In einem anderen Land - Ein Alptraum XI

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Pentzw
Kalliope
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In einem anderen Land - Ein Alptraum XI

Beitragvon Pentzw » 20.10.2013, 23:25

Aufbruch mit Widerstand und ein Alptraum


Frühstück ohne Zeitung – wie traurig, ungewohnt und leer. Aber wir lauschen, was Neues uns die Vögel verkünden – was bleibt uns schon übrig? Gespräche über das Geschehen des gestrigen Abends – mehr gibt es nicht zu sagen. Ohrwürmer bohren in unserem Kopf – wir kriegen sie nicht raus. Wie wohl das Wetter heute wird – wir müssen ja etwas sagen. Wir räumen den Tisch auf – es muss ja getan werden – bauen das Zelt ab – ist auch Zeit geworden. Wir fahren in die Welt hinaus – endlich ist es soweit.

Während Mitfrau ihren Kampf gegen die Pfunde am Körper irgendwo austrägt, trage ich meinen im Schlaf aus. Zum einen merke ich, in letzter Zeit den rechten Arm überlastet zu haben. Dazu kommt jetzt, dass ich mich offenbar im Schlaf auf meine Arme schmiege und stütze, um an diesen zusätzlich ein Stützkissen zu haben, als wolle ich mich umarmen, mich in mich selbst hineinkuscheln und -kriechen, weil mir sonst nichts auf der Welt mehr Geborgenheit gibt.
Ich weiß, Ausgleich, pole Dich um, verlagere die Anstrengungen künftig vorwiegend auf den linken Arm!
Momentan habe ich jedenfalls solche Schmerzen im Arm, der völlig taub und abgestorben an mir hängt, ohne dass ich ihn durch meinen Willen bewegen kann, was mir zunächst gleichgültig ist, da ich von denjenigen, die mich geweckt haben, angezogen werde (leider nicht meine Kleider!): Eine Entenfamilie lärmt quietsch-fidel auf den Flussbänken.
Ein Sprachspiel liegt mir auf der Zunge: Pumpst du nicht sofort mit den Muskeln, Bizeps und Händen, wirst du den Bach hinuntergehen und das Entengeschnattere wird deine wohlverdiente Begleitmusik sein.
Diese Vorstellung lässt mich mein müdes Haupt, worin sich das größte Organ bleischwer befindet, erheben. Langsam ziehe ich den gleichfalls steinschweren Leib nach und zwar, wie schwer vorstellbar auch immer, ohne Zuhilfenahme meiner Schwungglieder.
Sofort ist der Lärm verstummt.
Auch ich verharre regungslos.
Dann setze ich meine lautlosen Pumpbewegungen fort. Die Enten fassen dies als Fortsetzung zu ihrem Hohngelächter auf. Ich krieche wie ein dicker, fetter Seelöwe auf dem Bauch zum Zelteingang und versuche nach dem Reißverschluss zu greifen– geht nicht – also, du musst die linken Hände gebrauchen - geht auch.
Als ich aus der Zeltdecke luge, stoße ich fast gegen die niedrige Himmelsdecke, die aus einem undurchdringlich grau-dicken Film aus Nebel besteht und aus einem unerklärlichen Instinkt heraus fast zusammenzucke, als könne ich dagegen stoßen.
Mann, was wäre das schön, endlich durch die Himmelswand zu stoßen, um auf die andere Seite zu gelangen. Wert wär’s im Angesicht der Welt und Erde!
Da, der Besuch der Familie, die ich unterdessen gar nicht gehört habe, wie sie über den Fluss geschwommen ist, die Kleinen voran, die sich mehr stürzend als watschelnd durch das niedrige Ufergebüsch den Hang hinauf zum Fuße des Zeltplatzes hin ihren Weg bahnen.
Kämpfe gegen deine Schwäche an und mache daraus eine Tugend, indem du deine Gäste mit Brotkrümel fütterst, wozu du mit der Hand in den Brotbeutel grabscht und mit der anderen die Brotkrumen abzupfst und sie ihnen hinwirfst. Nein, halt umgekehrt, mit rechten Hand mache die Werfbewegungen!
Bald auch fließt in meinen Arm wieder Blut und Leben.
Indem ich mein Lockmittel in stetig kürzeren Abständen vor mich hinwerfe, führe ich meine scheuen Besucher immer näher an mich heran. Zu streicheln sind Wildenten aber nicht, dies das Ergebnis des Experiments.
Besonders die Mutter hält Distanz. Ihr gebührender Abstand beträgt gut sechs Meter und nur ein Mal unterschreitet sie diese knapp, als sie der Hunger etwas näher zu mir herantreibt. Dann positioniert sie sich schnell wieder mit dem Hinterteil zu mir gereckt, den Kopf und Hals in Richtung Fluchtweg ausgerichtet – mich argwöhnisch aus ihren nach hinten gerollten Augen beobachtend und mit der Frage taxierend: was Fremdling und Gattungsfremder führst Du im Schilde?
Womit habe ich dieses Misstrauen verdient, Entenmutter? Ich bin enttäuscht!
Nein, Dir traue ich nicht!
So beginnt ein Tag auf dieser Erde.

