Die Umarmung - eine Weihnachtsgeschichte

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Marius Nam
Kerberos
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Die Umarmung - eine Weihnachtsgeschichte

Beitragvon Marius Nam » 22.12.2012, 22:38

Marc saß am Bett seiner Mutter und hielt ihre Hand. Es war Adventszeit, einige Tage vor Weih-nachten, und auf einem Tischchen neben dem Bett stand ein kleiner künstlicher Christbaum, dessen elektrische Kerzen das kleine Zimmer in ein warmes Licht tauchten.
Die Hand fühlte sich an der Innenfläche ganz weich und glatt an. Wie bei einem Baby, dachte Marc. Er blickte seiner Mutter ins Gesicht. Es war von unzähligen Falten und Fältchen überzogen, die er zuvor nie wahrgenommen hatte. Aber es war noch immer dasselbe Gesicht, das er schon so lange kannte. Etwas Vertrautes lag darin, ein Gefühl wie ein geteiltes Geheimnis. Die alte Frau hielt die Augen geschlossen und auf ihren Lippen lag ein feines Lächeln.
„Ich habe kürzlich ein Büchlein gelesen, ein Bilderbuch für Erwachsene. Ich habe es dir mitgebracht, es wird dir gefallen“, sagte Marc. Seine Mutter öffnete halb die Augen und blickte ihn an. „Es handelt von der Erfindung der Umar-mung“, fuhr Marc fort. „Sie wurde gegen das Alleinsein erfunden.“
Eine Weile herrschte Schweigen. Vor dem Fenster wirbelte der Wind Schneeflocken durcheinander.
„Wenn ich es mir genau überlege“, sprach Marc nach einer Weile leise weiter, „habe ich mich schon immer alleine gefühlt. Hast du mich eigentlich nie umarmt, Mama?“
Die alte Frau blickte ihren Sohn fragend und mit einem spöttischen Blitzen in den Augen an. „Du bist gerne auf meinem Schoß gesessen.“
„Ich habe mich nie gerne mit anderen Menschen umgeben, nie meinen Platz gefunden. Aber gesehnt habe ich mich danach.“
„Du hast doch deine eigene Familie. Du hast so liebe Kinder.“
Marc seufzte. „Meine Familie, ja. Ich denke manchmal, ich verdiene sie nicht. Sie sind mir so fremd. Sind wir dir auch fremd gewesen?“
Die Frau wendete den Kopf zur anderen Seite, so dass Marc ihr nicht mehr ins Gesicht sehen konnte.
„Ich frage mich“, sprach Marc nachdenklich wei-ter, „ob in der – Geborgenheit, die ein Kind erfährt, nicht der Schlüssel zu seinem ganzen späteren Leben liegt. Wir mühen uns so sehr, uns Kenntnisse und Fähigkeiten anzueignen, wir sind pflichtbewusst, diszipliniert, ehrgeizig, neugierig, und dann scheitern wir daran, dass wir andere nicht umarmen können. Wir münzen das um in Individualität, Unabhängigkeit, Selbstverwirklichung, aber wir kommen niemals niemals an. Wir scheitern an einer Kleinigkeit, die wir durch alles Lernen und Streben nicht erringen können: an unserer Unfähigkeit, zu vertrauen und uns hinzugeben. – Ich habe Angst davor, mir am Ende meines Lebens eingestehen zu müssen, dass mein ganzes Leben verschwendet war.“
Wieder herrschte Stille in dem kleinen Raum. Draußen auf dem Gang knarzte eine Tür. Dann öffnete sich kurz die Tür des Zimmers und ein greller Lichtstrahl fiel herein. Eine Schwester steckte den Kopf durch den Spalt, wünschte freundlich guten Abend und verschwand wieder.
„Niemand hat behauptet, dass das Leben einfach ist“, ertönte in die Stille hinein die brüchige Stimme der Mutter.
„Ich wünsche mir so sehr, irgendwo dazuzugehören“, sagte Marc leise.
„Weißt du, mein Sohn“, die Mutter blickte ihn nun wieder an, „ich habe mein ganzes Leben gekämpft. Da waren der Krieg und die Zeit da-nach, als wir immer wieder umziehen mussten. Ich habe nie richtig Wurzeln geschlagen. Der frühe Tod eures Vaters. Ich musste mit deinem Bruder und dir alleine zurechtkommen, daneben die Arbeit. Ich habe immer versucht, mich so einzusetzen, wie es meine Kräfte erlaubt haben. Ich glaube, mehr kann man nicht erwarten.“
„Ich weiß“, flüsterte Marc.
„Und ich habe mich auch immer nach einer Um-armung gesehnt.“
Die Frau hatte ihren Kopf zurück in das weiche Kissen sinken lassen und die Augen geschlossen. Das Gespräch hatte sie erschöpft. Marc streichelte ihre Hand und strich ihr dann eine Weile leicht über das schüttere Haar. Draußen heulte der Wind. Marc empfand die Wärme im Zimmer plötzlich als unangenehm. Er beugte seinen Kopf zum Gesicht seiner Mutter, als wollte er sie küssen. So verharrte er eine Zeitlang. Dann richtete er sich lautlos auf und verließ auf Zehenspitzen das Zimmer.

