Ende eines Kriegers – Beginn eines Autors

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markoose
Erinye
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Ende eines Kriegers – Beginn eines Autors

Beitragvon markoose » 21.11.2013, 18:23

In dem Buch „Ankwin – Tod eines Kriegers“ zieht der Tod eines Einsiedlers große Ereignisse nach sich.

In verschiedenen Handlungssträngen der Vergangenheit und Gegenwart entwickle ich eine hoffentlich dichte und abwechslungsreiche Erzählung, in der ich bestrebt bin, die Charaktere lebendig und die Szenerien detailreich zu gestalten. Nach über drei Jahren des Schreibens wurde der Fantasyroman nun veröffentlicht. Ich verzichte größtenteils auf die genreüblichen Fabelwesen und ausladende Zauberorgien und möchte so auch ein breiteres Publikum ansprechen.

In einem kleinen Dorf hoch im Norden pflegt eine Kräuterfrau trotz des Geredes der Leute einen Einsiedel. Fremde suchen den Toten auf, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Ein alter Magier erhält einen Brief, der eine lang vergessene Frage aufwirft. Auf der Suche nach Antworten begibt er sich weit in die Vergangenheit und stößt dabei auf ein altes Geheimnis. Ein junger Adliger reist zu seinem Onkel in die Königsstadt und gerät mitten in einen Gerichtsprozess, dessen Folgen sein Schicksal bestimmen.
Während der alternde Magier in der Königsstadt in staubigen Prozessunterlagen stöbert, muss sich das ganzes Dorf mit den Fremden um die Bestattungsfeierlichkeiten des ehemaligen Volkshelden kümmern und der junge Ankwin kämpft mit seinem eigenen Übermut.
Der Roman ist mein knapp 600 Seiten starkes Debütwerk und seit April als Print oder Ebook erhältlich. Die bisherigen Rezensionen sind durchweg positiv. Über ein Echo in diesem Forum würde ich mich freuen. Wer den Trailer sehen oder mehr wissen will, ist herzlich auf meiner Homepage eingeladen: http://www.markoose-migher.de
Hier noch eine Leseprobe ...

Raben
(Birgenheim im Winter)

