In einem anderen Land - Aufbruch mit Widerstand IX

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Pentzw
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In einem anderen Land - Aufbruch mit Widerstand IX

Beitragvon Pentzw » 26.09.2013, 19:58

Gluckendasein oder Unterwegssein

„Ich möchte wissen, wo wir campen? So ist es mir lieber, wenn wir so bald wie möglich das Zelt aufschlagen, auch wenn es erst Mittag ist.“
Das Glucken-Empfinden der Frau, – ein besserer Ausdruck mir momentan nicht einfällt - die sesshaft wie sie nun einmal ist, nervös wird, wenn es Abend wird und immer noch nicht weiß, wo sie heute Nacht sein und das Zelt aufgeschlagen haben wird. Sie muss ihre Sieben Sachen an ihren Platz wissen, gerät doch sonst etwas innerlich aus den Fugen,
gleich diesem Empfinden meiner Ex, Sehnsucht zu verspüren, frühere Menschen, die sie einmal geliebt hat oder ihr sehr viel wert waren, vor allem Exgeliebten, wiederzusehen. Irgendetwas hält mich von solchem Tun und Trachten ab, niemals ich es tun würde und es nicht gut finde und nachgrade unappetitlich-sentimental, eine Sackgasse, ein Rondell, Kreuzverkehr ohne Ausfahrt, ohne es begründen zu können.
Mir indessen gefällt es, irgendwo zu sein, an irgendeinem Badestrand z. B., aus dem ich, wie stets nach dem Schwimmen, wie neugeboren und gleich jenem besagten Urzeit-Fisch aus dem Meer an den Strand an Land krieche, um dort einen neuen Lebensabschnitt, eine neue Ära seiner Spezies zu beginnen,
gefällt es, mir jetzt die so lange als möglich hinausgeschobene Frage zu stellen und mich hingebungs- und huldvoll einer totalen Offenheit auszuliefern, einer betäubend-schönen Ohnmacht der Freiheit und so hell, rege und wach bewusst mir zu sagen: es steht mir jeder Weg offen, alles ist offen, überall hin kann ich mich wenden, keine Mühsal empfinden, um einen festen Standort zu haben, nichts belastet meine Zukunft und mein Jetzt, frei bin ich bin. Ich habe die wirkliche Wahl, über mich zu entschieden, ich bin, der ich sein will durch von keinem beeinflusste Willensanstrengung.

Aber ich kann meine Ablehnung umschreiben und beschreiben, mittels eines Gleichnisses, das mein Tun verständlich macht.

Wir sind an einem Ort, der eine sehr schöne Kneipe mit Terrasse hat, vor der man auf einen breiten, flachen und kristallenen Strom hinabschauen kann. Kaum etwas Schöneres kann es geben, an einem solchen Platz zu sein: eine gemütliche, von coolen Leuten besuchte Kneipe mit Blick auf diesen klaren, starken Bergfluss mit Geröll, der diesen Ort erst lebendig macht, zum Leben erweckt inmitten der toten, architektonisch anziehenden, alten und fremdländischen Häuserfassaden.
Und so ist uns dieser Ort teuer und lieb geworden, zumal er rar ist. Denn wann werden wir wieder auf solch ein romantisches Plätzchen treffen? Vermissen werden wir ihn, während wir in der staubigen Wüste ächzen und auf uns warten Tage in Langeweile und Agonie gleichförmiger oder von Werbeplakaten verhässlichter Häuser-Orte mit kaum lauschigen Plätzen und Kneipen. Nichts garantiert uns, dass es bald wieder so heimelig sein wird wie hier.
Aber wir haben doch die Zelte abgebrochen und es geschafft, wie freilich nur ich es empfinde. Ein unweit von hier befindlicher Bergsee lässt uns aber nicht gänzlich abreisen und hält ein bisschen die Illusion aufrecht, länger hier zu bleiben.
Auf der Weiterreise kommen wir erneut in die Nähe und Reichweite jener schönen Ansammlung von Dingen und interessanter Menschen, wo sich diese Terrasse befindet, dieser Fluss und diese Häuserunikate, denn allzu verlockend ist doch solch ein reizvoller Platz. „Machen wir doch noch einmal Halt!“
Aber nein, nicht mit mir.
Weiter zieht es mich, weiter, ins Neue, Ungewisse, vielleicht noch Schönere!
Weiter zieht es mich.

Befürchtet hat er bereits, dass sie noch einmal diese Kneipen-Terrasse heimsuchen will und also diesen Ort nicht so schnell hinter sich lassen kann und doch, tatsächlich, er kann es kaum glauben, wieder unterwegs sind sie.
Sie ist weitergefahren.
Er lacht voll Freude darüber.
„Und schau, da ist schon wieder ein Igel!“
Er deutet auf den vorbeifließenden Fluss, auf dem ein kleiner, junger, gerade seine Federn erhaltener Schwan mit seinen wie gestutzten und unausgewachsenen Flügeln dahinstrampelt und sich abmüht, in Fahrt zu geraten. Sein weißer Leib plüscht sternhaufenförmig ab, stolzgeschwellt plustert er sich auf und blendet mit seinem Erblühen alles, was ihm über den Weg kommt.
Ihre Gesichtszüge verschattet ein melancholischer Zug, der wohl durch das Stichwort „Igel“ aufgerührt worden ist, Symbol ihrer jetzt verlorengehenden und beendeten Sesshaftigkeit, einen Moment aber nur, bis sie erneut von diesem süßen Romantikanblick eingefangen wird und wieder lächelt. Er denkt, jetzt ist sie so weit, nun hat sie die Reiselust ganz übermannt und jetzt kann er seinen Spruch loslassen.
„Schau her, es kommt mir nicht darauf an, mich zu entspannen und zu erholen, sondern herumzukommen, heute hier, morgen dort, wenn möglich, überall hinzureisen. Ich will sagen können, seht her, hier ist die Karte. Wohin immer ihr drauf spucken mögt, dort bin ich schon gewesen!“

