Kreis

In diesem Forum kann sich jeder mit seinem Text der Kritik des Publikums stellen. Selbstverständlich auf eigene Gefahr ...
artificus
Kerberos
Beiträge: 7
Registriert: 14.07.2011, 10:22
Kontaktdaten:

Kreis

Beitragvon artificus » 20.01.2014, 00:32

Kreis - Aus Feuer geboren, aus Schmerz geschmiedet


Kaum war ich mir meiner selbst bewusst, begannen sie schon, mich zu formen, mich zu biegen, mich zu schmieden, bis ich in die gewünschte Form mich gab. Sie zwangen, pressten, schlugen mich, bis ich endlich so war, wie sie mich haben wollten. Und schließlich wurde ich, was man von mir verlangte. Denn ich hielt diese Folter nicht mehr aus.
Zum Abschluss meiner „Ausbildung“ verliehen sie mir einen prächtigen Schmuck: eine Krone.
Stolz war ich nicht. Nicht stolz der Tortur entronnen zu sein, nicht stolz der Krone – fast jeder hier bekam so einen Schmuck, so dass am Ende keiner von uns über den anderen hinausragte.
Dass ich die Situation akzeptierte, hieß nicht, dass ich mich wohl fühlte. Nach einiger Zeit begann ich, die Hitze des Feuers zu vermissen, auch wenn sie mich beinahe vernichtet hätte. Die Kälte hier draußen war ebenso ungewohnt wie unangenehm.

Dann begann das Posieren und Präsentieren. In Reih und Glied aufgestellt, von oben bis unten ordentlich geschniegelt und gestriegelt, wartete ich gemeinsam mit den anderen. Worauf wir warteten, wusste niemand.
Wer die anderen waren, wusste ich nicht. Ich wusste nur, dass wir hier gemeinsam warten sollten. Auf etwas. Wir hatten zu warten und uns hier zu präsentieren. Tag ein, Tag aus.
Einer flüsterte einmal heimlich, wir alle seien Brüder. Ich glaubte ihm nicht, denn wir alle waren unterschiedlich, das konnte man deutlich sehen. Wären wir Brüder, müssten wir uns wenigstens ein wenig ähneln. Nur in unserer Pracht glichen wir uns.
Nach und nach dünnten sich unsere Reihen aus. Mehr und mehr von uns wurden auserwählt und verschwanden. Wohin? Das wusste ich damals noch nicht. Doch kaum waren sie verschwunden, rückte die nächste Generation nach, um die Lücken zu füllen. In Aussehen und Gestalt nicht viel anders als ihre Vorgänger.

Dann wurde auch ich aussondiert. Die Musterung war erniedrigend: jeder Quadratmillimeter wurde genauestens untersucht und bewertet. Ich empfand tiefe Scham wegen der unreinen Stellen meines Körpers, die nicht der Norm entsprachen. Trotz der Folter hatte ich die Prägung wohl doch nicht so einverleibt, wie ich glaubte.
Dann brachten sie mich fort. Auch ich würde also ersetzt werden, durch jemanden, der fast genauso aussah wie ich. Und niemals würde ich zurückkehren, an den Ort des Wartens...
Es dauerte eine Weile, bis ich merkte, dass man mich trotz meiner Mängel für genügend befunden hatte...

Und dann traf ich sie. Meinerseits war es vielleicht nicht Liebe auf den ersten Blick, dennoch erkannte ich bald, dass wir füreinander geschaffen waren. Ich passte. Da erste mal in meinem Leben passte ich irgendwo hin. Das erste mal in meinem Leben wollte ich passen.
Ihre Wärme war anders als die Hitze des Feuers, nicht schmerzend, nicht brennend und verzehrend. Ihre Wärme spendete Trost, ihre Geborgenheit gab mit Kraft.
Die besten meiner Jahre verbrachte ich mit ihr. Alles taten wir gemeinsam, nur selten trennten wir uns voneinander, und wenn, dann niemals für lange. Sicher, über die Zeit fing ich mir ein paar Kratzer ein, und meinen ursprünglichen Glanz verlor ich auch. Dennoch: niemals wieder in meinem Leben war ich so glücklich.