Hastig stolperte er über die gefrorenen Grasbüschel der großen Wiese. Seine mit Lumpen umwickelten Füße spürte er schon beinahe nicht mehr. Er war mittlerweile so außer Atem, dass er die kalte Luft tief in seine Lunge ziehen musste. Die Kälte stach.
Er wischte seine tropfende, fast blaue Nase am Ärmel ab und spähte den Hügel hinauf. Die Wollmütze juckte entsetzlich auf seiner verschwitzten Stirn. Weit war es jetzt nicht mehr zum Halben – vielleicht fünf Steinwürfe – aber bei dieser Kälte und seinem schweren Gepäck war das noch lange genug. Die Trageriemen schnitten ihm in die Schultern und drückten das Blut ab, so dass seine Arme ganz taub waren.
Es war kalt, sehr kalt, schon seit Wochen. Das allein war nichts Ungewöhnliches zu dieser Zeit des Jahres. Ungewöhnlich war nur, dass noch keine einzige Schneeflocke gefallen war. Sonst war schon wenige Wochen nach dem Erntefest der erste Schnee herunter gekommen. Doch dieses Jahr war es anders. Die Leute im Dorf redeten zurzeit viel über das Wetter.
‚Der Schnee will gar nicht kommen dieses Jahr.’
‚Ja, da hast du Recht. Kommen will der wohl noch nicht ... Hast du schon alle Tiere im Stall?’
‚Ja, natürlich ... Ist bestimmt ein schlechtes Zeichen mit dem Schnee.’
‚Meinst du? Meine Großtante mütterlicherseits, die alte Rutwin, hat gestern erst erzählt, dass beim letzten Winter ohne Schnee, da wäre sie noch klein gewesen, alle Tiere im Stall verreckt sind ...’
‚Nee? ...’
‚Doooch ... Wenn ich’s doch sage ...’
Sie hatten jetzt für gewöhnlich auch nicht viel anderes zu tun, wenn sie sich trafen. Die Ernte war eingebracht, das Holz war gesammelt, das Vieh war im Stall. Außer einer kranken Kuh hier oder einem undichten Dach da gab es nicht viel, über das die Leute reden konnten während ihren Handarbeiten. Über ihn natürlich – über ihn redeten sie fast genauso viel, wie über das Wetter.
‚Der Junge von Helmin, der Moakin ... Hast du das schon gehört? ... Da steht er am Dorfbrunnen, mit einem Eimer in der Hand und singt, klar wie eine Elfenglocke ... und dann fragt ihn Halpren, ob er auch ein anders Lied kann ... und dann ... hi, hi, ... dann bleibt er mittendrin stecken und stottert so dermaßen, dass ihm der Eimer samt Leine wieder ins Wasser fällt ... hi, hi, ha ... aber das Beste ist, er hatte ihn nicht mal fest gebunden. Seitdem haben wir einen Extraeimer im Dorfbrunnen.’
‚Tja, aus dem wird wohl nie was Rechtes. Der ist halt ein bisschen wirr im Kopf. Bei dem Vater.’
‚Ha, ha, dass kannst du laut sagen ...’
Früher hatte es ihn noch getroffen, aber inzwischen war ihm egal, was sie von ihm dachten. Er redete mit ihnen, wenn er musste, und das kam nicht all zu oft vor und trotz seiner schweren Stotterei wussten sie am Ende immer, was er wollte. Meistens wussten sie es schon vorher, weil er immer das gleiche verlangte.
Schon seit Jahren machte er für den Halben die Besorgungen im Dorf. Das ging eigentlich von seiner Mutter aus.
Moakin wurde bewusst, wie sonderbar der Name im Grunde war – der Halbe. Seit er denken konnte, gab es schon den Halben, aber der war nie eine halbe Portion gewesen sondern ein großer Mann mit breiten Schultern. Moakin wollte, wenn er richtig groß war, auch so viele Muskeln haben wie der Halbe früher. Jetzt nämlich, da er schon so lange krank war, machte der Halbe seinem Namen alle Ehre.
