Buchvorstellung: Smaragdstern (Leseprobe)

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Cheerio
Kerberos
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Buchvorstellung: Smaragdstern (Leseprobe)

Beitragvon Cheerio » 20.11.2012, 22:38

Verflucht

Die nächsten Jahre meines Lebens stellten sich als sehr schwierig heraus. Nicht nur, dass ich mich unter meinesgleichen wie eine Fremde fühlte, da <meinesgleichen> in diesem Fall Werwölfe oder Menschen waren. Nein, es gab auch noch ein anderes klitzekleines Problem. Naja, klitzeklein sage ich nur, um die Sache nicht noch schlimmer zu machen, als sie sowieso schon war. Die Liebe kann Dinge anrichten, die man nie versteht. Die Liebe kann aber auch wie in meinem Fall zum Staatsfeind Nr.1 werden, wenn ein Liebespaar ein illegales Kind gebärt. Ja, in meiner Welt gab es illegale Kinder. Und ich, war das einzige, was nicht nur existierte, sondern dummerweise auch leider noch aufgespürt wurde…

Es war ein heißer Sommertag. Wir machten einen kleinen Ausflug zu unserem Lieblingswald im Vogelsberg. Ich mochte diesen Wald besonders; warum wusste ich nicht. Ich fühlte mich einfach frei in diesem Wald. Der Wald fühlte sich richtig an. Es war ein paar Monate nach meinem Sechsjährigen Geburtstag; ich sollte bald eingeschult werden. Doch ein wunderschöner Sommertag, der nicht zu schwül war, konnte auch täuschen. Denn dieser Sommertag bedeutete für mich den Todesstoß.
„Wartet auf mich!“, rief ich meinen Eltern zu. Sie hatten einen ganzen Schritt zugelegt. Es sollte nämlich bald dämmern. Und ich hatte die Tage fleißig mitgezählt und wusste, dass ich heute wieder einmal diesen komischen Traum haben würde.

Damals verstand ich noch nicht ganz, warum diese Dinge passierten. Damals, ja, damals. Die unbeschwerte Kindheit. Ich lachte viel und fühlte mich frei, trotz der Dinge, die immer passierten, wenn sich der Vollmond zeigte. Ich wusste jedes Mal nicht, wie mir geschah. Es fühlte sich jedes Mal an, als würde ich träumen. Mein Körper machte Dinge, die mein Verstand ihm nicht befahl.

„Komm, wir müssen nach Hause.“, befahl mein Vater brummig. „Du weißt doch, welcher Tag heute ist, oder?“
Ich beschleunigte meinen Schritt. Es war so schwer mit so großen Menschen mitzuhalten. Wenn sie einen Schritt taten, brauchte ich immerhin zwei, um die gleiche Strecke wie sie zurückzulegen. Ich war relativ schmal, hatte aber ein rundes Gesicht und die typischen <Pausbäckchen>. Meine Haare waren dunkelbraun und sehr, sehr lang. Um genau zu sein, gingen mir meine Haare mittlerweile schon bis zu meinem Po.
Meine Eltern verstanden nicht ganz, warum ich sie nicht einmal schneiden lassen wollte, selbst wenn es nur für ein paar Zentimeter war. Doch ich fing jedes Mal an das große Geheule zu starten, wenn ich mit zum Friseur musste. Das Endergebnis war immer das Gleiche: Einer meiner Eltern hatten ein paar Haare verloren und ich meine Würde für einen kurzen Moment; meine Haare aber durfte ich behalten und für sie war mir meine Würde vollkommen egal. Aber wer hatte als kleines Kind schon Würde? Geschweige denn, dass das Kind wusste, was es mit dieser sogenannten <Würde> anstellen sollte.

Meine Augen jedoch waren immer gleich: Schwarze Löcher. Doch so konnte ich nicht auf die Straße gehen, geschweige denn in einen Kindergarten. Ich hatte lediglich einen einzigen Tag im Kindergarten verbracht und stand am Ende mit einer kaputten Sonnenbrille da. Vor drei Jahren war bei diesem einen Tag meine Mutter dabei gewesen und ließ mich nie wieder hin. Es war zu gefährlich; das Risiko war einfach zu hoch, dass eine der Betreuerinnen ein magisches Wesen war und mich erkannte. Die Sonnenbrille musste ich jedes Mal aufsetzen, sobald ich mich der menschlichen Welt offenbarte. Meine Augen waren nicht überempfindlich oder ließen mich wie einen Maulwurf durch die Gegend stapfen. Ganz im Gegenteil: Ich konnte sowohl tagsüber als auch nachts alles perfekt sehen. Jedes einzelne Detail, jeden Umriss; sogar Farben konnte ich nachts ausmachen. Nur als Kind hatte man die lästige Angewohnheit alles und jeden anzustarren und sobald ein magisches Wesen mir direkt in die Augen schauen würde, würde dieses Wesen meine gespaltene Aura sehen können: Das perfekte Indiz dafür, dass ich nicht ganz normal war. Um meinen Geruch zu überdecken, verwendete meine Mutter einfach immer so viel Parfüm, sodass dieser Geruch zumindest bis zum nächsten Tag anhielt. Den Sinn für all das, erfuhr ich dennoch erst ein wenig später. Dennoch freute ich mich sehr über diese Sonnenbrille, die nicht zuließ, dass ich meine Augen ständig sehen musste – und zwar in allem, was mich spiegelte. Es gab ja genug dunkle Autofenster! Und meine Augen waren alles andere als schön. Sie waren gruselig. So gruselig, dass ich mich nicht einmal traute in den Spiegel zu schauen, weil ich mich jedes Mal erschrak. Ich erschrak mich meistens so sehr, dass ich einfach anfing zu weinen. Ich wollte nie glauben, dass ich diejenige mit diesen Augen war. Ein weiterer Grund, warum ich selbst heutzutage mit meinen Neunzehn Jahren nur sehr selten in den Spiegel blickte, war, – in meinem Zimmer hing kein einziger Spiegel – dass ich darin nur ein Monster sah und nicht mich selbst. Ein Monster, das verachtend und hässlich war. Doch diese Augen jedoch waren bei Weitem nicht mein einziges Problem. Ganz sicher nicht!

