus, die mich vor dieser Richtung in Schach hielten. Das merkte ich nur zu gut.
Wie konnte ich die Augen schärfen, um näher heranzukommen, ohne dass es auffiel und aufdringlich wirkte?
So fiel mein Blick auf ihre Kleidung mit der Überlegung, was hinter ihren dezenten, grauen und dennoch edlen Stoffen verborgen lag: hinter langem Rock aus schwerer Seide wie bei Schlossvorhängen, Räumen in herrschaftlichen Villen und der Bluse, die so viel Falten mit an den Schultern sich bauschenden Rüschen schlug, als wäre sie eine Primadonna in der Oper?
Dass ihr Rock ihre schmalen Schenkel freiließ und entblößten, ich schwöre es, spielte für mich keinerlei Rolle. Es war nur ein Zufall, auf den ich nichts gab, der nichts besagte Angezogen hat mich dieser auch nicht. Da waren ganz andere Attribute im Spiel.
Ulkig, weil überdimensioniert, waren beispielweise die bis über die Waden reichenden braunen Stiefel, die am Schaft spitz auseinanderliefen wie bei einem Dekolté. Und dann die scharf zulaufenden Fußspitzen, die gefährlich wirkten.
Das war ein Stilbruch. Vielleicht aber nicht, waren die klobigen Stiefel auch Abwehrschutz. Wovor wollte sie sich schützen?
Gleichzeitig, weil sie sich derartig modisch und aufwändig schminkte und kleidete, versuchte sie die Aufmerksamkeit anzuziehen. Das war wiederum ein Schrei nach Liebe, so laut wie er sich grell gestaltete.
Diese Frau, auch als ich sie näher kennenlernte, ließ niemanden über eine imaginäre Line an sich heran. Ihre Augen, unbeweglich, unverrückbar-konzentriert einem betrachtend, ließen die Mauer nicht einstürzen und nichts hindurch. Ihr unerbittlicher, klarer Blick war Distanz, welche zu durchbrechen ich zu keinem Zeitpunkt nur einen klitze-kleinen Moment schaffte. Daran war nicht zu rütteln. Vorerst.
Bislang musste ich sagen, dass ich mich schwer tat, Emotionen an ihr zu entdecken. Sie wirkte kühl, abwägend und rational. Und zur Liebe schien sie überhaupt nicht prädestiniert zu sein. Aber ich war voreilig. (Ich muss hier kurz erwähnen, niemals auch habe ich, auch später nicht, die geringste Spur einer Schweißbildung auf ihrer Haut bemerkt.)
Diese Kühle zog mich an. Im Nachhinein wurde mir das erst richtig bewusst: in einer Weise, die etwas mit Altruismus zu tun hat. Ich wollte den Eisklotz zu ihrem eigenen Segen zum Schmelzen bringen. Sie sollte erfahren, wie liquide sie war. Wie schön es war, zu lieben.
Heute weiß ich, dass man das nicht tun sollte. Aber ich betrachtete sie zu diesem Zeitpunkt noch wie einen klinischen Fall und ich war ihr Therapeut wider Willen.
Da sie mir krank erschien – Diagnose Eisigkeit, ganz klipp und klar - so billigte ich ihr keinen Willen zur Heilung zu und alles was ich unternehmen würde, bedeutete nur therapeutisch heilsamer Schmerz, der ihrer Gesundung und Genesung zugute käme.
Ich sage nochmals und zum Abschluss: das war eine Fehleinschätzung. Warum? Weil sie letztlich stärker war als ich. Ein Eingeständnis, das von schwerem Herzen kommt.
Na gut, so etwas kann man nicht voraussehen.
Aber ich musste tun, was ich tun musste.

Olympe Lully
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Re: Der Tod Kritikerin - Kennenlernen 7. Teil

