Die Niederlassung - Eindringlinge oder die Diktatur der Zahl

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Pentzw
Kalliope
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Die Niederlassung - Eindringlinge oder die Diktatur der Zahl

Beitragvon Pentzw » 05.07.2013, 10:35

Wir hatten uns noch nicht richtig eingerichtet, als sich eines Tages Fremde unserem Bereich des Tales näherten. Sowie wir merkten, dass sie nicht in feindlicher Absicht gekommen waren, kümmerten wir uns weiter nicht um sie. Sie selbst bezeichneten sich als „Weise“, wie uns unsere Frauen übersetzten, weil jene eine ähnliche Sprache hatten wie sie.
Ein merkwürdiger Ausdruck, über den wir lange grübelten. Wir konnten keine Entsprechung in unserer Sprache finden. Was waren sie also, rätselten wir lange Zeit: Was steckte hinter dem Wort „Weise“? Das Verhalten wenigstens ähnelte dem, welches wir zeigten, als ich, der Häuptling den Plan ausheckte, bald auszuwandern, so dass wir dazu gezwungen waren, über längere Zeit hinweg eine Durststrecke, eine Wegstrecke ohne Unterkunft und sicherer Verpflegung zurücklegen zu müssen. Sie legten Vorräte an, wenn auch von dingen, die uns völlig wertlos erschienen. Machten also die Eindringlinge Anstalten, bald wieder wegzuziehen? Im Gegenteil, wie die Frauen andeuteten, bekundeten diese, dass sie mit uns, vielmehr neben uns friedlich und nachbarschaftlich zusammenleben wollten.
Uns sollte es Recht sein, denn zunächst waren sie uns ja nicht hinderlich und im Wege, weil sie mit anderen Dingen beschäftigt waren als mit Jagen, Ackern und Anbauen wie wir, so dass wir das, was sie taten, als „weise“ bezeichneten: sie sammelten Steine in den Bergen, obschon wir darin nicht viel Sinn und schon gar keinen Wert hineindeuteln konnten. Aber sollten sie ruhig. Ja selbst dann, wenn sie so unnütze Dinge sammelten, welche sie nur zu sammeln in die Hände kriegten. Steine, Holzstücke, Tierkadaver, was auch immer Unsinniges, Totes, Wegzuwerfendes. Okay, dieses Tun, „sammeln“ genannt, wurde mit „weise“ gleichgesetzt, was Unsinnigkeit verkörperte. Doch irrten wir uns gewaltig. Nur zu bald merkten wir, dass da noch viel mehr dazugehörte als das bloße Aufheben, Wegstecken und Aufbewahren von solch wie eben beschriebenen wertlosen Dingen und Gegenständen.

Als sie dann in der Gegend herumstreunten, da und dort den ein oder anderen Felsen behauten, überhaupt nur Interesse für totes Material hatten, nicht etwa für uns oder die wilden Tiere in Wald und Prärie, zuckten wir nur verständnislos die Achseln ob deren harmlosen Tuns. Wir dachten uns auch nichts, als sie ganze Berge aufwühlten, steinige Gegenden vom Kopf auf die Füße stellten, sollten sie doch, wenn es ihnen Spaß bereitete. Für sie hat es sicherlich ihre Bedeutung, uns konnte es doch letztlich egal sein. Aber darin täuschten wir uns nun gewaltig, wie sich bald herausstellte. Denn genau diese Dinge, die sie untersuchten und umkehrten, wurden uns nun zum Verhängnis. Damit bauten sie uns die Fesseln, Knebeln und Bandagen, unter denen wir in der Folgezeit unvorhergesehen leiden und ächzen würden.
Es ging damit los, dass einige von unseren Mannen berichteten, sie hätten völlig unsinnige Dinge tun müssen.
„Das verhielt sich so“, erzählten sie. „Man hieß uns in einer Reihe antreten. Dann schritt einer von den Weisen diese ab, griff dem einen oder anderen an die Muskeln oder schaute in seine Augen, indem er dieselbigen aufriss und wählte so bestimmte Männer aus. Diese mussten in eine Höhle gehen, worin es dunkel war. Nur flackernde Lichter waren aufgestellt. Dort hatten sie Steine aus der Höhle zu schlagen. Sie mussten die Steine danach zerkleinern, bis sie fast nur noch aus Sand bestanden; oder es wurde ihnen geheißen, die Steine von einem Ende zum anderen zu befördern - und dann wieder zurück. Den ganzen Tag über.“
Wir konnten diesen Berichten kaum glauben. Was sollte das für einen Sinn haben? Steine von links nach rechts zu tragen, und dann wieder dort zurück, woher sie kamen? Einer vermutete zwar, dass damit der Weg festgetreten werden sollte, weil die Steine so groß waren und beim Hin- und Herrollen ja den Weg plattdrückten, dennoch waren die Zweifel nicht auszuräumen.
Danach kam aber das noch Merkwürdigere. Die Herren sagten, womit sie ja auch gelockt hatten, dass unsere Männer für die Tätigkeiten entgolten würden. Womit geschah das aber? Sie bekamen Steine dafür, bunte, bizarre, merkwürdige Steine. Darüber hätten sie sich zu freuen, sagten die Herren. Denn das sei ihre Bürgschaft für die "Zukunft".
"Zukunft" ein Wort, das wir nicht verstanden. Wir rätselten darüber, was das sei. Es war wohl etwas, was weit von unserem Heimatland weglag, wahrscheinlich dasjenige Land, woher die Fremden kamen. Wollten also die Fremden uns in ein anderes Land schicken? Aber was sollten die Steine dann? Sollten die Männer im Falle, wir würden in dieses ferne Land vertrieben, diese Steine mitschleppen, um sie dort aufzupflanzen und niederzulegen? Gab es dort solche Steine gar nicht?
Am merkwürdigsten war aber der Umstand, dass sie die Steine "zählten". Sie sagten ein Stein, zwei Stein, drei Steine und so weiter, wie weit, wissen wir nicht.
Dann geschah noch etwas viel Sonderbareres. Sie klopften demjenigen Mann auf die Schulter, der am meisten Steine besaß. Er könne stolz sein, meinten sie. Je mehr Steine jemand habe, desto „reicher“ sei jemand.
Was sollte das wohl bedeuten? Was hatte jemand denn davon, dass er mehr als ein Ding besaß? Warum sollte er das zweite Ding, den zweiten Stein nicht jemanden schenken und geben, der keinen Stein besaß, damit er auch in das ferne Land eintreten durfte, sobald wir dorthin gezwungen werden würden, auszuwandern? Wenn jemand nicht auch einen Stein besaß, wer weiß es, wurde er vielleicht in ein ganz schreckliches Land vertrieben? Denn für so etwas, für die Zukunft, waren doch die Steine gut, und die Zukunft war für die neuen Herren etwas sehr, sehr wichtiges. Sie liebten die Zukunft, was verständlich ist, wer liebt nicht sein Heimatland, sofern es ihm wohltut. Nur, so fragten wir uns, warum haben sie dann das Heimatland "Zukunft" nur verlassen, wenn sie so viel darüber sehnsuchtsvoll sprachen?

