In einem anderen Land – Hommage an Ernest Hemingway

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Pentzw
Kalliope
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In einem anderen Land – Hommage an Ernest Hemingway

Beitragvon Pentzw » 25.10.2012, 18:42

Im Auto

Einer dieser verregneten, trüben Tage. Irgendwo tief in den französischen Alpen. Hohe Berge. Wolkenumhangen. Nebel und Regen. Inmitten einer verfallen wirkenden Stadt.
Ich öffnete den Autoschlag an meiner Seite. Entgeistert starrten wir auf den stürmisch herab prasselnden Regen. Schauer zogen über die Straßenfläche hinweg wie Vorhänge, die auf- und zugezogen wurden. Dicke Pfützen hatten sich in den unebenen Straßenbelag gebildet. In der Regengosse sturmflutete das Wasser entlang des Bürgersteigs hinab. Aus der Kanalisation röchelte es gurgelnd.
Ich hielt die Hand nach unten ins Freie hinaus. Mit einem malizinösen Lächeln kommentierte ich stumm die Reaktion: lustig zersplitterten Regentropfen auf dem Hand.
Schnecke beugte sich vor, als könne sie es nicht fassen: „Sauwetter!“
„Das kannst Du laut sagen!“
„Geh Du da hinaus!“, scherzte ich. „Und hol Kaffee für uns.“
Ein wenig amuster Blick traf mich.
„Sagte der Geliebte zum Liebhaber und…“ Ins Reich der Romanze wollte ich meine Aussage nihilieren, indem ich unseren imaginären Roman mit einer weiteren Facette bereicherte.
Ihr Blick hellte sich wieder auf.
„Äh, in diesem Fall können wir das niemanden zumuten.“
„Angesichts Deiner nassen Kleider kaum.“
„Du meinst, die Polsterung des Beifahrersitzes wird pitschnass sein und das ist nicht gut für das Auto.“
„Genau, ich will keine Sauerei haben heute. Sauerei haben wir schon genug.“
Hierunter, unter diesem Schimpfwort, war natürlich der Regen zu verstehen, der, wenn er nicht ins Auto drang, so doch eine schwül-nasse Atmosphäre darin produzierte. Das wenigste waren die grau beschlagenen Heck- und Frontscheiben. Unaufhörlich trommelndes Regengeräusch machte depressiv auf Dauer.
Wir lachten und kicherten grundlos. Zumute war uns dazu überhaupt nicht.
Zu warten, dass sich in der nächsten Viertelstunde ein Umschwung einstellte, wäre hirnverbohrt gewesen. Ich erwog unausgesprochen ein baldiges Suchen der Weite. Nur Drängen wollte ich nicht. Zum einen waren meine Glieder wie steif gefroren, klamm leicht unterkühlt. Ein Teil davon war noch gar nicht aufgewacht. Wir hatten wieder einmal unser Zelt mehr abgerissen, denn abgebaut, nicht gefrühstückt und sehnten uns nach einem heißen Kaffe in einem trockenen, gemütlichen Alt-Stil-Café à la Francais. Ein schnuckeligen Cafés hatte uns gerade zugewinkt, als wir daran vorbeifuhren, leider jedoch in dessen Nähe keine Parkmöglichkeit gefunden.
Das waren die Faktoren: Trübsinn und Noch-nicht-Gefrühstückt-Haben, so dass wir nur an eins dachten: Kaffee. Und der hielt uns immer noch hier fest, wartend.
Vor uns lag der Weg zum Glück. Keine Hundertmeter lang. Nicht einmal einen Schirm hatten wir. Die schüttenden Kübel Wasser von oben herab hätten jedes Gestell eh sofort zerstört. So gesehen war der Weg vom Parkplatz bis zum nächsten Café kein Katzensprung mehr. Was tun? Je länger wir warteten, umso abgefuckter fühlten wir uns. Und das im Urlaub!

Wir hatten uns nicht gekämpft durch Regen und Nebel. Es erschien wie ein Kampf um Leben und Langeweile. Wieso fällt mir diese Redewendung hierzu ein? Egal. Das Leben hatten wir verloren, schien mir. Dafür saßen wir mit unserer Langeweile in dieser Blechkiste statt im edlen, stilvollen Etablisement und quälten uns weiterhin: mithilfe vielem Mucke-Fuck, allerdings selbstgebrauten. Wir machten uns nämlich den „Kaffee“ einfachhalber im Kistenwagen. Gratulation – zwar, unser Gesöff schmeckte immer schaler, je länger es in der Thermosflasche vergor, das ja, aber wir waren nicht nass geworden. Ich wenigstens tat so, als könnten wir jubilieren, dass wir es geschafft hatten, dem Regen getrotzt, indem wir uns sich ihm nicht ausgesetzt und uns selbst ein Lebenselixier gebraut hatten. Trotzdem, es gab einfach nichts gegen einen frisch aufgebrühten Echten, in einem anständigen, schicken Cafè. Aber der Weg dorthin war uns versperrt gewesen. Dafür mussten wir nun büßen: schaler, kalter Chicorée-Kaffee. Kann sich einer etwas Beschisseneres vorstellen?