*

Marc saß am Bett seiner Mutter und hielt ihre Hand. Es war Adventszeit, einige Tage vor Weihnachten, und auf einem Tischchen neben dem Bett stand ein kleiner künstlicher Christbaum, dessen elektrische Kerzen das kleine Zimmer in ein warmes Licht tauchten.
Die Hand fühlte sich an der Innenfläche ganz weich und glatt an. Wie bei einem Baby, dachte Marc. Er blickte seiner Mutter ins Gesicht. Es war von unzähligen Falten und Fältchen überzogen, die er zuvor nie wahrgenommen hatte. Aber es war noch immer dasselbe Gesicht, das er schon so lange kannte. Etwas Vertrautes lag darin, ein Gefühl wie ein geteiltes Geheimnis. Die alte Frau hielt die Augen geschlossen und auf ihren Lippen lag ein feines Lächeln.
„Ich habe kürzlich ein Büchlein gelesen, ein Bilderbuch für Erwachsene. Ich habe es dir mitge-bracht, es wird dir gefallen“, sagte Marc. Seine Mutter öffnete halb die Augen und blickte ihn an. „Es handelt von der Erfindung der Umarmung“, fuhr Marc fort. „Sie wurde gegen das Alleinsein erfunden.“
Eine Weile herrschte Schweigen. Vor dem Fenster wirbelte der Wind Schneeflocken durchei-nander.
„Wenn ich es mir genau überlege“, sprach Marc nach einer Weile leise weiter, „habe ich mich schon immer alleine gefühlt. Hast du mich eigentlich nie umarmt, Mama?“
Die alte Frau öffnete die Augen und blickte Marc zärtlich an. „Mein Junge, ich habe dich immer sehr lieb gehabt. Aber es gab eine Zeit, da hast du dich nicht mehr so gerne umarmen lassen. Wir haben in solchen Momenten zu dir gesagt ‚Blümlein Rührmichnichtan‘. Du hast dich darüber natürlich geärgert. Du warst ein sehr stolzer eigensinniger, ungeduldiger und manchmal auch jähzorniger Junge.“ Sie legte ihre Hand an Marcs Wange. Er schloss die Augen und lehnte seinen Kopf gegen ihre Hand.
„Der bin ich noch immer“, fuhr er nach einer Weile fort. „Ich habe nur gelernt, mich zu beherrschen. Ich bin aber auch ein kleiner Junge, der sich nach – Geborgenheit sehnt. Immer muss man pflichtbewusst sein, immer diszipliniert, immer funktionieren. Von Kindes-beinen an.“
„Du warst immer sehr ehrgeizig. Und neugierig. Wir haben dich zu nichts gedrängt. Und du hast immer viel von dir und anderen verlangt.“
„Ich weiß“, flüsterte Marc.
„Ich musste auch immer funktionieren. Es war nicht einfach. Niemand sagt, dass das Leben einfach sei. Ich habe mir oft gewünscht, dass mich einmal jemand in den Arm nimmt. Aber das ist der Gang der Dinge. Du hast deine eigene Familie, deine Frau, deine lieben Kinder.“
„Manchmal fühle ich mich ihnen so fremd“, sagte Marc leise und Tränen stiegen ihm in die Augen. „Manchmal denke ich, ich habe sie gar nicht verdient. Hast du dich uns auch fremd gefühlt?“
„Nein. Du und dein Bruder, ihr seid immer das Wichtigste gewesen in meinem Leben. Vielleicht solltest du alles andere, all deine ehrgeizigen Pläne, weniger wichtig nehmen. Und man muss auch Geduld haben. Vielleicht solltest du die Menschen, die dich lieben, öfter umarmen. Es wäre schlimm, wenn du dich eines Tages fragen müsstest, was habe ich angefangen mit meinem Leben.“
Wieder herrschte Stille in dem kleinen Raum. Draußen auf dem Gang knarzte eine Tür. Dann öffnete sich kurz die Tür des Zimmers und ein greller Lichtstrahl fiel herein. Eine Schwester steckte den Kopf durch den Spalt, wünschte freundlich guten Abend und verschwand wieder.
„Es ist für eine Mutter nicht leicht, sein Kind loszulassen, nicht wahr?“
Die alte Frau lächelte wehmütig und blickte ihn liebevoll an. „Eine Mutter lässt ihr Kind niemals los, niemals. Das solltest du doch wissen, mein Junge. Es gibt keine größere Freude und kein größeres Leid.“
Sie hatte ihren Kopf zurück in das weiche Kissen sinken lassen und die Augen geschlossen. Das Gespräch hatte sie erschöpft. Marc streichelte ihre Hand und strich ihr dann eine Weile leicht über das schüttere Haar. Draußen heulte der Wind. Von irgendwo her drang gedämpft Weihnachtsmusik herein. Marc betrachtete versunken die Lichter des Christbaums und empfand eine plötzliche Wärme in sich aufsteigen. Er beugte seinen Kopf zum Gesicht seiner Mutter, und küsste sie auf die Wange. „Danke“, flüsterte er. So verharrte er eine Zeitlang. Dann richtete er sich lautlos auf und verließ auf Zehenspitzen das Zimmer.


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