In der Folgezeit hatte das "Zählen" für die "Zukunft" gravierende Veränderungen in unserer Gemeinschaft. Denn jemand fragte einen Mann, der zwei Steine hatte, ob er ihm nicht einen abtreten wolle. Daraufhin lachte dieser und sagte: "Ja, schenken (womit er abtreten meinte) sei gut. Aber die Steine behalten sei besser für ihn." Plötzlich wollten bald auch andere Steine, obwohl sie keine hatten und vorher auch keine vermisst hatten. Sie wollten sich nur gleich fühlen mit diesen Stolzen, die Steine besaßen. Obwohl sie doch gar nicht wussten, wozu die Steine gut waren; denn schließlich: keiner wusste doch, wie dieses ferne Land "Zukunft" aussähe. Vielen der Männer mit immer mehr werdenden Steinen warfen stolz mit Zahlen von Steinen um sich. Hatten einige Männer aber die gleiche Anzahl von Steinen genannt, waren sie nicht etwa glücklich, weil sie wie bei Kindern die genau gleich vielen Kinder besaßen, nein. Sie taten alles daran, dass sie am nächsten Tag irgendeine andere Zahl von Steinen nennen konnten, dann erst waren sie glücklich, vielmehr einer von ihnen war glücklich, jedenfalls stets der, der eine Zahl nannte, die neu war.

Um die gleiche Zeit nahmen uns die Fremden unser Land weg, unsere Gärten und Besitztümer. Sie raubten damit unsere Erträge, den größten Teil davon, nur was uns zum Essen übrigblieb, ließen sie uns. Denn sie waren hergegangen und hatten das Land vermessen, wie sie sagten. Sie teilten das Tal in Parzellen ein, die je nach dem bestimmte Wichtigkeit inne hatten. Diese Wichtigkeit bemaßen sich nach dem Wert für die ganze Gemeinschaft, behaupteten sie. Irgendetwas musste es mit ihrem Heimatland „Zukunft“ zu tun haben, weil sie dieses Wort immer wieder in den Mund nahmen, um die unsinnigsten Handlungen zu rechtfertigen. Ja, wenn sie nicht weiterwussten, sagten sie schlicht „Zukunft“, womit alles klar schien.
Und nun geschah das Merkwürdige, dass diejenigen Männer von uns, die Steine hatten, mit diesen Dingen die uns geraubten Lebensmittel tauschen konnten. So gelangten die Steinebesitzer zum fruchtbarsten Land, zu den feinsten Obst- und Fleischteilen. Somit wurden die Steinebesitzer noch stolzer, was verständlich war, weil sie ja mit Steinen alles eintauschen konnten, was ihr Herz begehrte. Wir wenigen, die wir keine Steine hatten und auch kaum mehr Land besaßen, fühlten sich immer kleiner und winziger. Einige dachten schon daran, auch solch Sinnloses in der Höhle zu tun, nur um auch an Steine gelangen.

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