„Ja, ja… ich weiß.“, nörgelte ich und verdrehte meine Augen. „Aber es wird doch erst in ein paar Stunden dunkel. Menno, ich will aber noch hier bleiben. Mama? Wieso können wir nicht noch hier bleiben? Wieso nicht? Wie–“
„Schnauze!“, meine Mutter hatte sich binnen einer Sekunde umgedreht und schimpfte mit mir. „Du weißt ganz genau, dass wir noch zu Abend essen, bevor du wieder diesen Traum hast. Also, hör endlich auf zu jammern! Das darf ja nicht wahr sein! Du bist ja schlimmer als ein Mädchen.“

Das war allerdings wahr! Denn ein normales Mädchen, wie meine Mutter es beschrieb, war ich bei Weitem nicht. Ich war die volle Breitseite. Ich hatte als Kind keine einzige Nacht durchgemacht bis zu meinem Fünften Lebensjahr. Ich konnte meine Eltern schon mal zur Weißglut bringen.

Meine Mutter hielt mir trotz dessen, dass sie mich angeschrien hatte, ihre Hand hin. Widerwillig nahm ich sie und ließ mich mehr oder weniger von ihr mitziehen.

Meine Mutter. Stefania Lupus. Ich wusste nicht, wie ihr ursprünglicher Mädchenname war, aber das war ja auch eigentlich relativ egal. Was jedoch weniger egal war, war die Tatsache, dass unsere Beziehung eher eine Hassliebe war. Meine Mutter und ich verstanden uns nie wirklich. Wir stritten uns sehr häufig und dennoch liebten wir uns. Ich wusste nicht warum, aber ich wollte und konnte einfach nicht ohne sie leben. Lieber hatte ich eine Mutter, die mich verachtete, beschimpfte und sonstiges tat, als überhaupt keine Mutter zu haben. Denn sie hatte auch ihre guten Seiten. Sie sorgte immer dafür, dass es mir an nichts fehlte. Und sollte mir jemand auch nur ein Haar krümmen, würde ich jede Wette eingehen, dass meine Mutter in diesem Fall urplötzlich zum Werwolf werden würde. Im übertragenen Sinne natürlich. Wenn etwas Schlimmes passiert war, weinten wir sogar gemeinsam und versuchten uns gegenseitig aufzumuntern. Ja, dieses ständige Hin und Her hatte mich schon ein paar einsame und traurige Nächte gekostet. Denn wie konnte man jemanden hassen, den man liebte? Für manche war es nachvollziehbar, für andere eher weniger. Meine Mutter war ein wichtiger Bestandteil meines Leben und trotz dessen, dass ich sie manchmal einfach nur verachtete, wusste ich nicht, was ich tun würde, sobald es sie nicht mehr gab. Würde es mich zerstören? Würde es mich befreien? Würde ich überhaupt noch leben wollen?
Die Beziehung zu meinem Vater hingegen war ganz anders. Er liebte mich. Ich wusste, dass meine Mutter mich auch liebte, aber so sehr wie mein Vater es mir zeigte, tat sie es nicht. Er war immer da. Ich war schon immer <Papas Liebling>; schlief als Baby immer auf seinem großen Bauch. Thassillo Lupus war sehr groß und sehr kräftig. Allerdings wirkte er auch relativ massig, aber dennoch sah es so aus, als wären es zu sechzig Prozent nur Muskeln. Seine Haare waren kurz und schwarz; und an manchen Tagen ließ er seinen Bart auch mal <Bart> sein. Ich liebte meinen Vater, auch wenn er ein Morgenmuffel war. Ich war ihm nicht nur wie aus dem Gesicht geschnitten, selbst unsere Art und unser Verhalten waren exakt gleich. Bei mir gab es dennoch ein paar Aussetzer, die vermutlich aber auf das vererbte Temperament meiner Mutter zurückzuführen waren. Wenn ich schon so abhängig von meiner Mutter war, wollte ich erst gar nicht darüber nachdenken, was wäre, wenn…

An diesem heißen Juni war meine Mutter mittlerweile im 7. Monat schwanger. Wir erwarteten alle einen Jungen. Ich erwartete jemanden, der mich am besten verstehen konnte.

Doch wie der Zufall es so wollte, würde ich das einzige Bastardwesen in dieser Familie bleiben; denn mein Bruder war durch und durch ein Mensch. Er hatte nicht einmal die Augen meines Vaters vererbt bekommen. Er sah ihm aber äußerlich so ähnlich, wie eine exakte Kopie von ihm. Und vom Charakter her war er nicht wie meine Mutter: Er war schlimmer. Obwohl er sechs Jahre jünger war als ich, versuchte er alles, um mir mein Leben zu erschweren. Natürlich durfte ich meine Stärke eines Schattenbluts nie ausnutzen, sobald ich wusste, was ich damit anfangen konnte. Er war ja ein <Ach, so schwacher Mensch!> und wenn ich ihm etwas antun würde, wäre das viel, viel schlimmer als das, was er mir antun könnte. Ich konnte meinen Bruder noch nie leiden. Halt! Doch. Ich konnte es einmal. Ich liebte ihn sogar. Aber das war lange her. Das war bevor er begriff. Das war, bevor er mir für all das die Schuld gab. Die Schuld dafür, dass er wegen mir dieses Leben führte, obwohl er als Mensch ein ganz normales Leben führen konnte, würde ich nicht existieren. Es war nicht fair. Aber was war an diesem Leben schon fair? Was war daran fair, sich manchmal als Adoptivkind zu fühlen, obwohl man trotzdem die gleichen Gene hatte?