Wie hieß nochmals diese Stadt, fragte ich Schnecke, als wir wieder on the road waren und die braune Kloake hinunterwürgten: Sankt Claude oder so ähnlich. Miststadt, dass es erst dort regnen musste, als wir einen Kaffee am nötigsten hatten. Von Heiligkeit alles andere als die Rede.
Gibt es eine einzige Stadt bei uns, die den Namen eines Heiligen ziert? Glaube nicht. Wie ließ sich nur das in Einklang bringen, was du über dieses Land weißt? Die hatte einmal eine richtige Revolution, keine samtene wie wir. Mit Kopf kürzer machen und so. Nonnen fielen darunter, mit der Begründung: „Weil ihr solch hirnverbrannte Rituale zelebriert.“ Und dann nennen sie eine Stadt nach einem Heiligen. Die spinnen, die Franzosen.
Ich war richtiggehend stinkig auf dieses St. Claude. Dabei konnte sie nichts dafür, dass gerade hier der Himmel seine Schleusen öffnete. Oder doch? Nomen sunt Omen? Hat dieser Ort einen besonderen Draht zum Himmel wegen seines Namens? Lächerlicher Gedanke. Aber irgendetwas oder irgendwer musste als Prügelknabe herhalten.
Aber die Reise ging wenigstens weiter. Sehe es so, sagte ich mir, säßen wir dort in einem Cafè, tränken wir zwar frischen Kaffee, aber wären nicht hier, wo wir jetzt waren, ein Stück weiter voran um diese runde Welt, diese verkorkste.
(Übrigens, den Vogel schoss noch lange nicht dieses Land ab. Ach, was war ich da noch so etwas von unwissend und ahnungslos!)

Am Zeltplatz

Nachts im Zelt, das wir unter größten Mühen im strömenden Regen aufgebaut hatten, trommelte derselbe auf uns herab wie sämtliche afrikanische Bongos. Als ich meine Reisegefährtin umschlingen wollte, sagte sie: „Nicht so stürmisch!“ „Entschuldigung, bei dem Wetter!“ Sie ließ nicht locker. „Wir sind schon nass bis unter die Haut!“ „Dann ist es eh schon egal!“ Sie kicherte darüber, ganz Vollweib, das weich wird, wenn man aufs Ganze geht. Dann machte ich es auf die sanfte Tour. Geht auch. So konnten wir wenigstens bald einschlafen unter lautem Getrommle.