Beitragvon Olympe Lully » 28.05.2012, 14:05

Hallo,
erst einmal ich war zu faul nach den anderen Teilen zu suchen und habe gleich mit Teil 7 angefangen, um abzuschätzen, ob sich die Mühe überhaupt lohnt.
Das erste was mir auffiel war der Name "Der Tod Kritikerin". Komisch - welcher ernst ernst zunehmende Schreiberling, macht in der Überschrift einen derart groben Fehler? Irgendwann kam mir der Gedanke, dass du für die Überschrift bewusst den Dativ verwendet hast. Das zweite ist natürlich "Tod Kritikerin" - was ist das denn? Eine Frau, die den Tod kritisiert? Eine besonders schlimme Kritikerin wie der "Todfeind" ein besonders verhasster Feind ist? Es macht neugierig. Da ich leider immer noch nicht herausgefunden habe, was sie ist, kann ich mich natürlich irren, aber ich würde sie entweder "Tod-Kritikerin" oder "Todkritikerin" schreiben. Wie auch immer, der Titel ist interessant gewählt und macht neugierig.
Dein Schreibstil gefällt mir sehr gut. Er hat mich von der ersten Zeile an gefangen genommen. "Am liebsten fahre ich ziellos Zug, ja wirklich." Das ist so eine derart seltsame Aussage, dass man doch glatt weiterlesen muss. Genial! Wie kann man sich freiwillig die Deutsche Bahn antuen 8-) . :-))
Die Beschreibung der Frau ist wirklich gut getroffen - ich glaube, dass hat mich am meisten fasziniert. Bei dieser detaillierten Beschreibung ist es notwendig, dass sie im weiteren Verlauf eine tragende Rolle spielt, ansonsten würdest du "Perlen vor die Säue werfen", aber deine Andeutungen legen den Schluss nahe, dass sie eine, wenn nicht sogar die tragende Rolle spielt. Wichtig ist auch, dass die Faszination, die du aufbaust, beibehältst. Es wäre schade, einen so interessanten Charakter zu verpulvern.
Beim Beschreiben hast du dich aber in kleine Widersprüche verrannt. Henna ist soweit ich weiß, nicht so grell.
Der Körper selbst war in dezentestem, buntesten und edelsten Kleidern verborgen. - Bunt und dezent beißt sich. :D
Der Vergleich mit dem Therapeuten stößt mir als Medizinstudent sauer auf. Natürlich billigen wir unseren Patienten einen Willen zu und nur in den seltensten Fällen wird gegen den Willen das Patienten gehandelt. Es gibt ja auch die Genfer Deklaration:
"Bei meiner Aufnahme in den ärztlichen Berufsstand gelobe ich feierlich: mein Leben in den Dienst der Menschlichkeit zu stellen. Ich werde meinen Lehrern die schuldige Achtung und Dankbarkeit erweisen. Ich werde meinen Beruf mit Gewissenhaftigkeit und Würde ausüben. Die Gesundheit meines Patienten soll oberstes Gebot meines Handelns sein.Ich werde alle mir anvertrauten Geheimnisse auch über den Tod des Patienten hinaus wahren. Ich werde mit allen meinen Kräften die Ehre und die edle Überlieferung des ärztlichen Berufes aufrechterhalten. Meine Kolleginnen und Kollegen sollen meine Schwestern und Brüder sein.
Ich werde mich in meinen ärztlichen Pflichten meinem Patienten gegenüber nicht beeinflussen lassen durch Alter, Krankheit oder Behinderung, Konfession, ethnische Herkunft, Geschlecht, Staatsangehörigkeit, politische Zugehörigkeit, Rasse, sexuelle Orientierung oder soziale Stellung. Ich werde jedem Menschenleben von seinem Beginn an Ehrfurcht entgegenbringen und selbst unter Bedrohung meine ärztliche Kunst nicht in Widerspruch zu den Geboten der Menschlichkeit anwenden. Dies alles verspreche ich feierlich und frei auf meine Ehre." Fassung von 1948, wurde seither mehrfach korrigiert. Quelle: Wikipedia.
Liebe Grüße,
Olympe
P.S. ich werde mir die anderen Teile auch durchlesen und sicher auch kritisieren.

Pentzw
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Re: Der Tod Kritikerin - Kennenlernen 7. Teil

Beitragvon Pentzw » 04.06.2012, 10:52

Olympe Lully hat geschrieben:Hallo,

Das erste was mir auffiel war der Name "Der Tod Kritikerin". Komisch - welcher ernst ernst zunehmende Schreiberling, macht in der Überschrift einen derart groben Fehler? Irgendwann kam mir der Gedanke, dass du für die Überschrift bewusst den Dativ verwendet hast. Das zweite ist natürlich "Tod Kritikerin" - was ist das denn? Eine Frau, die den Tod kritisiert? Eine besonders schlimme Kritikerin wie der "Todfeind" ein besonders verhasster Feind ist? Es macht neugierig. Da ich leider immer noch nicht herausgefunden habe, was sie ist, kann ich mich natürlich irren, aber ich würde sie entweder "Tod-Kritikerin" oder "Todkritikerin" schreiben. Wie auch immer, der Titel ist interessant gewählt und macht neugierig.

lach, war ein mißgeschick, aber ich muss mal nachdenken, ob das okay wäre, wenn es denn die neugierde hervorruft.

Beim Beschreiben hast du dich aber in kleine Widersprüche verrannt. Henna ist soweit ich weiß, nicht so grell.

aber es gibt doch frauen mit extrem roten haaren, feuerrot, fast schon umbran-rot, ist das nicht henna und wenn nicht, was dann?

Der Körper selbst war in dezentestem, buntesten und edelsten Kleidern verborgen. - Bunt und dezent beißt sich. :D

ja, stimmt.

P.S. ich werde mir die anderen Teile auch durchlesen und sicher auch kritisieren.

würde mich freuen

und die bemerkung zum therapeuten muss ich nochmals durchdenken

merci

wp


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