Eine kühle Brise wirbelte um mein weißes Kleid, das mit aufgenähten Rosenblüten verziert war. Auch durch mein langes Haar fegte der Wind und ließ mich kurzerhand nur Haare sehen. Ich sah nicht, wo ich hintrat und stolperte natürlich über etwas, was sich im Nachhinein als einen Stein herausstellte. Prompt landete ich der Länge nach auf dem Boden: Mein Lieblingskleid war ruiniert. Und nicht nur das: Meine Brille war weg!
„Komm! Da vorne ist schon das Auto, mein Schatz!“, hörte ich meine Mutter sagen. Wie schnell sie ihren Gemütszustand wechseln konnte; das war seit ihrer Schwangerschaft noch extremer geworden. Aber es war verständlich – sie war immerhin schwanger.
„Bäh!“, ich spuckte Staub und Erde. Langsam stand ich auf und sah an mir herunter. Mein Kleid war zwar ruiniert, aber ich hatte keinen einzigen Kratzer davongetragen, dennoch wollte ich meine Sonnenbrille wieder haben. Ich sah mich um und versuchte sie zu finden. Nach ein paar verwirrten Sekunden konnte ich sie ausmachen. Komischerweise lag sie mitten in einem Gebüsch. Sie war bei meinem Sturz ziemlich weit geflogen.
„Warte, Mama! Ich muss noch meine Sonnenbrille holen.“, ich lief so schnell, wie mich meine zwei Beine tragen konnten, nachdem ich den Dreck ein wenig von meinem Kleid abgeklopft hatte.
„Beeil dich, Liebling!“, rief mir meine Mutter hinterher. „Wir laufen schon mal zum Auto.“
Ich wusste zwar, dass meine Sonnenbrille weit gelandet war, aber so weit? Ich war in einem Abschnitt des Waldes gelandet, an dem ich zuvor noch nie war. Und meine Familie und ich besuchten wirklich sehr oft diesen Wald.
Wo bin ich?
Meine Sonnenbrille hatte ich schon vergessen. Die Neugier siegte. Vor meinen Füßen verlief ein leichter Trampelpfad. Ich wusste, dass ich es nicht durfte und hätte ich gewusst, was für schlimme Auswirkungen mein kleiner <Ausflug> wirklich hatte, hätte ich an dieser Stelle auf dem Absatz kehrt gemacht und wäre
schreiend weggerannt. Doch ich konnte nicht einmal zaubern. In die Zukunft sehen schon gar nicht. Was machte ich also? Ich lief natürlich entlang des Trampelpfads in die Arme meines zukünftigen Schicksals: In eine gejagte Zukunft.
Vorsichtig kämpfte ich mich durch diverse Büsche und landete letztendlich auf einer Lichtung.
„Mhh…“, machte ich. „Und dafür bin ich jetzt so weit gelaufen? Für eine Lichtung? So etwas sehe ich doch jedes Mal in diesem komischen Traum. Menno! Wie langweilig!“
Empört kehrte ich um und wollte gerade zurück zu meinen Eltern stapfen, als ich eine seltsam, aber dennoch wunderschön klingende Stimme hörte: „Ach, wie süß! Ein kleines Menschenmädchen.“
Vermutlich war es eine alte Dame, die sich, genau wie ich, hierher verlaufen hatte. Ich wollte
dennoch so freundlich sein und ihr wenigstens ein Lächeln zeigen – ich dachte nicht eine einzige Sekunde daran, dass ich meine Sonnenbrille nicht auf hatte -, bevor ich dann von hier verschwand und drehte mich um. Doch was ich dann zu Gesicht bekam, war das Schönste, was ich je in meinem Leben gesehen hatte. Aufgrund meiner Augen erkannte ich magische Wesen sofort. Sie hatte wunderschöne dunkelblaue, glitzernde Schmetterlingsflügel und eine atemberaubende Ausstrahlung. Ihre Figur war perfekt; ihre braunschwarzen Haare waren zu einer einzigen großen Locke gedreht und umrandeten perfekt das formvollendete Gesicht. Ein leuchtend grünes Auge mit goldenen Sprenkeln und ein leuchtend blaues Auge mit silbernen Sprenkeln saßen in einer perfekten Symmetrie zu ihrer Nase und ihrem Mund in ihrem Gesicht. Selbst ihre Kleidung war einfach perfekt auf sie abgestimmt: Es war ein bodenlanges, schwarzes Kleid, bei dem man eine Schulter frei sehen konnte.
Ich bekam meinen Mund nicht mehr zu. Das Staunen über ihre Schönheit konnte ich nicht unterdrücken. Doch eines ließ mich stutzen: Ihre Mimik. Ihrem Satz nach zu urteilen, musste sie gelächelt haben, als sie mich ansprach. Doch jetzt sah sie mich mit einemmGesichtsausdruck an, der ihr ganzes hübsches Gesicht vollkommen verzerrte. Sie hatte die Augen weit aufgerissen und sah mich so an, als hätte sie gerade ein Monster gesehen. Langsam hob sie ihren rechten Arm und streckte ihn in meine Richtung. Mit dem Zeigefinger zeigte sie nun auf mich. Ihr ganzer Körper zitterte leicht, während sie sprach: „DU! Das… darf… nicht… wahr… sein!“, sie holte kurz Luft, bevor sie weiter redete. „Du… du… du hast eine geteilte Aura. Du bist Mensch und Basilisk zugleich. Du darfst nicht sein! Du bringst Unheil! Du bringst das Gleichgewicht der Welt zum Einsturz. DU! Du bist ein Bastardwesen.“
„Ich bin was?“, ich verstand die Welt nicht mehr. Was passierte gerade? Zu diesem Zeitpunkt wusste ich nicht, dass ich ein Bastardwesen war. Ich wusste nicht, dass ich gar nicht existieren durfte. Ich wusste nicht, dass ich eigentlich in die Hölle gehörte. Doch bevor ich richtig schalten konnte, stürmte sie auf mich zu. Sie. Was war sie überhaupt für ein Wesen? Ich wusste damals nicht viel über die magischen Wesen.
