Die Niederlassung - Die Macht des Buchstabens XIV.

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Pentzw
Kalliope
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Die Niederlassung - Die Macht des Buchstabens XIV.

Beitragvon Pentzw » 22.07.2013, 18:12

Die Macht des Buchstabens

Auszug aus der Rede unseres Häuptlings.
„Sie waren zuerst einzeln gekommen, dann in Scharen. Die ersten hießen wir willkommen, die folgenden auch noch, wenn auch mit Skepsis.
Sie schlichen sich bei uns ein. Sie rissen sich dabei nicht die Medizinstelle an sich, welche über Leben und Tod entscheidet. Diejenige Stelle, die die Richtung unseres Weges angibt, die Häuptlingsstelle rissen sie auch nicht an sich. Sie waren viel gewiefter. Sie errichteten anstelle dessen andere, neue, bessere Medizin- und Häuptlingsstellen, die die alten ersetzten und fast überflüssig machten.
Jetzt müssen wir in uns gehen.
Wir müssen bereden, was wir tun sollten.
Sollen wir uns schließlich entschließen, ein neues Land zu suchen, anderswo hingehen, Neues zu besiedeln?
Warum sind sie überhaupt hierher gekommen und haben sich ins Tal eingenistet? Weshalb sind sie nicht in ein Territorium eingedrungen, das unbesiedelt ist? Dort hätten sie doch auch eine Bleibe, einen Staat nach ihrem Gutdünken aufbauen und gestalten können. Die Welt ist ja so groß, hat solch unübersichtliche Weiten, wovon wir Menschlinge uns gar kein Bild machen können. Warum also dies nicht? – Es ist anzunehmen deshalb, weil sie gerne über andere regieren und herrschen wollen, sie lassen lieber andere für sich aufbauen, als selbst in die Hände zu spucken.
Ja, das ist es!“

Aber was half uns diese Einsicht?
Gab es außerdem dafür Beweise, dass sich die Eindringlinge, wie sie unser Häuptling meinte, an ihnen erkennen zu können, auch so zu charakterisieren waren? Ehemals waren die Neuen mit einer Anhäufung von Pergament erschienen, stolz und bedeutungsvoll darauf deutend, dass darin alles niedergelegt sei, was deren und unser Zusammenleben beschreiben, vorschreiben und weisen sollte.
Einige hatten dann auch vorgeschlagen, dass wir uns auf die schriftlichen Niederlegungen der Eindringlinge beziehen, sie ehren, befolgen, lernen und also verinnerlichen sollten. Sogar ein paar ganz Eifrige hatten sich dazu überreden lassen, der Eindringlinge Schrift zu lernen, damit sie sich über die Dinge, welche in dieser Form festgelegt waren, kundig machen konnten sowie selbst darin nach Absprache mit ihnen, Dinge festlegen zu können.
Der Vorreiter dieser wenigen war Brüllixsohn, der folgende Gegenrede hielt, die in der Erkenntnis aufging, dass es gut wäre, sich mit den Gesetzen der Fremden vertraut zu machen und in der festen Absicht mündete, keine Zeit verstreichen zu lassen und sich umgehend die Grundlagen anzueignen, um diese Vorschriften eingehend zu lesen, sich zu Gemüte zu führen und also sich tiefsinnige Gedanken darüber zu machen.

Auszug aus der Rede von Brüllixsohn:
„Die Gesetze der Fremden, das muss jeder zugeben, haben den Vorteil, dass sie jeder verstehen kann. Warum kann sie jeder verstehen? Weil jeder sie lesen kann. Warum kann sie jeder lesen? Weil sie auf einem sogenannten Pergament eingekritzelt sind. Wie kann man diese Einkritzelungen verstehen? Indem man die einzelnen Krixel lernt und versteht. - So kann man Schritt für Schritt die neuen Regeln lesen, verstehen und anwenden. Was ist der Vorteil darin? Das liegt auf der Hand. Unsere Regeln kann keiner irgendwo finden. Warum sind sie unauffindbar? Weil wir sie von Fall zu Fall festlegen. Ist das besser gegenüber den Regeln der anderen? Bestimmt nicht, denn die Regeln dieser gelten jetzt und immer. Warum sind sie ewig? Weil sie schriftlich niedergelegt sind.
Deswegen sage ich Euch. Lernt die Vorschriften der Neuen lesen und verstehen, dann werdet Ihr sicherer in Euren Entscheidungen und Handlungen! Anders wisst Ihr nicht, wenn ihr handeln sollt, ob diese Handlungen und Konsequenzen die Billigung eines anderen, der anderen und der Ratssitzung des Stammes gewinnt.
Ich sehe also, kurzum, in allgemeinen und festgelegten, nachvollzieh- und lesbaren Regeln einen bedeutenden und unschlagbaren Vorteil gegenüber nur mündlich mitgeteilten Regeln und Grundsätzen.
Ich sage Euch, noch heute mache ich mich daran, die fremden, unbekannten und seltsamen Krixel der Fremden lesen und verstehen zu lernen. Dann werde ich jene Vorschriften auch mir aneignen können, womit ich den Vorteil habe, in meinem Wollen, Entscheiden und Handeln gefestigter und voraussehbarer zu sein.“