Wir treffen ein Pärchen, das sich darüber streitet, wer fahren darf.
Darüber kann ich nur lachen.
Ich bin froh, meine Ruhe zu haben, verträumt in die fortfliegende Landschaft schauen zu dürfen und schreiben zu können. Natürlich ist sie, die Fahrerin, mittlerweile schon auf die Idee gekommen, die Sitzplätze zu tauschen, zwar nicht so sehr, weil ihr die Lust zum Fahren vergangen wäre, als vielmehr infolge einer Frage, die sie sich gestellt haben mochte. „Warum fährt der so ungern? Was kann so schön sein, nicht zu fahren? Nur da im Beifahrersitz rumzuhängen, den Kopf aus dem Fenster zu hängen...Vielleicht ist das schöner als Fahren? Ich müsste es doch auch einmal ausprobieren.“
Genau, was findet der nun so angenehm, nicht fahren zu müssen, das muss ich mal ausprobieren, schauen wir einmal, was dahintersteckt. So äußert sie jedes Mal, wann wir Rast machen, diesen Wunsch. Aber es kommt stets dazu, dass sie sich „automatisch“ ans Steuer platziert oder besser sich wieder fahrend mit dem Steuerhand in der Hand vorfindet, nicht ohne Ärger, Verdruss bei ihr und Amüsement, Selbstironie bei mir und auszustoßen: „Jetzt sitze ich schon wieder am Steuer! Ach!“ und ich mich kaputt lache.
Konsterniert verkündet sie: „Am nächsten Parkplatz, Haltestelle, egal wo, wo man halt halten kann, stoppe ich!“
„Okay!“ Ich bin bereit, mich in mein Schicksal zu fügen.
Es kommt aber, bevor wir an einem solchen gelangen, ein Umleitungsschild für diejenige Stadt, die wir anfahren.
Ich wittere meine Chance.
„Stopp mal!“, sag ich. „Da geht es links nach A!“
„Das ist ja eine Umleitung.“
Wissend, dass sie stets die öffentlichen Wege penibel befährt, zeige ich ihr auf der Karte den Weg, der auch über B nach A führen würde.
Der verbohrte Esel mit Scheuklappen schlägt mit den Hufen auf.
„Aber da ist extra nach A ein Schild ausgewiesen!“
„Na gut, fahr! Derjenige, der fährt, bestimmt den Weg.“
Befriedigt, weil ihren Willen gelassen worden, fährt sie links ab und denkt nicht mehr an einen Fahrerwechsel.
Jubilierend vertiefe ich mich wieder ins Schreiben.

Wenn sie unbewusst nicht will und nicht das bekommt, was sie möchte, z. B den Zeltplatz zu verlassen, fährt sie schon oftmals im Kreis, verpasst eine Ausfahrt, die offensichtlich ist, nur um das Verlassen des Zeltplatzes hinauszuschieben.
Oder aus anderen Gründen läuft ziemlich viel schief, sie findet nicht den geradesten Weg und stellt sich unwillkürlich stur und verbohrt.
So sind wir auf der Suche nach einem Veranstaltungsort in einer unbekannten Stadt, die wir ausgestorben und leergefegt vorfinden. Doch einen Mann, scheinbar Ausländer, der nicht einmal dieses für uns Ausländische hierorts spricht, zumindest keinen Ton herausbringt, findet sie wert zu befragen, aber keine von jenen, die einheimisch aussehen und sind, denen man nach dem Weg fragen könnte und darf.
Sie fährt stur weiter und nichts stoppt sie, nicht mal der vernünftige Vorschlag fruchtet, jetzt einmal langsamer zu fahren, dort kommen Straßenschilder oder es könnte jemand in der nächsten Seitengasse zu erblicken sein. Nur mehr stur der Nase lang. Immerhin, wir tasten uns endlich an eine große Markthalle heran, ein modernes Messezentrum, umgeben von vielen blank sanierten Fabrikhallen, wo unser Ziel lokalisiert sein könnte und was dieser Umgebung gut zu Gesicht stünde, nämlich ein alternatives Kultur- und Musikfestival. Aber weit und breit nichts als leere Hallen, zudem keine Menschenseele. Große, moderne Hallen können kaum öder wirken als diese frisch renovierten. Endlich, als wir schon weiter gefahren sind, heraus aus diesem großen Häuser-Hallen-Industrie-Komplex, dort an der Ecke eine Frau mit Fahrrad, Hund und einem Kind auf einem Dreirad. Die könnten wir anfahren und fragen. Dazu müssten wir in eine kleine Straße einbiegen, die, wie sie behauptet, um diese zu umgehen und zu meiden, als Fußgänger- und Fahrradweg ausgewiesen ist.
„Da darf man nicht mit dem Auto durchfahren!“, gesagt und in die Pedale getreten, das Ganggetriebe durcheinandergewirbelt und Gas gegeben, so dass sie mit 50 km im Rückwärtsgang auf dem leeren Parkgelände zurückschnellt und eine Kehrtwende vollführt, um zurückzufahren, woher wir gekommen sind. Bloß sprachlos bin ich.
Endlich findet sich jemand, der uns dorthin zurückweist, wovon wir vorhin geflüchtet sind und die einsam gehende Frau mit Anhang gewesen ist und wo gerade um die Ecke sich der gesuchte Veranstaltungsort befindet und zu erblicken ist.

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http://www.pentzw.homepage.t-online.de/literatur.html

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