„Was… was wollen Sie von mir?“, ich schrie auf. Meine Nackenhaare stellten
sich vor Angst auf. Ich wollte fliehen, doch ich konnte nicht. Meine Beine wollten nicht. Sie waren wie die Wurzeln eines Baumes, die sich langsam, aber sicher immer tiefer in die Erde bohrten. Innerhalb weniger Sekunden stand sie vor mir und packte mich sehr unsanft an meinem linken Arm: „Du kommst mit mir! Wir müssen dich vernichten!“
„Was? Nein! Hilfe! HILFE!“, schrie ich nun so laut, wie ich konnte. Sie wollte mich kidnappen und umbringen. Ich konnte es nicht glauben! Die wunderschöne Frau, die vermutlich selbst Kinder hatte, wollte mich umbringen. Aber ich hatte ihr doch nichts angetan. Ich hatte niemandem etwas getan. Warum also wollte sie, dass ich sterbe?
„Sie sind eine kranke Frau!“, schrie ich sie an und spuckte ihr mitten ins Gesicht. Ich trat nach ihr und versuchte ihre Hand durch Kratzen von meinem Oberarm zu entfernen. Doch alle meine Versuche waren vergeblich. Sie ließ mich nicht los. Im Gegenteil: Sie schlug ein paar Mal mit den Flügeln und setzte zum Flug an. Dann hob sie ab. Ich traute mich nicht nach unten zu schauen. Ich wollte lieber nicht wissen, wie hoch wir flogen. Ich traute mich ja nicht einmal vom Ein–Meter–Brett zu springen und jetzt baumelte ich gefährlich hoch in der Luft. Sie könnte mich jeden Moment loslassen. Krampfhaft krallte ich mich an ihrem Arm fest.
Oh Gott, oh Gott, oh Gott! Hilfe! Ich will nicht, dass so etwas passiert. Papa, wo bist du?
Ich wusste nicht, wohin sie mit mir wollte, was sie mit mir vorhatte und was danach folgte. Doch ich wusste eines: Meine Eltern waren hinter ihr her. Ich vernahm sein Brüllen. Für Menschen würde es sich wie ein Wolfsgebrüll anhören, doch magische Wesen wussten, dass es nicht stimmte. Sein Gebrüll war viel intensiver, lauter und vor allem aggressiver. Die Frau stoppte und blieb mitten in der Luft stehen. Ihre Flügel schlugen sehr schnell; vermutlich konnte sie sich so mitten in der Luft halten. Sie drehte sich um und schaute nach unten.
Nichts. Sie sah nichts. Und woher ich das wusste, war, dass ich nun doch meine Augen
öffnete und nach meinem Vater Ausschau hielt.
Wo ist er?
„Ich bin hier! Ich bin hier oben! HILFE! HIL-“, mein Schreien wurde erstickt. Sie schlug mir ihre freie Hand auf den Mund und starrte mich an: „Du wirst mich noch ins Verderben stürzen! Halt deinen Mund, Bastard!“
„Nein!“, murmelte ich etwas unverständlich unter ihrer Hand hervor und ließ immer noch, etwas dumpfe, Schreie aus meiner Kehle hervorkriechen. Genervt verdrehte sie die Augen und wollte gerade weiterfliegen, als sie ein Kopfgroßer Stein mitten in den Rücken traf. Genau an die Stelle zwischen ihren Flügeln. Ein Schmerzensschrei ertönte; sie stürzte zu Boden und ich mit ihr. Ihre Hand hielt meinen Arm so fest, dass sie ihn gar nicht mehr loslassen konnte. Ihre Finger verkrampften sich mehr und mehr, je näher wir dem Boden kamen. Es war nur eine Frage von Millisekunden, bis wir am Boden ankommen würden. Würde ich überleben? Und woher kam dieser riesige Stein?
Ich schloss meine Augen und schrie ein weiteres Mal. Für ein kleines Mädchen
hatte ich verdammt starke Stimmbänder, aber ich war ja kein kleines Mädchen. Ich war ein Schattenblut.
Der Wind streifte scharf meinen Körper und ich spürte, dass ich bald auf dem Boden landen würde. Ich zog meine Beine an und umschloss sie mit meinem freien Arm. Wann würde dieser sich endlos anfühlende Fall endlich enden? Warum musste der Tod so lange auf sich warten lassen? Warum?
Ich landete. Aber nicht, wie erwartet, auf dem harten Waldboden, sondern in den Armen meines Vaters. Und zwar in den Armen meines extrem wütenden Vaters. Diese Frau musste mich mitten im Fall losgelassen haben. Sein Blick galt nur dieser Frau, die mit einem lauten Schlag auf den Boden knallte. Reglos lag sie da.
„Geht es dir gut? Hat sie dir wehgetan?“, meine Mutter sprach mich direkt an; ich sah zu ihr hoch. Sie musste geweint haben. Ihre roten Augen brannten mir in der Seele. Es tat weh, sie leiden zu sehen. Ich wollte nicht, dass meine Eltern wegen mir von nun an in Schwierigkeiten steckten. Und zwar in verdammt großen Schwierigkeiten!
„Mir… ist nichts… passiert, aber… aber… sie wollte mich töten!“, schluchzte ich. Große Tränen kullerten über meine Wangen und wollten nicht aufhören zu laufen. Meine Mutter hielt die Luft an; mein Vater hingegen knurrte: „Ich wusste es doch! Wie konnte sie bloß so lange verborgen bleiben? Kein Mensch hat sie gesehen. Nachtelfen und ihre beschissenen Zauberkünste. Die können hier einfach so herumschwirren und Kinder töten. Aber nicht mit mir!“
Vorsichtig setzte er mich auf dem Boden ab und lief mit langsamen Schritten zu ihr.
