Die Niederlassung - "Stehlen" und Entwenden XIII.

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Pentzw
Kalliope
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Die Niederlassung - "Stehlen" und Entwenden XIII.

Beitragvon Pentzw » 12.07.2013, 19:10

Ein sonniger, blauer Tag. Die Fremden sind zu einer Beratung mit uns zusammengekommen. Wir waren um ein Lagerfeuer gesessen, haben Met getrunken und schwätzten noch lange.
Zwei kleine Mädchen spielen miteinander. Das eine hat eine Perlenkette um den Hals. Das andere bittet das größere Mädchen darum, ihr auch einmal die Perlenkette um den Nacken zu legen.
„Zeig mal her. Ich möchte wissen, wie es mir steht!“ Sie langt ins Leere, denn die andere hat ihr die Schultern zugedreht.
„Jetzt nicht!“, sagt das größere Mädchen.
„Wann dann?“
„Später!“
„Was bedeutet „Später“, fragte das kleinere Mädchen irritiert, denn sie hatte noch niemals dieses Wort gehört. Wir, wir vom Stamm, übrigens auch noch nicht.
„Vielleicht, wenn die Sonne aufgeht?“
„Ehrlich?“
„Vielleicht!“
„Ehrlich!“
Einige Zeit später versucht es Adele, so heißt das kleinere Mädchen, erneut, denn es fühlt sich noch immer irritiert. In ihr war etwas entstanden, was sie niemals vorher gefühlt hat: Misstrauen.
„Wenn die Sonne aufgeht... Aber sie geht jeden Tag auf.“
Das größere Mädchen schmunzelte wissend und sagt: „Eben!“
Das Mädchen kann immer noch nichts mit dieser Aussage anfangen, so dass es protestiert: „Aber du hast vorhin gesagt, später darf ich es einmal anprobieren! Hast du das nicht gesagt?“
„Ja, habe ich gesagt!“, sagt es ganz freimütig. „Aber“, es lächelt dabei schlau, „Später ist noch nicht gekommen!“
„Wann kommt es dann?“
„Das weiß ich noch nicht. Das weiß ich erst dann, wenn es gekommen ist. Sobald die Sonne aufgeht und ich fühle, dass die Zeit gekommen ist, es Dir zu geben.“
Die andere überlegt einen Moment. Jetzt gerät sie in Panik und greift erneut nach der Perlenschnur, weil es sich erpresst, missachtet und hintergangen vorkommt.
„Aber ich will es jetzt haben!“ Es stürzt sich auf es, weil jene erneut einen Rückzieher macht und die Perlenkette mit ihren Händen hinter ihrem Rücken versteckt hält. Was bleibt der anderen anderes übrig, sich vollends auf ihr Widerpart zu stürzen.
„Aber warum jetzt!“, protestiert die Besitzerin defensiv. „Kannst du nicht bis Später warten?“ Dabei beschreib sie immer wieder einen Halbkreis, um der Umarmung der anderen zu entgehen und die Perlenkette aus dem Greifbereich der sie unliebsam Bedrängten zu halten.
Aber Adele lässt sich nicht mehr auf diesen Vorschlag ein. „Nein, ich kann nicht mehr warten. Ich muss sie jetzt haben. Jetzt, jetzt, jetzt!“ Und weiter stürmt diese auf jene zu, sogar sie jetzt umwerfend.
Damit hat sie es endlich geschafft, die Halskette an sich zu reißen, so dass die andere in Tränen ausbricht. Sie kann es dieser nicht wieder entwenden, weil jene stärker, flinker und geschwinder plötzlich mit der Halskette in Händen Reißaus nimmt.
Wir lachen alle darüber, als das größere Mädchen deshalb in Tränen ausbricht, weint und nach ihrer Mama schreit.
"Seht, es ruft nach ihrer Mami, als Milchmädchen!“ Alle lachen dazu. Das Mädchen wundert sich einen Moment auch, stockt mit dem Weinen und setzt schon an mitzulachen. Klar, ein naives, dummes Kinderverhalten, weil Kinder ja nicht wissen, was sie tun.
"Nein, nein! So geht das nicht!", ertönt aber plötzlich ärgerlich eine tiefe Bassstimme eines Gastes.