Als es mir und meinem Arm schon besser geht, kommt sie schweißtreibend und lächelnd eingetrudelt und kaum geduscht, sitzt sie auf dem Sattel ihres High-Tech-Fahrrads aufrecht da, grinst selbstgewiss und sagt lapidar: „Sie setzten auf ihren Pferden auf, um loszureiten.“
Sofort springe ich auf meinen diesen Namen Ehre gebenden Drahtesel und sitze da auf, der ich gerade noch träge wie ein nasser Sack im Stuhl herumgefläzt war.
Wenn jemand an Don Quijotte del la Mancha auf seinem großen Hengst und seinen Knecht Sancho Panza auf seinen kleinen grauen Esel denkt, liegt nicht ganz falsch.
Bald auch sitze ich schon weniger „galant“ wie Damen zu Pferde zu reiten pflegten auf einen Popos [popers], aber verrenke mich ähnlich wie diese, wenn auch ungraziöser mit meinen arg in wundgeriebener Mitleidenschaft gezogenen Hintern. Ein Bild für einen Comic- und Satirezeichner mit dem Titel: „Radfahrer im Kampf mit seinem Allerwertesten“.
Dieser Kampf mit meinen Schmerzen, der sich schließlich zu einer formidablen Verkrampfung auswächst, muss man sich, um die Tragweite der Tragöde zu erfassen, mit der Musik mit dem Titel Spiel-mir-das-Lied-vom-wundgeriebenen-A vorstellen, vor dem Hintergrund einer öden, verlassenen und sturmdurchwehten Wüste. In Wahrheit handelt es sich zwar um eher prärieartige steil bergauf- und bergab führende, viel zu enge, poröse und aufgeschlagene Feldwege, aber der Effekt ist der gleiche!
„Sie waren auf der Flucht vor den Häschern!“
`Oder auf der verzweifelten Suche nach Windmühlen!`
Kein Zwischenstopp, Pause, Rast und Ruh kennen wir und gönnen uns.
Allenfalls, erspäht meine Herrin eine Windmühle, halt, einen satten, trächtigen und hochschwangernen Pflaumen- oder Apfelbaum, kennt sie kein Halten mehr, legt bei ihrer 200-Gangschaltung noch etliche Zahn zu und tritt, hält und steuert in rasender, ungebändigter, nichts ihr widerstehender Gier, Besessenheit und Dynamik auf ihr Ziel zu.
Zwar bin ich die Tretmühle ein Weilchen los, aber wieder eingespannt beim Früchtepflücken, meiner Gebieterin treu und zähneklappernd zur Seite stehend und befürchtend, bald die Zielscheibe des gerechten Zornes eines Wüterichs zu werden.
Wir befinden uns am Straßenrand einer hügeligen Dorf-Asphalt-Straße, wo man nicht erkennen kann, ob bald in nächster Entfernung hinter dem steilen Abhang ein Auto mit überhöhter Geschwindigkeit dahergeschossen kommt und mich ein bisschen kratzt.
Nein, sie ist uneingeschüchtert über den Zahn zu einem Garten gebeugt oder langt in das darüberhängende Geäst eines Pflaumenbaumes. Nicht etwa das Fallobst auf der Straße wird aufgeklaubt, sondern die baumelnden Früchte, ungeachtet der an uns vorbeiflanierenden Dorfbewohner oder durchfahrenden Autofahrer, bei denen es sich um den Besitzer dieses die verbotenen Früchte tragenden Baumes handeln kann. Kalten Blutes pflückt sie sie einen nach dem anderen leer. Ich stehe unten und habe ein Tuch in Sterntaler Manier ausgebreitet und empfange die Beute damit, die sie herabwirft oder behutsam hineinlegt.
Auch dann ist nicht gesagt, dass die kurzweilige Verschnaufpause länger andauert, schlägt uns oft genug plötzlich ein wutentbrannter Gutsbesitzer in die Flucht. Die wilde Jagd treibt uns quer--, wiesen- und flurwegein.
„Dieses Mal entkamen sie nicht ihrer gerechten Strafe.“ - der Einschuss von Schrotkugeln in meinen Bach sorgt dafür.