Meine Partnerin gesteht mir, dass sie froh sei, mit mir, einem männlichen Reisegefährten, unterwegs zu sein. „Bei den vielen Männern auf diesem Zeltplatz hier.“ Sie ergänzt und schränkt ihre Aussage folgendermaßen ein: „Wie sind zwar nicht der Hit auf diesem Zeltplatz...“ Ich sage: „Du vielleicht nicht...“
Alles an uns war nass: die Kleider, das Zelt und das Auto. Dass mittlerweile die Sonne herausgekrochen war, ließ die Dinge widerwärtig an unserem Körpern haftend, klebrig und stockig anfühlen. Niemand wurde von diesem Anblick magnetisch angezogen. Der Abstand, wir zu ihnen und umgekehrt, war nachvollziehbar.
Dann erzählt sie mir von ihrem letzten Trip.
Stell Dir vor, du bist allein, in einem fremden Land, auf einem Zeltplatz, fern von Heimat und Muttersprache. Überall herum sind fremde Menschen mit fremden Zungen etwas sprechend, was du nicht verstehst. Selbst wenn Du um Hilfe schreist, musst du befürchten, werden sie dich nicht verstehen. Werden gar denken, es handele sich um Schreie der Lust und sie werden kopfschüttelnd über diese schamlosen Ausländerin sich abwenden.
Der Gedanke schnürt dir die Kehle zu.
Mutterseelenallein bist du zwar nicht, eine Freundin begleitet dich. Aber oje, sie scheint die Situation zu verkennen, nimmt es auf die leichte Schulter, vielleicht, weil sie naiv ist.
Deine Kehle schnürt sich noch ein Jota weiter zu.
Also, das ist die Lage: zwei Frauen, in einem kleinen Zelt, umgeben von vielen jungen Männern! Von fast nur jungen Männern. Die anderen in der verschwindenden Minderheit können zudem deine Sprache nicht verstehen. Du bist Ihnen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.
Die imaginäre Schlinge um deinen Hals zieht sich nunmehr schmerzhaft zu. Schon ringst du nach Atem.
Jetzt liegst du im Zelt. Der Mond spendet Licht. Unter diesen Umständen ist es selbst für ungeübte Mörder, Verbrecher und Vergewaltiger ein Leichtes, sich unerkannt über den Zeltplatz anzuschleichen, von einem Baumstamm und zum anderen springend.
Über dem Zelthimmel huschen die sich wiegenden Baumwipfeln sowie das Geäst wie bei einem hektischen Schattenspiel. Verdammt, das ist kein Spiel. Obwohl die Blätter obendrein ein unterhaltsames, bei näherem Hinhören allerdings schauriges Klangspiel vollführen.
Was, wenn jetzt einige dieser Kerle mit scharfen Messern unsere Zelte aufschlitzten, zur Mitternachtszeit, wenn wir längst selig schlummern, vielmehr gerne schlafen wollen, wie jetzt… Da, ein Schatten, die unverkennbare Gestalt eines Menschenkopfes ist über den Zelthimmel gehuscht. Er hat sich bestimmt jetzt geduckt, in den Füßen eingeknickt, wie das Indianer machen, wenn sie sich kleinstellen, aber immer noch sprungbereit sein wollen. Nur noch eine Frage von Sekunden, wer zuerst aufspringt. Das aber kann lebensentscheidend sein und manchmal, wie hier, ist Angriff die beste Verteidigung.
„Ich sprang aus dem Zelt, öffnete den Schlag unseres Autos und klemmte mich angstschlotternd hinter das Steuer, bereit jederzeit verbissen auf die Hube zu drücken, sollten die Vergewaltiger über mich herfallen. Ich sag Dir, ich hatte selten solche Angst in meinem Leben!“
Ich unterdrückte ein Gähnen, um nicht unhöflich zu erscheinen.
„Wie lange warst Du in der Blechkisten eingesperrt?“ Ich implizierte schlicht, dass sie sich in ihrer Torheit auch noch selbst eingesperrt hatte.
„Bis die Angst wieder verflogen war... Natürlich die ganze Nacht!“
Ich musste mich beherrschen, um nicht aufzulachen.
„Bist du wenigstens darüber eingeschlafen?“ Ein bisschen Ironie schadete nicht. Wer so dumm war, verdiente nichts besseres.
„Wo denkst Du hin?“
Schnecke, das will ich dir lieber nicht auf die Nase binden, denke ich amüsiert und verstecke mein Schmunzeln hinter einer zum Mund geführten Tasse.
„Und Deine Begleiterin, selig geschlafen wie ein Murmeltier unterdessen?“
„Ja“, kleinlaut.
Ich hätte wirklich nur voll herausprusten mögen, egal, die vorgehaltene Tasse dabei zersprang. Wer sich so standhaft weigerte, die Sprache seines Urlauslandes selbst nur oberflächlich zu lernen, verdiente es so.


In noch einem anderen Land

Das Wetter war uns günstig mittlerweile. Andere Umstände weniger. Die von Menschen verbrochenen nämlich. Denn plötzlich hatte sich alles um 100 Prozent verteuert. Die Folge: dass wir uns nunmehr keinen Kaffee mehr leisten konnten. Trotz des Regens! Ich kriegte mich schier nicht mehr ein. Waren wir auf einem anderen Planeten gelandet? Meine Begleiterin klärte mich auf, das hier war die Schweiz. Schweiz, Schweiz: Namen, nichts als Namen! Dann begann ich nachzudenken. Es gab Länder, die waren erheblich reicher als andere. Cool. Vielmehr Mist. Was sollte ich davon halten? Meine Gefährtin, das erste Mal, dass sie sich mir gegenüber überlegen fühlte, schmunzelte immerfort.

Ich kriegte diesen Namen „Schweiz“ nicht aus dem Kopf. Musste es solche Unterschiede auf unserem Planeten geben? Da stank zum Himmel, Kuhmist. Die „Schweiz“, was immer das sein sollte und hinter sich vereinte, war eine andere Welt. Interessant.
Meine Begleiterin klärte mich auf. „Hier gehen die Uhren anders, aber richtig!!“ Mir dämmerte allmählich, wie die Zusammenhänge waren, Kuhmist.
„Entweder, Du bist als Schweizer geboren, oder du stellst es besonders clever an und kannst dir die Schweiz leisten.“ Besonders clever anstellen – diese Formulierung stiftete viel Unruhe in mir. Was hieß dies?, verdamm mich. Was sollte übrigens dieser Belehrungston: sie lächelte immerfort so undurchdringlich wissend. Meine Nervosität machte einen Satz nach oben.