"Das ist Diebstahl!" Und schon macht er einen Satz, erreicht das etwas ältere Mädchen, das inzwischen wieder herangekommen ist, reißt ihr nun seinerseits das Kettchen vom Hals und überreicht dem kleineren Mädchen feierlich, scheinbar tröstend, die Halskette. Das Mädchen ist zunächst erstaunt, weil sie ja mittlerweile kapiert hat, dass ihr weinendes Verhalten unangepasst war. Sollte sie ein Anrecht auf die Halskette haben? Aber in unserem Volk ist es seit Generationengedenken üblich, dass die Wertgegenstände nach Belieben den Besitzer wechseln. Dafür gibt es auch einen vernünftigen, offensichtlich nützlichen, allen dienenden Grund: Hatte man zum Beispiel Mädchensachen, die einem Mädchen in einem bestimmten Alter zu einer bestimmten Jahreszeit noch passten, so verschenkte man dieses Kleidungsstück natürlich im nächsten Frühling einem der nachwachsenden Kinder, das es dann gebrauchen konnte. Wir machen uns freilich nicht die Mühe, wieder ein neues Kleidungsstück zu schneidern, aus neuen von Tieren erlegten Stoffen eines zuzuschneidern, nein, wir konzentrieren lieber unsere Energie auf Wichtigeres, anderes, zum Beispiel auf das Bauen neuer Unterschlüpfe oder eines besseren Zaumzeuges fürs liebe Tier, das da unseren bescheidenen, kargen Acker und dem dichten, undurchdringlichen Wald mühevoll abgerungen werden musste. Und wie es sich mit den Mädchensachen verhält, mit dieser Kette zum Beispiel, so wird es mit allen Dingen gehandhabt. Letztlich gehört alles allen. Wer etwas brauchte, kann es benutzen; wollen zwei Personen ein Ding gleichzeitig benutzen, so sprach man sich selbstverständlich ab.
Aber nun, nach diesem harschen Einschreiten des Gastes, des Fremden, waren wir zunächst völlig verdutzt. Unser Erstaunen stieg natürlich um so mehr, als wir feststellen mussten in der Folgezeit, dass das kleinere Mädchen verbissen das Kettchen bei sich behalten wollte. Es wollte es niemals mehr aus den Händen geben.
Die Fremden wachten in der Folgezeit sehr darauf, dass diese Regel eingehalten wurde, dass niemand dem anderen etwas wegnehmen durfte und jeder hielt sich entsprechend strikt danach, wollte er nicht mit dem anklagenden, negativ klingenden Wort und Stempel "Dieb" behaftet werden. Ja, einer der Eindringlinge ging sogar soweit, jemanden, den sie unter diesen Umständen "Dieb" nannten, schwer körperlich zu züchtigen, sprich ihn auszupeitschen vor dem Angesicht aller, was für denjenigen Betroffenen wirklich ein sehr, sehr unangenehmes Erlebnis darstellte.
Er war auch nicht verlegen, zu begründen, weshalb.
„Du bist zwar der Besitzer, aber jener ist der Eigentümer.“ Der Besitzer des Gegenstandes stand verdutzt da, weil er mit dieser Unterscheidung beider Wörter nichts anfangen konnte, was wunder, niemand hatte diesen Unterschied jemals gehört, wahrgenommen oder gedacht. So fanden die Neuen stets neue Worte oder Worte, die plötzlich ihren Sinn veränderten, jedes Mal zu ihren Gunsten natürlich.
So veränderte sich unsere Wahrnehmung, unsere Gefühle und Verhaltensweisen gegeneinander und untereinander aufs äußerste. Einer hatte plötzlich etwas, was er im Moment nicht brauchte zwar, aber auch nicht hergab, "herlieh", wie die Fremden wohl sagen würden, für denjenigen, der es gerade brauchte. Auch wieder ein neues Wort, das gegen alle unseren Vorstellungen zuwiderlief. Es war widernatürlich, es war unsinnig, es war schockierend. Da saß jemand auf etwas, was er gar nicht brauchte zurzeit, ein anderer aber umso mehr, und weil er es nicht haben konnte, verdarb und verdorrte mitunter desjenigen Feld, Frucht und Milch.