Ich verfluche die Kavalierhengste dieses Landes - denn „Mann schlägt den Sack und meint den Esel“.
Immer wieder trifft es den eigentlich Verführten, Schwachen und Unschuldigen, wohingegen die Verführende, die Hehlerin, die Durch-und-Durch-Verdorbene mit einem blauen Auge davon kommt, obwohl der Rächer sehen muss, wer die Übeltäterin ist. Diese schleimigen Kavaliere!
Dieses Mal jedoch kommt Unschulds-Engelchen, oh Wunder, wenigstens nicht ungeschoren, sondern mit ein paar Schrammen davon, die sie sich selbst zugefügt hat dank herausragendem Wurzelwerk, dumm herumstehender Sträucher, Gestrüpp und Baumgeäst - aber doch alles nur eine Lappalie, gemessen an einer Kugel, die in meinen Körper gedrungen ist.
Wortlos und professionell macht sie sich daran, mich zu verarzten.
„Wer ahnt denn, dass hierzulande die Bauern mit Schrotflinten wie die Wilden um sich ballern wegen ein paar fauler Äpfel. Ist das nicht kriminell?“
So extrem, ärgerlich und diskriminierend würde sie sich kaum ausdrücken, gerade gegenüber Autoritätspersonen und Rechthabenden nicht, wozu sie viel zu sehr Respekt empfindet, sagt sie, verbalisiert sie so, verhält sich auch so – andererseits wiederum überhaupt nicht, wenn man sieht, dass sie Obstklauerin in Person ist, wobei es sich, um es beim Namen zu nennen, um puren Diebstahl handelt.
„Das ist halt eine andere Kultur, da müssen wir uns anpassen. Das gehört sich so!“ und sie vertieft sich in ihre Arbeit.
Ich schimpfe, stichele und motze wie ein Rohrspatz.
„Ob dies die da oben im Euro-Parlament wissen?“, gebe ich meiner Entrüstung Ausdruck.
Sie ist ganz konzentriert auf s Flicken.
Mit einem schmerzenden, nicht-organschädigenden Bauchschuss komme ich davon. Aber der Weg der Verarztung ist dorniger noch als die Schmerzen der Schrotkugeln, die im Bauch stechen und rumoren. Ich brülle und schreie nach Herzenslust, was und wie ich kann, niemand hört’s hier in der freien Natur, wo wir auf weiter und breiter Flur alleine sind.
Die Operation meiner fachkundigen Begleiterin erfolgt prompt und vor Ort mit den nötigen, unabdingbaren 1a medizinischen Hilfsmitteln wie Skalpell, sterilisiert, Schere, Pinzette, Tupfer aus Baumwolle, Betäubungsmittel zur örtlichen Betäubung, Desinfektionsmittel, Verbandszeug – als habe sie sich auf einen OP-Eingriff auf Feld- und Waldesrand vorbereitet.
Zunächst atme ich durch –gerettet - das Schlimmste überstanden, aber das Klagelied nimmt kein Ende - plötzlich ist der Verband wieder durchblutet, aber genauso schnell erneuert. Das Blut kann, ohne dass erneut genäht werden muss, endlich gestillt werden.
Unter Qualen hier, dort und überall setzen wir unsere Fahrt fort. Die Schmerzen steigern sich ins Unerträgliche.
So gibt mir die Krankenschwester eine wohltuend lindernde Morphium-Injektion.
Danach geht alles wie von selbst. Aber nein, keine paar Flügeln sind mir aus den Schulterblättern herausgewachsen - ist doch komisch - Peterchens Mondfahrt, der zum Erdtrabenten fährt, radelt und schwebt...
...kein Wunder, habe ich das doch nur geträumt!
...man kann daran ermessen, wie stark meine Wut aufs ewige Fahrradfahren ist, auf diese unentwegten Fahrradtouren...