„Der Herr gab uns Wein, aber kein Brot!“ Hohe Priesterin des Orakels von Delphi hatte sich geoutet. Die Augen waren unnatürlich geweidet und sahen in der Ferne apokalyptische Reiter aufmarschieren. Mir verschlug es den Appetit. Doch der Hunger war stärker. Ein fahler Geschmack blieb zurück. Zu allem Überdruss, der „Istanbul“-Wirt gab kein Wechselgeld heraus. Sei so üblich hier in Genf. Widerlegen konnten wir ihn nicht mangels Vergleichsmöglichkeit, hatten wir doch schließlich nirgendwo hier etwas gekauft. Ich kochte: um zwei Euro geprellt. Daheim hätte ich dafür einen Döner gekriegt. Zu schwach zum Protestieren. (Zuhause führte mein erster Weg zum Dönerimbiss. Ich freute mich wie ein Kind über das Preisschild. 2 Euro ein Döner. Doch gekauft habe ich mir keinen. Seitdem übrigens noch nicht. Kann mir das einer erklären? Als ich übrigen nach Hause ging, kam ich an einem anderen Imbiss vorbei. Dem musste ich noch einen bezahlen. Er würde lange darauf warten müssen. Da ist mir political correctness oder wie das hieß schnurzegal. Gerechtigkeit muss sein!)

Schlagartig erinnerte mich das teure Pflaster hier an New York. Penner, Obdachlose, Alkoholiker drückten sich die Nase platt vor den dicken Scheiben der Pubs, in denen feixende Herrchen mit schwarzen Schlips auf weißem Hemden und schwarzen Hosen zähneweiß funkelnden. Hier beobachtete ich sie in den feinen Restaurants und auf den Straßen auf den Cafestühlen. Ich fühlte mich nicht existent durch ihre Blicke, die durch mich hindurchgingen. Ich drängte darauf, schnellstens zu verschwinden. Über die Grenze nach dem anderen, billigeren Ramsch-Euro-Land.

Meine Partnerin brauchte kaum etwas zu essen. Das konnte nur mit dem Teufel zugehen! Ich wurde vom Hunger geplagt, getrieben und spähte wie ein Habicht nach billigen Preisschildern aus, wohingegen sie sich ausschließlich an den Sehenswürdigkeiten gütlich hielt. Dabei unterdrückte ständig der dunkle Schatten eines Mitleidsblicks mich Schwächling und Getriebenen, der gleich einem schwebendem Greifvogel, über allem seine Kreise ziehend, nach einem schwachen Mäuschen Ausschau hielt - gleichzeitig aber der Mittelpunkt in einem Zielfernrohr war.
Doch konnte ich nicht anders, als Preisvergleiche herzustellen. Getrieben wie eine Raubkatze, schlich ich um jedes Restaurant, Cafe und Essenslokal, Ausschau haltend nach leichter Beute. Sie dagegen entzückte sich, zu ihrem Glück, stumm an anderen Dingen. Selbst auf einen billigen Döner verzichtete sich ungerührt. Ich begann sie aus den Augenwinkeln heraus zu beobachten: biss sie nicht die Zähne zusammen wie ich? Als wären wir in einem stinknormalen Urlaub, lief sie entzückt angelockt von einer Schaufensteranlage zur anderen. Ich hasste das freudige Augenglänzen eines unschuldigen Kindes. Wie stark diese Frau sein konnte! Wie jämmerlich schwach ich war!

Den Todesstoß versetzte sie mir am Tage unserer Abreise aus diesem überteuerten Land. „Mir ist aufgefallen, dass du in letzter Zeit weniger coole Sprüche loslässt!“ Wir waren dabei, bald die imaginäre Grenze zu überqueren. Ich machte einen verhaltenen Schluck von dem lauen Getreidekaffee aus der Frischhalteflasche.
Mir fiel dazu nichts ein. Es war richtig. Einfach stimmte es. Schlichtweg. Jetzt eben auch!
Mein Blick fiel in den Spiegel auf der Sonnenschutzblende einige Zentimeter über mir. Angewidert verzog ich den Mund darin.
Karikaturisten hätten die wahrste Freunde an diesem Bild gehabt.
Die Karikatur eines üblen Spottgesichtes im Spiegel war ich.
Das verbarg sich also hinter dem Namen „Schweiz“.

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