„Thassillo, komm! Lass uns von hier verschwinden! Wir müssen von hier weg! Sie ist tot. Lass sie in Ruhe!“, meine Mutter hatte mich mittlerweile bei der Hand genommen und wollte gerade abhauen, als mein Vater die Frau mit seinem Fuß an stupste: „Sie ist ganz bestimmt nicht tot. Ich habe nur dafür gesorgt, dass sie in Zukunft nicht mehr ihre Flügel benutzen kann.“
Ich hörte auf zu weinen und konzentrierte mich nur auf die Frau. Ihr Kopf bewegte sich leicht. Sie stellte rechts und links ihre Arme auf, um sich abzustützen und setzte sich auf. Mit einem vollkommen von blutigen Kratzern übersätes Gesicht starrte sie uns an. Ihr Kleid war vollkommen zerrissen und ihre Haare ein einziges Durcheinander.
„Das werdet ihr mir büßen!“, schrie sie und wollte gerade ein zweites Mal auf mich losgehen, als sie bemerkte, dass ihre Flügel nicht so wollten wie sie. Mein Vater schaute sich ein paar Sekunden das Schauspiel an; bevor sie aufstehen konnte, griff er nach ihrem Kopf und zog ihn ruckartig nach hinten. Ich hörte ein Knacksen, dann ein Reißen. Ein Reißen, was so sich so gruselig anhörte, dass einem das Blut in den Adern gefrieren konnte. Da mein Vater nun die ganze Frau verdeckte, konnte ich nicht erkennen, warum ich dieses unangenehme Reißgeräusch vernahm. Blut spritzte und landete überall. Auf meinem Gesicht, meinem Kleid, vor meine Füße… einfach überall. Meine Augen vergrößerten sich, als ein lebloser Körper wie ein nasser Sack zu Boden sank. Der Kopf wurde daneben geworfen. Mein Vater hatte vor den Augen seiner Familie jemanden umgebracht. Und auch wenn ich erst sechs Jahre alt war, wusste ich, dass das, was er gerade getan hatte, Konsequenzen hatte. Extreme Konsequenzen. Selbst, wenn es nur, in gewisser Weise, Notwehr war.
„Was hast du getan?“, schrie meine Mutter. „Sie werden uns finden! Wir haben es doch jetzt schon schwer genug ohne dass du hier jeden abschlach-“
Binnen weniger Sekunden war mein Vater zu ihr gerannt und hielt ihr den Mund zu. Leise fing er an zu flüstern: „Ich kenne sie. Ich habe schon öfters von ihr gehört. Als ich noch ein kleines Kind war, war sie bereits schon Kaiserin der magischen Insel. Sie wusste, dass es sie gibt. Sie hätte uns ihre Leute auf uns gehetzt und-“
Mein Vater verstummte. Er wechselte zu seinen Werwolfsaugen und suchte den Wald ab. Ich spitzte die Ohren. Vielleicht hatte er ja etwas gehört.
Nein, es war still.
Zu still.
Viel zu still.
Das Blut der fremden Frau, das an mir klebte, war mir relativ egal. Es war viel wichtiger von hier zu verschwinden. Und zwar so zu verschwinden, dass keiner etwas bemerkte.
Schreie. Viele Schreie. Nein, es waren eher Rufe. Ich strengte mich an und versuchte auszumachen, was sie riefen. Sie riefen… Namen. Nein, sie riefen nur einen Namen und es war ihr Name: Susan Reamer.
Mein Vater schaltete schnell, nahm mich und warf mich über die Schulter. Er wies meine Mutter an auf seinen Rücken zu steigen, was sie dann auch tat. Dann rannte er los. Er war sehr schnell, trotz der schweren Last, die er zu tragen hatte. Er achtete sehr darauf nicht auf dem Gehweg zu rennen, sondern nur durch den Wald hindurch. Es durfte kein Mensch sehen, was mein Vater vollbringen konnte. Das würde nur noch mehr unnötige Aufmerksamkeit erregen. Die Stimmen, die für kurze Zeit verebbt waren, kamen nun immer näher. Und sie waren wütend.
„Schnappt sie euch!“, rief jemand.
„Sie haben sie getötet!“, schrie ein anderer.
„Da! Ich sehe ihre Spuren! Hinterher!“, hörte ich eine Frauenstimme sagen.
Mein Vater versuchte einen Zahn zuzulegen, aber ich bemerkte wie ihm langsam die Kraft ausging. Außerdem musste er die Orientierung verloren haben. Das war ihm bisher noch nie passiert. Er musste oft stehen bleiben und sich erst kurz umschauen, bevor er weiter rannte. Keiner von uns Dreien sagte auch nur einen einzigen Ton; bis meine Mutter sich meldete: „Thassillo… bitte… halt an! Ich habe Schmerzen. Ich kann nicht mehr auf deinem Rücken sitzen. Lass gut sein! Wir sind verloren…“
Mein Vater ließ sie sanft herunter, mich setzte er ins Gras. Schnaufend stützte er seine Hände
auf seinen Oberschenkeln ab. Der Schweiß tropfte von seiner Stirn. Dann ließ er sich ins Gras nieder und rieb sich mit zwei Fingern seine Augen: „So eine verdammte Scheiße!“
Die Stimmen rückten immer näher. Nun war es schlussendlich aus. Und das alles nur wegen mir. Nur weil ich zu blöd war, um eine einfache Aufgabe zu
lösen. Ich wollte nur meine Sonnenbrille holen und nicht gleich in den Tod rennen. Was war daran so schwer zu verstehen? Anscheinend wollte und konnte es mein Schicksal einfach nicht kapieren.
„Pssst!“, hörte ich plötzlich ein Geräusch hinter mir. Und nicht nur ich. Selbst meine Mutter vernahm dieses leise Geräusch. Wir drehten uns alle um, doch was wir sahen, war nichts. Leicht verwirrt stand mein Vater auf und ging in Angriffsstellung: „Komm raus und zeig´ dich!“
Aus dem Gebüsch trat ein schwarzer Tiger mit goldenen Streifen. Sonnentiger und Werwölfe