Ich kam zum Zelt, betätigte unverzüglich die Reißverschlüsse, kroch in den Schlafsack wie ein Dachs in sein Loch, legte mich auf den Rücken, schmerzte es doch vorne am meisten, wenngleich manch anderes zudem, bettete mich auf die Unterlage, diese dünne, drei Zeitmeter dicke, lange, harte Matratze und schloss die Augen. Es war erst 19 Uhr, noch hell am Tag, nicht mal Abenddämmerung, wer konnte da schon schlafen? Ich musste, physisch gesehen, weil ich mich nicht mehr bewegen konnte. Einige Mal zwar hielt ich mich mit Gewalt wach, wissend, wenn ich die Augen schlösse, dann war’s vorbei mit Wachzustand –döste von Schlaf zu betäubten mit Schmerz untermaltem Wachbewusstein hin und her, als befände ich mich in einem fließenden Strom, Bach, Fluss, Gesicht zwischen Oberfläche und Unterwasser, mal in dem einen Bereich, mal in dem anderen, mal unter Wasser, mal in der Luft über der Wasseroberfläche, wobei das unaufhörlich fließende Wasser keine Ruhe gab, da es der Schmerz war, den mein Körper spürte und diesen quälte.
Apropos Dachs, im Schlaf hörte ich fürchterliches Geschrei außerhalb des Zeltes. Ein Dachs, ein Iltis, ein Zobel, der ein Tier in seinen Fängen hielt? Wir befanden uns in freier Natur.

Beim Kartoffelschälen denke ich an Heinrich Bölls Märchen von den betrogenen Zigeunern: „Die Waage der Baleks!“ Ich wusste schon und ahnte, Schriftsteller sind wie im Buche stehende Lügenmäuler, Geschichtenerzähler und Flunkerer, dass sich die Balken biegen, zumindest „schwache“ Menschen, die sich die Unerträglichkeiten des Lebens schönreden, um sie besser ertragen zu können.
Schon als Kind war mir das klar, aber dennoch war ich von den Mühen des Kartoffelschälens, die in dieser Erzählung beschrieben werden, betroffen. Mir erging es selbst so.
Nur, dass die Zigeuner die gerechteren und betrogenen Menschen auf der Erde sind, das ist allenfalls eine Metapher, eine Allegorie, jedenfalls ein Mythos, schließlich kommen sie aus Indien wie die Gastarbeiter und bleiben, nachdem sie Mohren ihre Schuldigkeit beim Bau der großen Paläste der Herrscher Europas abgeleistet haben.
Und ich musste an meine Verwandten denken, die aus ihrem „Heimatland“ vertrieben wurden und hierzulande als Herumstreuner, Nichtsesshafte, Flüchtlinge galten. „Hilfe, jetzt kommen die Zigeuner“, riefen die Einheimischen entsetzt auf. Andere beobachteten immerhin ehrfürchtig meinen Vater, der, wenn er auftanzte, ihnen die Augäpfel aus den Augenhöhlen trieb. Seine Familie musste zunächst in Notunterkünften hausen, Türen aus Vorhängen. Es wurde eingebrochen. Man ging zur Polizei. Diese konnte oder wollte nicht helfen. Das war also das wegen seiner Ordnung berühmte Land.

Zelten: „Die Verwahrlosung desjenigen, der in der zivilisierten Welt keine Ordnung halten kann...“ irgend so ein dummer Spruch, an den ich mich nicht mehr genau erinnern kann. Er stimmt auch nicht. In der Natur gibt es keine Verwahrlosung.

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