Er hieß eigentlich nur der Halbe, weil niemand seinen richtigen Namen kannte und er eben auf halbem Weg vom Dorf zu dem Haus der Kräuterfrau, seiner Mutter, lebte. Moakins Schultern schmerzten. Genau genommen war ihm der Fremde egal, wie alle anderen außer seiner Mutter. Sie hatte darauf bestanden, dem Halben zu helfen, und wenn Mutter auf etwas bestand, gab es weder links noch rechts. Früher war sie noch mit ins Dorf gegangen, aber nun war Moakin alt genug. Er war ja fast schon ein Mann mit seinen dreizehn Wintern. Mutter war das ganz recht, denn so gut war sie auch nicht mehr zu Fuß. Ihr genügte es, wenn sie zu den Notfällen im Dorf eilen musste. Sie war schließlich die Kräuterfrau. Darüber, dass sie dem Halben half, wurde natürlich auch geredet, nur eben ein bisschen leiser, manchmal sogar hinter vorgehaltener Hand.
‚Was Helmin bloß an dem alten Kauz findet? Der ist doch gar keiner von uns.’
‚Sie ist die Kräuterfrau und sie wird wissen, wem sie helfen muss. Aber neulich, wäre fast Inglins Ochse verreckt, nur weil sie sich verspätet hat. Ich komm ja, hat sie gesagt, wird schon nicht gleich sterben, der Ochs. Ich hab hier noch zu tun, hat sie gesagt.’
‚Na, hoffentlich bin ich nicht krank, wenn sie beim Halben draußen ist.’
‚Du sagst es. Garbans Frau, die Iwe, die ist doch schwanger. Hoffentlich ist Helmin rechtzeitig da. Eine Totgeburt verdirbt die Ernte.’
Er hatte sie alle schon tuscheln sehen. Oft hatte er sich auch durch Wortfetzen den Sinn zusammenreimen können.
Endlich stand er vor dem kleinen, windschiefen Gatter, das als Teil eines klapprigen Zaunes einem erbärmlichen, überfrorenen Garten vorstand. Der wiederum lag vor einer in allen Belangen zum Garten passenden Hütte. Das Dach hing durch wie der Rücken eines alten Pferdes, der Schornstein schien jeden Moment auf eben diesen Rücken zu fallen und kein Fensterladen funktionierte mehr richtig. Mutter hatte Sie kurz vor der ersten großen Kälte mit ihm zusammen zugenagelt und die klaffenden Lücken mit Stroh ausgestopft. Er erinnerte sich gut an den schmerzenden Rücken und den wundgescheuerten Hals, denn er hatte die Bretter, die Nägel und das Stroh selbst herbei geschleppt.
Knarrend wimmerten die Holzstufen als er vor die Tür trat. Er hämmerte dagegen.
„M ... M ... Mutter, ich b ... b ... bin’s!“ Nach einem kurzen aber kalten Moment hörte er Schritte aus dem Inneren der Hütte. Wenn man sich darauf konzentrierte, konnte man genau hören, woher die Schritte kamen, denn sonderlich gut gebaut war die Hütte nicht. Sein Mutter war im hinteren Zimmer gewesen und bewegte sich jetzt auf die Tür zu.
Ihr faltige Gesicht erschien im Türspalt. Die vielen Jahre in dem harten Klima, die unzähligen Krankenbesuche bei Wind und Wetter und tapfer durchwachte Nächte an Krankenbetten hatten es vor seiner Zeit altern lassen. Weder er noch sie selbst kannten ihr genaues Alter aber sie war schon mindestens dreißig Winter die Kräuterfrau des Dorfes. Damals hatte sie das Amt von ihrer Muhme übernommen. Schnell schwang sie die Tür auf: „Moakin! Komm schnell herein, sonst müssen wir die Hütte von neuem aufheizen!“
Moakin stapfte steif gefroren ins Innere. Die mollige Wärme, die ihm entgegen schlug, verwandelte sich augenblicklich in eine stickige Hitze, die von Rauch, Kräuterduft, Schweiß und Krankheit durchsetzt war. Er ließ den schweren Sack auf den Boden gleiten und nahm schnell seine beißende Wollmütze vom Kopf. Seine Mutter half ihm beim Abnehmen des großen Holzbündels von seinem Rücken. Verstohlen sah Moakin durch die halb offen stehende Tür in die hintere Kammer. Er sah nur einen Teil des aus Strohsäcken und Fellen bestehenden Bettes. Vom Halben sah er den rechten Arm. Eine dünne, knochige, fahle Hand, die sich aus einem grob gewebten, alten Hemd heraus in die Felldecke krallte.
„Trink was, mein Junge, Tee ist über dem Feuer.“ Seine Schultern fingen an zu kribbeln, als das Blut wieder ungehindert fließen konnte. Auch seine Zehen juckten entsetzlich, als sich sein warmer Lebenssaft wieder in ihnen ausbreitete.
Helmin machte sich an dem Sack zu schaffen. Halb enttäuscht und halb bestürzt fragte sie: „Was ist mit der Weidenrinde? War Beol nicht zuhause?“