Doch nichts währt ewig. Sie ging. Und nachdem ich lange allein getrauert hatte, brach auch über mich die große Dunkelheit herein. Man steckte mich in eine enge, muffige Holzkiste und ließ mich dort. Fast so wie damals, als man mich einfach zum Präsentierplatz gebracht hatte, ohne Anweisungen, ohne Forderungen. Nur um zu warten. Und so tat ich es auch in der Kiste. Ich ignorierte die Enge und die Dunkelheit und wartete.

Nach einer Weile merkte ich, dass ich nicht allein war. Ich teilte die Kiste mit einer Rolle Garn, ein paar Knöpfen und einem herrenlosen Schlüssel. Zumindest behaupteten sie, eine Rolle Garn, Knöpfe und ein Schlüssel zu sein. Da ich nicht das Geringste sehen konnte, war ich nicht sicher, ob sie die Wahrheit sagten. Vielleicht waren die Knöpfe nur Münzen aus vergangener Zeit, ohne Wert. Und das Garn ein einziger loser Faden. Und der Schlüssel nur ein Stück Metall ohne Funktion.
Lange Zeit verweilten wir gemeinsam in dieser dunklen und engen Kiste. Irgendwann ging ihnen der Gesprächsstoff aus. So schwiegen sie. Ruhig war es.
Manchmal rappelte die Kiste. Manchmal rappelte sie so doll, dass wir ordentlich durcheinander geworfen wurden. Manchmal landete ich so neben dem Schlüssel und spürte sein unebenes, kaltes Metall. Manchmal rollte ich bei einer Erschütterung über die Knöpfe hinweg. Einmal landete ich auch neben der Rolle Garn. Dort lag ich gern, weich und warm.

Irgendwann öffnete sich die Kiste. Geblendet von dem gleißenden, brennenden Licht, bemerkte ich zu spät, wie Garn, Knöpfe und Schlüssel entsorgt wurden. Nicht, dass ich etwas dagegen hätte unternehmen können – doch verabschiedet hätte ich mich gern.
Mich musterte man wieder langanhaltend und ausdauernd. Diesmal empfand ich keine Scham. Ich war nun mal, was ich war. Ich war mit allen Ecken und Kanten, mit jedem Kratzer und jeder Delle ich. Selbstbewusst hielt ich den prüfenden Blicken stand.
Doch dann beraubte man mich meines Schmucks. Nichts hätte mich tiefer treffen können. Ohne ihn, ohne meine Krone, war ich nichts. Nur ein Stück Metall ohne Funktion.

Man brachte mich fort. Überraschenderweise brachte man mich zu anderen meiner Art, andere gegen ihren Willen Verschleppte, nackt, enteignet.
Ringe, Armreife, Halsketten, Ohrringe, sogar ein paar Diademe waren unter ihnen. Alle ihrer Schmucksteine beraubt, kahl und schmucklos, aufgehäuft in einer Kiste, bereit zum Abtransport. Und wieder waren wir alle gleich, glichen uns in unserem Elend, unserer Nacktheit.
Wir schwiegen. Zu tief schmerzte uns der Verlust dessen, was man zu sein uns aufgezwungen hatte und zu dem wir schließlich geworden waren. Nun waren wir nichts mehr.
Dann überreichte man uns dem Feuer. Ich hatte schon lange nicht mehr an es denken müssen – den Schmerz der züngelnden Flammen auf meiner Haut hatte ich vergessen. Nun war er wieder da, grausamer als jemals zuvor. Er vernichtete jeden von uns. Alles war wir waren, verschmolz im Schmerz – jeder Kratzer verschwand, jede Delle verschmolz, jede Geschichte verloren. Auf das aus uns allen etwas neues entstehe, damit die Reihen der Wartenden stetig aufgefüllt werden.



Im Schmerz begann es, im Schmerz endet es. Und so schließt sich der Kreis.

Zurück zu „Texte“

Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 42 Gäste