konnten sich bis auf den Tod nicht ausstehen – dies erfuhr ich ebenfalls erst Jahre später -,
dennoch schien der Tiger uns helfen zu wollen.
Die weißen Augen, die ebenfalls an eine Leere erinnerten, richteten sich auf meinen Vater. Der Tiger stand auf allen Vieren und musterte auch meine Mutter, blieb jedoch am längsten an meinen Augen hängen.
„Bleibt genau hier stehen! Ich bin in zwei Minuten wieder da.“, sagte der Tiger mit einer vermutlich eher weiblichen Stimme. Wir starrten alle gebannt zu dem Fleck, an dem der Tiger vorher noch stand. Aber <Tiger> konnte man dieses Monstrum schon gar nicht mehr nennen. Es war mindestens zweimal so groß wie ein normaler Tiger und musste auch um einiges mehr Kraft und Schnelligkeit haben, als ein normales Tierwesen. Außerdem war ihre Aura magisch.
"Was... was ...war...das?“, meine Mutter war drauf und dran einfach davonzulaufen, doch dies im 7. Monat zu tun, würde sich doch eher als sehr schwierig erweisen. Meine Mutter konnte kaum aufstehen und jetzt wollte sie einfach wegrennen? Ausgeschlossen!
„Ich ... glaube... nein…oder doch? War das ein ausgewachsener Sonnentiger?", mein Vater richtete den Blick auf mich. Angst, Besorgnis und auch ein klein wenig Verwirrtheit konnte man in seinem Blick erkennen. Doch seine Gedanken blieben vor mir verschlossen. Ich bemerkte wie sein Gehirn arbeitete, aber worüber dachte er bloß nach?
Einige Minuten später, die aber eher wie eine Ewigkeit wirkten, traten weitere monströse Tiger aus der Dunkelheit.
Noch mehr von diesen großen Tigern? Ich habe…Angst…
Ich schlucke. Doch ich schaffe es nicht, diesen unendlich großen Kloß in meinem Hals zu entfernen. Mein Mund stand weit offen, ebenso meine Augen und ich konnte nicht anders, als einfach die monströsen Tiger anzustarren. Innerlich wollte ich weglaufen, aber irgendeine andere innere Kraft zog mich immer wieder zu Boden. Ließ mich einfach nicht gehen. Wollte mir zeigen, dass ich nicht alleine war mit meinen Problemen. Irgendeine innere Stimme sagte mir, dass diese Tiger unsere letzte Chance sein würden. Meine letzte Chance zu überleben.
Riesige Pfotenabdrücke waren am Waldboden abgebildet. Die Tigerin, die eben verschwunden war, trat vor: „Meine Familie wird die Nachtelfen aufhalten. Ihr Drei folgt mir! Ich bringe euch in Sicherheit.“, sie nickte hinter sich. „Und übrigens: Wir sind Sonnentiger. Und jedes Wesen hat das Recht zu leben.“
Die anderen Tiger bildeten eine Angriffsreihe.
„Ihr solltet euch beeilen.“, brummte der Größte von ihnen und schaute kurz nach hinten. „Sie kommen. Und sie sind sehr schnell. Ich schätze, ihr habt noch ungefähr vier Minuten.“
„Gut. Ich nehme deine Frau auf den Rücken und du schnappst dir deine Tochter.“, richtete der weibliche Tiger das Wort an meinen Vater.
Mein Vater nickte und warf mich unweigerlich über seine Schulter. Meine Mutter hingegen war genauso stur wie ich, nur dass ich gegen meinen Vater keine Chance hatte.
„Ich weigere mich, mich auf so etwas zu setzen!“, sie setzte sich wieder ins Gras und
protestierte. Kopfschüttelnd verschränkte sie ihre Arme. Je näher sie der Geburt kam, desto schlimmer wurden ihre Hormonschwankungen, aber das konnten wir jetzt bestimmt nicht gebrauchen.
Die Tigerin pfiff und eine kleine Fee erschien: „Flora, Sattel! Schnell!“
Auf dem Rücken erschien plötzlich ein Sattel samt Zügel: „Du steigst jetzt auf oder du und dein Menschenkind sind tot!“, brüllte der Tiger.
Ich verstand bis heute nicht, woher sie wusste, dass mein Bruder nicht so sein würde wie ich. Woher sie wusste, dass er ein Mensch reinen Blutes sein würde. Vermutlich spürte sie es einfach. Bei magischen Wesen wusste man nie ganz genau, was sie konnten und was nicht. Was sie spürten und was nicht. Und vor allen Dingen konnte man bei manchen magischen Wesen ebenso wenig wissen welche Gefühle sie für jemanden hegten, der ein Bastardwesen war. Dies sollte ich dennoch in meinen späteren Lebensjahren noch herausfinden. Die Hoffnung auf ein Leben sollte hier noch nicht aufgegeben werden.
„Ich bin nur wegen dem Mädchen hier. Dein Junge ist mir egal. Ich werde dich hier sterben lassen. Aber ich lasse ungern jemanden einfach so sterben.“, fügte sie zischend hinzu. Flehend blickte meine Mutter meinen Vater an. Ich hatte es mittlerweile aufgegeben mich gegen den Griff meines Vaters zu wehren und wartete ab, was nun geschehen würde.
„Thassillo, ich...“, doch bevor meine Mutter auch nur ein weiteres protestierendes Wort sagen konnte, packte mein Vater sie und hievte sie auf den Rücken der Tigerin. Die Tigerin rollte ihre Augen: „Dummes Menschenweib!“, zischte sie und rannte los. Mein Vater Thassilo folgte. Sie war schnell, verdammt schnell. Mein Vater war auch sehr schnell, doch es schien fast so also ob der Tiger zu schnell wäre, selbst für ihn. Schließlich war er nur in Menschengestalt.