„Doch, sch ... sch ... schon, aber er s ... s ... s ... sagte, er hätte k ... k ... k ... keine Z ... Zeit geha ... habt, um sie zu trockn ... nen.“
„So ein Unsinn. Beol, dieser Taugenichts, der ist auch nicht besser als die anderen. Keiner rührt hier auch nur einen Finger für ihn.“, die Wut machte ihr Gesicht augenblicklich um Jahre jünger und entschieden weniger gütig. Sie wich allerdings schnell der Verzweiflung. Helmin schien mit sich selbst zu sprechen: „Aber ich brauch doch die Rinde, ... gegen die Schmerzen.“ Nach einem kurzen Moment des Schweigens schüttelt sie den Kopf, als wolle sie die Verzweiflung abwerfen: „Setz dich doch Junge, häng deine Fußlappen ans Feuer. Ich mach dir eine Suppe. Wie war der Weg hierher?“
Moakin setzte sich auf den Hocker, der beim Feuer stand und machte sich an seinen Füßen zu schaffen. Seine Mutter hatte inzwischen den Inhalt des Sackes auf dem Tisch ausgebreitet und war nun dabei, seine Suppe zu kochen. Sie saß direkt neben ihm in der Hocke und machte sich mit einem Messer daran, schrumpeliges Gemüse zu zerkleinern und in die dampfende Brühe zu werfen. Sein Kopf war etwas über dem ihren. Der Feuerschein auf ihrem Gesicht verlieh ihr eine fast überirdische Aura.
„Ich hab es wieder gesehen.“ Diesmal stotterte er nicht.
„Was?“ Abwesend suchte sie ein bestimmtes Gewürz unter den vielen Bündeln, die neben der Feuerstelle hingen.
„Das R ... Riesenpferd. Ich hab es wieder ges ... sehen ... beim Weiher.“ Moakin rieb seine nackten Füße, die zwar schon wieder Schmerzen empfinden konnten, aber immer noch eiskalt waren.
Die Kräuterfrau schaute ihn ernst an: „Bist du sicher? Es war ein Pferd?“, sie wandte sich wieder der Suppe zu „War es vielleicht ein Elch?“
„M ... Mama! Ich w ... weiß doch, wie ein Elch a ... a ... aussieht! Es hatte k ... kein Geweih und war g ... g ... größer als ein Elch.“
„Zu dieser Zeit des Jahres werfen die Elche ihre Geweihe ab. Bist du dir sicher?“
„B ... Beol ha ... ha... at es auch ges ... sehen. Er sagt, es ... es ... es sei ein Schlachtross.“
„Beol?“, sie machte eine Pause und runzelte die Stirn, „Der hat dich auf den Arm genommen.“ Sie schnitt ein paar runzelige Karotten in die Suppe.
„Hast du ihm zuerst davon erzählt?“
Moakin schob seine Unterlippe vor: „J ... Ja, ... aber ich k ... k ... kenne ihn. Diesmal war er e ... e ... ehrlich. M ... Mama, so glaub mir d ... doch“, der Junge wurde lauter, „Es hatte ein Stockmaß von m ... mindestens s ... s ... sieben Ellen ... n! Mama, du hä ... hättest es s ... sehen sollen.“
„Beruhig dich, Junge. Sonst bekommst du wieder keinen Satz heraus. Das größte Pferd, das ich kenne, gehört Mattern. Der wohnt in Bergenbach, das liegt zwei Tage von hier. Vielleicht ist es ihm durchgegangen.“ Sie schälte ein paar Zwiebeln. „Aber sieben Ellen, Junge, da wäre es ja so schwer wie fünfzig Mehlsäcke ... und wie viel es fressen würde. Nee ...“
„Ich h ... hab es gesehen ... n, ein R ... Riesenpferd, und es war sch ... schwarz“, Moakin stand auf, fuchtelte mit den Armen in der Luft herum und wurde immer lauter, „ga ... ganz schwarz und es hatte eine Blässe wie eine Sichel auf der Stirn! Und es hat mir direkt in die Augen geschaut!“
Ein Stöhnen aus dem Hinterzimmer unterbrach den Jungen. Helmin legte das Messer zur Seite, stand auf und wischte sich die Hände an der Schürze ab: „Schneid’ noch etwas von dem Schinken rein, aber nicht zu viel. Sie ist bald fertig. Ich muss nach ihm sehen.“
Er wusste nicht, ob er wütend sein sollte, weil sie ihre Unterhaltung so plötzlich unterbrochen hatte oder eher dankbar, dass die Suppe schon fast fertig war. Moakin spürte eine große Leere in seinem Magen und entschied sich für Letzteres.