So hatten die Fremden also Mauern, Barrieren und Gräben zwischen uns errichtet, in unser harmonisches Miteinander unmerklich hineingebaut und hineingestellt. Es waren plötzlich Gefühle da, oft einhergehend mit sinnveränderten Ausdrücken, die vorher kaum gekannt, wir nunmehr aber umso stärker wahrnahmen bei Dingen, die für uns bislang von selbstverständlicher Neutralität waren. Wir fühlten uns bald in ein unsichtbares Gefängnis gesteckt, jeder in seine eigene zu enge Höhle und Zelle eingesperrt, kaum fähig, uns mehr als die Umfänge derselben es erlaubten zu bewegen, geschweige denn, daraus hervorzutreten. Unsichtbare Wärter hielten uns in Schach, nämlich wir selbst. Oder unsere Unsicherheit. Einer war des anderen Kerkermeister letztlich, beäugte mit misstrauischen Blicken die klitzekleinsten Schritte des anderen.
Und in der Folgezeit verlor jeder für sich beinahe das Gefühl, er wäre Mitglied eines Stammes. Jeder nahm sich als scheinbar einzigartigen, für sich isolierten Kieselstein wahr, der von Stromschnellen umspült war, womit er beschäftigt war anzukämpfen, um nicht fortgetrieben zu werden. Die Fremden hatten es beinahe geschafft, uns als einen Stamm zu zerstören. Wir waren erstaunt, als wir aufwachten: es war ihnen fast gelungen ohne jegliche brutale Gewaltanwendung! Raffiniert!
Und zu ihrer Art, uns zu trennen, feind zu machen, zu vereinzeln, gehörte nicht nur, dass sie wie aus heiterem Himmel fremde Begriffe, Wörter, nichts mehr als Laute, die mit negativem Beiklang daherkamen, einführten, sondern das sie ehemals wohlklingende, nunmehr, von heute auf morgen, ohne ersichtlichen Grund, in abschätzigen Tonfall ausstießen. Wundert es jemanden noch, dass dazu auch das Wort "Stamm" gehörte? Es war in der Tat eines der übel beleumdesten Wörter, wie "Wir", wie "Uns". Wir ängstigten uns unmerklich derartig, dass wir es gar nicht merkten, es schlich sich einfach ein, war eines Tages da, ohne dass wir hätten sagen können, wann dieser Tag genau gewesen war.
Unser "Stamm" hatte aufgehört zu existieren, faktisch sowie lautlich, als wir dieses Wort uns nicht mehr getrauten über unsere Lippen zu hauchen; genauso verboten wir es uns, jeder für sich, versteht sich, ohne dass dazu jemand Befehl gegeben hätte, dieses Wort auch nur ohne Erschauern zu denken; erstaunlich, welches Wissen die Fremden über unsere Seele besaßen. Wir hätten uns nicht wehren können, sie nicht einmal anklagen können, kein Tribunal hätten wir anrufen können, weil, was hätten wir in der Hand gehabt? Die Missetaten waren nicht greif- und sichtbar, so dass wir sie tatsächlich nichts hätten anklagen können. Wir standen vor einem totalen Rätsel, sahen, dass unsere Mittel nicht ausreichten dafür, was die Fremden mit uns taten, wie sie uns zwangen, veränderten, vor sich her- und in die Sklaverei hintrieben.

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