Ich wusste, dass mein Vater ein Werwolf war, dennoch wusste ich nicht, was ich war. Vielleicht klingt es komisch, doch im Nachhinein fand ich heraus, dass meine Eltern mich nur hatten schützen wollen. Sie wussten, was meine Geburt für eine Schande war. Ich durfte nicht existieren, aber sie wollten, dass ich das nicht nur tat. Sondern, dass ich richtig leben konnte. Mein Leben leben.

Die Tigerin stoppte nach kurzer Zeit vor ein paar Büschen. Sie blickte sich mehrmals um, vermutlich wollte sie nachschauen, ob uns jemand verfolgte, und schob die Büsche zur Seite. Eine Art Flimmern war auszumachen. Kurze Zeit später sprangen zuerst die Tiger in dieses Flimmern hinein und auch ohne großes Zögern sprangen mein Vater und ich hinterher. Für wenige Sekunden war es stockfinster, sodass uns die Tigerin ein wenig führen musste. Kurze Zeit später war es jedoch wieder hell und ich erblickte ein großes Haus. Es war ein prächtiges, aber doch sehr altes Herrenhaus. Es hatte zwei Stockwerke und die Außenfassade war mal vermutlich ursprünglich weiß gewesen, doch sie ging mittlerweile eher ins grau-weiße über. Das Gartentor und der Zaun um das Haus herum waren in einem silbermetallic gehalten und hatten einige Verzierungen. Die Eingangstür war eine große schöne weiße Tür mit goldener Klinke.
Die Tigerin schabte ein wenig mit ihrer Pfote an der Tür, woraufhin ihr ein Mann öffnete. Er war relativ groß, aber nicht so ein Schrank wie mein Vater; er hatte längeres braunes Haar und trug eine Brille. Der Mann trat beiseite und ließ alle hinein. Nun standen wir inmitten diesem Haus. Der Eingangsflur war sehr groß und hoch. Die Decke war ebenfalls verziert. Vom Flur aus gingen sechs Türen ab. Fast alle waren geöffnet. Meine Mutter sattelte ab, woraufhin der Sattel wieder verschwand. Die Tigerin funkelte uns drei finster an: „Folgt mir!“, sagte sie mit eiserner Stimme. „Beju, kümmer´ dich um das Mädchen!“
Ich war vollkommen verwirrt: „Ich will aber mitkommen! Warum darf ich nicht mitkommen? Das ist voll unfair!“
Doch die Tigerin warf mir einen so finsteren Blick zu, dass mein Herz fast aussetzte. „Du
wirst gefälligst mit meinem Sohn gehen und wehe du entfernst dich von ihm!“
Ich schluckte und nickte, während ich dem Blick der Frau folgte. Meine Augen blieben an ihm hängen: Beju. Er hatte längeres, blondes Haar und atemberaubende blaue Augen, die mich fesselten und für einen kurzen Moment alles vergessen ließen. Ich bemerkte sofort, dass er kein Mensch sein konnte, da Menschen niemanden mit ihrem Aussehen regelrecht festhalten konnten. Was war er? Doch das zu fragen traute ich mich nicht.
Meine Augen weiteten sich unmerklich, als ich bemerkte, wie Beju mich leicht anstupste: „Hey, hey. Komm mit!“
Freundlich hielt er mir seine Hand entgegen, während ich ihm in sein Zimmer folgte. Vermutlich war es sein Zimmer, da es mit lebendigem Playmobil vollgestopft – es störte mich nicht wirklich, dass es lebendig war, da ich dieses Playmobil schon bei meinen Cousins des Öfteren erlebt hatte -, überwiegend in weißen Tönen gehalten und sehr unordentlich war. Beju schloss leise die Tür hinter uns und setzte sich auf sein Bett. Grinsend klopfte er neben sich; ich hielt kurz inne und errötete: So nah war ich einem Jungen zuvor noch nie gewesen und das war mir ein wenig unangenehm, aber er schien nett zu sein, also hievte ich mich auf das Bett und setzte mich neben ihn. Ich lächelte leicht.
Plötzlich hörten wir, wie seine Mutter komplett ausrastete. Wortfetzen wie „Dummheit!“, „Wir stecken bis über beide Ohren in der Scheiße!“, „Lösung?“ drangen zu uns durch. Mehr drang jedoch nicht nach oben. Wir schauten uns beide an. Doch plötzlich bemerkte ich, dass ich auf die Toilette musste – und das sehr dringend! Prompt lief ich puterrot an, sprang vom Bett und tänzelte etwas herum.
„Wer bist du? Ich bin Beju.“, lächelte der Junge mich an und meine Röte stieg ins Unermessliche und ich wurde noch unruhiger. Ich lächelte unsicher und verschränkte meine Beine: „Ähm...ähm...T..Thyra ..Fiah...Lu..lu... aaaaaahhhh... bitte, bitte, bitte sag mir wo dein Klo ist oder ich mach mir in mein Lieblingskleid!“, meine Stimme hatte sich in diesem Satz innerhalb weniger Sekunden von <unruhig> zu <totales Geschrei> entwickelt.
„Ähm...zweite Tür links.“, Beju strahlte jedoch immer noch über beide Ohren.
„Danke!“, rief ich ihm noch zu, bevor ich so schnell wie der Blitz aus seinem Zimmer rannte. Jedoch wurde ich nur nervöser und vergaß sogleich wo ich hin musste. Aber wie sollte man sich in diesem riesigen Haus auch zu Recht finden? Wir wohnten schließlich jahrelang nur in einer winzigen Wohnung – immerhin hatte ich mein eigenes Zimmer.
Mir blieb also nichts anderes übrig, als um Hilfe zu rufen. Leider entfiel mir genau in diesem Moment der Name dieses wunderschönen Jungen: „Be...
ähm...Duhuu?! Junge mit b... mist... wie hieß der noch mal? Äh... Hilfe?! Wo war das Klo noch mal?“
„Zweite Tür links. Links ist da, wo der Daumen rechts ist“, während er dies sagte, lief er auf den Gang und zeigte auf eine Tür, an der Toilette stand.
„Und wo ist rechts?“, man konnte meine Scham vermutlich meilenweit hören, dennoch schien mich Bejus Schönheit vollkommen aus dem Konzept gebracht zu haben.
„Da wo der Daumen links ist.“, lachte er.
„Oh...ach da... da... danke… Bee... äähm Bedu? ne.. Bejon?“
„Beju.“
„Ah, genau... der ist viel zu schwer!“, beschwerte ich mich, rannte aber sogleich in die Toilette. Mit lautem Krach flog die Toilettentür zu und ich seufzte erleichtert. Nach dem Toilettengang fand ich dennoch zurück in Bejus Zimmer. Ich war zufrieden und wollte mich gerade seinem Playmobil zuwenden, als mein Blick durch sein Fenster fiel. Der Vollmond erstrahlte in voller Blüte. Wenige Sekunde später hörte ich wie mehrere Türen aufgerissen wurden und jemand aus dem Haus rannte. Ein Werwolfsgebrüll zerriss die Nacht.
„Oh mist. Ich muss ...“, doch weiter konnte ich nicht reden, da mir plötzlich schwarz vor Augen wurde…