***

Helmin betrat hastig das Zimmer. Eigentlich gab es keinen Grund, sich zu beeilen. Es war nur eine Frage der Zeit, wann der Halbe von ihnen gehen würde. Sein Zustand hatte sich in den letzten Tagen schnell verschlechtert und das Wetter in Verbindung mit dieser zugigen Hütte machte eine Heilung unmöglich. Er hatte hohes Fieber und Schüttelfrost. Immer wieder fing er an zu fantasieren. In den zwanzig Jahren, die sie ihn nun schon kannte, hatte er nie mehr als drei Worte auf einmal verloren. Und nun hätte er mit seinem fiebrigen Gefasel wohl ganze Hofgesellschaften Abende lange unterhalten können. Das heißt, wenn es überhaupt zusammenhängende Geschichten waren, denn sie verstand kein einziges Wort.
Es war sonderbar. Sie hatte schon oft bei Fieberkranken gesessen und viele davon hatten fantasiert. Meist hatte es sich um ein Erlebnis oder ein Problem gehandelt, das durch Albträume verzerrt wurde. Aber dieses Mal hatte sie, obwohl sie kein Wort verstand, das untrügliche Gefühl, dass es sich um ganze Erinnerungen des Kranken handeln musste, die dieser recht normal betont mit flatternden Augenlidern erzählte. Allerdings mussten es Albträume sein, denn immer wieder verfiel die relativ normale Erzählstimme in Panik und es fiel ein Wort. Gorboir oder Gordobir. Manchmal war auch direkt danach ein zweites zu hören. So etwas wie Garesch oder Gebesch.
Letzte Nacht hatte sie beinahe den Priester gerufen. Sie musste kurz eingenickt sein und wurde von dem Schreien des Halben geweckt. Er hatte das Wort wieder gerufen, nur dieses Mal verrenkte sich sein ausgemergelter Körper in den Laken auf beinahe unnatürliche Weise. Er krampfte so stark, dass sie Angst um seine Zunge gehabt hatte. Auf einen Schlag war er aufrecht im Bett gesessen, hatte mit klarem Blick in die Ferne geschaut, als ob er durch die Wand sehen könnte, und auf etwas gedeutet. Er hatte kräftig und beinahe riesig gewirkt und dann zu sprechen begonnen. Ihr war es kalt den Rücken hinunter gelaufen. Dieselbe unverständliche Sprache wie sonst auch, nur die Stimme war die eines Dämons gewesen. Das hatte sie instinktiv gespürt.
Das Nächste, an das sie sich erinnerte, war, dass sie morgens auf dem Boden aufwachte. Ohne den Beigeschmack der schlaftrunkenen Nachtstunden glaubte sie nun, selbst nur einen Traum gehabt zu haben. Bei dem Gedanken an diesen Traum und mit den Händen in der Wasserschale fröstelte sie.
Helmin trocknete ihre Hände an ihrer Schürze und deckte den Kranken wieder zu. Im Augenblick lag er friedlich beinahe selig auf dem Bett und wirkte entspannt. Er murmelte etwas vor sich hin.
Sie hörte ein Geräusch und wollte gerade aufstehen, als Moakin sie rief: „Mutter, k ... k ... komm schnell, dass m ... musst du gesehen haben!“
Rasch stand sie auf und verließ das kleine Zimmer. Ihr Sohn stand mit dem Rücken zu ihr in der offenen Tür.
„Moakin, mach die Tür zu. Es ist doch so bitterk ...“ Sie war hinter ihn getreten, um die Tür zu schließen, als ihr Blick nach Draußen fiel. Erst jetzt wurde ihr bewusst, woher das Geräusch stammte, das sie vorhin gehört hatte.
Vor der Hütte saßen Raben. Hunderte wenn nicht tausende. Es musste ein riesiger Schwarm sein. Der Boden war vor lauter schwarz glänzendem Gefieder kaum zu erkennen. Es schien, als ob die Raben die beiden Menschen in der Tür anstarrten.
Die Augenblicke verstrichen und man hörte nur das leise Pfeifen des Windes und das Krächzen der Raben, das ebenfalls leiser wurde. Stille. Selbst wenn Helmin gewollte hätte, sie hätte sich nicht rühren können.
Ein Ächzen zerbrach die Ruhe, ein Ächzen, das Steinmauern von sich geben, kurz bevor sie zusammen fallen, ein Ächzen, das riesige Bäume von sich geben, bevor sie stürzen. Es kam aus dem hinteren Zimmer.
Ein Ziegel löste sich vom Dach und schlitterte erst langsam und dann immer schneller und lautstark die Schräge herab, bis er sich vom Dach löste und frei fiel. Die Zeit schien wieder still zu stehen. Helmin nahm alles gleichzeitig war. Die Raben, den Ziegel in der kalten Luft, den dämmrigen Himmel und die Holzhütte, die ihr jetzt noch baufälliger vorkam.
Nach einer kleinen Ewigkeit zerschellte der Ziegel auf dem alten Schleifstein, der von Efeu überwuchert vor der Hütte stand. Als wäre das ihr Signal, flogen alle Raben auf einmal davon. Zurück blieben Moakin und Helmin, die wie festgenagelt in der Tür der kleinen Hütte standen und in die menschenleere Landschaft blickten. Helmin fand als erste die Worte wieder: „Komm rein!“

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