Unter-, Neben- und Obervertreter

Nun, als diese Schriftkenner befragt wurden, legten sie über die Umstände dazu Folgendes dar, was unser Handeln, genauer gesagt, das Nichthandeln, also die Unterlassung jeglicher Handlungsfähigkeit, zu der wir dann verurteilt waren, verständlich machte. Die zentrale Botschaft der neuen Gesetze war nämlich gerade die, dass, wer nicht nach den Gesetzen handelt, gegen diese verstößt. Damit vermehrte sich die Unsicherheit der Schriftunkundigen umsomehr. Wir, die wir den Stamm bildeten und also die neuen Gesetze, Regeln und Vorschriften nicht lesen konnten, fühlten uns auf einmal schuldig, an den Pranger gestellt und vorverurteilt. Das war ein sehr, sehr, sehr schwer ausstehbarer Zustand, wie sich leicht jeder Einfühlsame vorstellen kann. Das war also zunächst der Rahmen, in den wir gestellt, gekettet und fixiert wurden.

Was die sogenannten Schriftkundigen nun über die Schriften selbst aussagten, kommt hier zur Sprache.
Zu Anfang stießen wir auf etwas Überraschendes, was uns da über die Schrift mitgeteilt wurde: die Gesetzestexte regelten nicht nur die zu befolgenden Verhaltensweise, sondern gliederten, strukturierten und bestimmten sogleich den Aufbau, die Struktur und den Ansatz, auf dem die Gesellschaft beruhte und sich beziehen sollte.
Zunächst hoben sie die Bedeutung dieser Schriften hervor. Es verhielt sich so, dass die Gemeinschaft der Eindringlinge und dies schließlich auch uns einbeziehend anwendbar sich vorstellig sich machen musste, Folgendermaßen gegliedert war: es gab wenige Ober- und viele Untervertreter. Verstießen letztere gegen Gesetze, die erstere in den Schriften aufgestellt hatten, denn diejenigen waren auch gleichzeitig die Schriftkundigen, so wurden sie bestraft und mussten von ihrem Hab und Gut etwas den ersteren abtreten. Um welche in den Pergamenten festgelegten Gesetze es sich jedoch handelte, wussten nur die Obervertretern selbst, denn die Untervertretern konnten wegen Zeit- und vielleicht auch Mittelmangels sich nicht über deren Inhalte kundig machen. Sie hätten außerdem der obstrusen von niemanden gesprochenen Sprache, selbst der Obervertreter ungewohnten Zunge der Gesetzestexte, kaum Verständnis abringen können, geschweige denn den Text betreff des Inhalts, welcher Sache war, finden können, so unübersichtlich und verworren war die Ausdrucksweise darin.
„Macht nichts!“, meinten die Obervertreter in so einem Fall. Dafür gibt es Neben- und Ober-Nebenvertreter, welche für die Untervertreter die Texte schon sondieren könnten. Wurde also ein Untervertreter wegen Unwissenheit eines Gesetzes bestraft (im Falle der sogenannten Gesetzesübertretung), so musste er sowohl den Ober- und den Neben-Obervertreter ein gehöriges Stück von sich, sprich seinem Hab und Gut, abtreten. Selbst wenn sich nach langer Verhandlung, also der rechten Auslegung der äußerst kompliziert formulierten Regeln der Gesetzestexte, die Unschuld des Untervertreter herausstellte, musste er einen gewissen Teil trotzdem von sich abtreten, auf jeden Fall einen gehörigen davon dem Neben-Obervertreter, der ihn vertreten hatte.
Der Häuptling führte dann aus: „Da wir diejenigen sind, welche die Schrift am wenigsten beherrschen, und da die Inhalte derselbigen, von unseren Vorstellungen so abweichen, sind wir auch stets die, die in einem Verfahren unterliegen und benachteiligt werden. Die Kenntnis der Schrift hat uns gelehrt, dass wir nichts mit den Eindringlingen gemeinsam haben und dass, wenn wir ihr folgen, unsere Vorstellungen von Zusammenleben aufgeben müssten. Wollen wir das? Ich glaube nicht. Unsere sind die besseren, unsere Art zu leben, gefällt uns mehr als die der anderen Art.“

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