Am nächsten Morgen öffnete ich meine Augen und bemerkte, dass ich in Bejus Zimmer lag. Ich rieb mir meine Augen und kletterte langsam vom Bett herunter.
Beju hingegen saß inmitten seinem Playmobil und ließ gerade zwei Ritter gegeneinander kämpfen. Er schien so in seiner Fantasiewelt gefangen zu sein, dass er nicht einmal bemerkte, dass ich bereits wach war.
„Ich hatte einen schlimmen Albtraum!“, fing ich an zu erzählen, um seine Aufmerksamkeit wieder auf mich zu lenken, da ich es gewohnt war immer im Mittelpunkt zu stehen und eigentlich alles zu bekommen, was ich nur wollte. Ich war die <kleine Prinzessin> meiner Eltern und ich liebte es, dass sich die ganze Welt nur um mich drehte.
„Da waren du, deine Mama, ich und mein Papa und wir verwandelten uns alle in Monster. Und ich habe einen Bären gefressen. Alles. Ganz alleine!“, meine Stimme erhob sich gegen Ende des Satzes und auch meine Augen wurden größer. Dann verschränkte ich sogleich meine Arme und zog eine Schnute, „Voll doofe Albträume. Müssen mir immer meinen Schlaf blöd machen. Blöde, blöde, blöde Albträume!“
Doch anstelle von Verständnis, warf mir Beju nur großes Gelächter entgegen:
„Du glaubst also immer noch, dass es Träume sind?“
Ich blickte ihn verwirrt an: „Das was Träume sind?“
„Ja, wo du ein Monster bist.“
„Ich bin doch kein Monster!“, funkelte ich ihn an und streckte ihm die Zunge raus. „Du bist total doof! Ich hasse dich!“
Dann rannte ich schluchzend aus seinem Zimmer und in die Toilette hinein. Drinnen ließ ich meinen Tränen dann freien Lauf. Plötzlich bemerkte ich, wie jemand die Türklinke herunterdrückte, doch natürlich konnte niemand rein – ich hatte abgeschlossen.
„Geh weg!“, schrie ich und schluchzte weiter. „Ich hasse dich!“
„Thyra, ich hab doch gar nicht gesagt, dass du ein Monster bist. Du hast doch gesagt, dass du träumst, dass du ein Monster bist.“
„Geh weg!“, ich trat gegen die Tür und versuchte ihn mit meinen Aggressionen zu vertreiben. Ein leises Seufzen war zu vernehmen, dann schien er gegangen zu sein.

Der darauffolgende Morgen war nicht weniger glimpflich. Irgendetwas musste passiert sein. Wir durften nicht mehr hier bleiben. Bereits im Morgengrauen las mich mein Vater von Bejus Bett auf, nahm meine Mutter an die Hand und nickte der Tigerin – sie hatte sich immer noch nicht in Menschengestalt gezeigt, was mich viel zu sehr verwirrte - zu. Da ich sehr müde war, bekam ich nur noch mit, wie wir in völlige Finsternis traten…








Ich warte auf eure Rezensionen ;)

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