Mein Geburtstag

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Hamburger
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Mein Geburtstag

Beitragvon Hamburger » 07.02.2014, 11:54

Wie sieht das eigentlich aus, wenn ich mir an meinem Geburtstag so richtig was gönne? Viel zu oft ist mir diese Frage zuletzt gestellt worden. Inspiriert vom Projekt der totalen Abschaffung der Privatsphäre (Piraten, Linksradikale, NSA) habe ich einen detaillierten Tagesplan angefertigt…

6:00 Uhr: Mein Wecker klingelt. Ich drücke drauf, drehe mich lächelnd um. Der Kampf hat begonnen.

6:08 Uhr: Das Scheißding schrillt erneut. Haue energischer zu. Wollen mal sehen, wer hier den längeren Atem hat. Ich oder die böse Macht, als die ich meinen Wecker schon in der Abiturzeit dank philosophisch eingehender Betrachtungen klassifizieren konnte.

08:00: Nach 15 Durchläufen steht es Unentschieden. Immer wieder schlummere ich ein, immer wieder bimmelt das blaue Ungetüm.

09:52 Uhr: Habe in meinen Acht-Minuten-Träumen längst Ursula von der Leyen zur Verteidigungsministerin gemacht und registriere in jeder neuen Episode fassungslos, was die Frau anrichtet. Deutschland inbegriffen kämpft die Bundeswehr mittlerweile mit einem Heer von 800.00 Männern, 1.500.000 Frauen und einer Extraarmee genmanipulierter Horror-Babys in 182 Staaten. Muss was anderes träumen.

10:05 Uhr: Mir fällt auf: von der Leyen ist Verteidigungsministerin. Bekomme einen Erstickungsanfall. Werde durch Wadenkrämpfe abgelenkt. Lebe weiter. Füttere meinen kleinen Katerschatz per Fernbedienung. Eine riesige Klappe mit Fleisch, Fisch, Milch und Nutella öffnet sich auf Knopfdruck in der Küche. Chip rennt hin und haut schmatzend rein.

10:27 Uhr: Träume von Pistazieneis. Lecker!

10:47 Uhr: Kurz vor dem 36. Alarmton der bösen Macht stehe ich auf. Der Wecker guckt mich traurig an. „Das hast du dir so gedacht! Aber nur ich entscheide heute, wann ich aufstehe!!! Nur ich!!!!!“ Plötzlich ein Gedankenblitz: „Die Verwendung von fünf Ausrufezeichen ist ein sicheres Zeichen dafür, dass jemand die Unterhose auf dem Kopf trägt.“ Befühle meine Zauselfrisur. Nichts. „Terry Pratchett kann mich mal!!!!!“ Mein Wecker piepst schluchzend vor sich hin. Ich streichle ihn und stelle ihn zu der Pinocchio-Figur, die ich gestern dem kleinen Nachbarsjungen geklaut habe.

10:50 Uhr: Erst mal was Fressen! Schweinebraten mit Rotkohl von gestern ist noch da. Dazu eine Riesenportion Chio Chips. Und ein Schokoladeneis auf Toast mit einem Löffelchen Marmelade. Spüle alles mit zwei Litern Cola runter. Jahaaa, so lässt es sich leben!

11:15 Uhr: Die Nachbarin klingelt. Bin nicht da.

11:20 Uhr: Entscheide mich gegen eine Dusche und höre mir „Nimm mich jetzt, auch wenn ich stinke“ von den „Doofen“ an. Volltreffer!

11:30 Uhr: Habe Bock auf Darten. Gehe ins Wohnzimmer. An der Wand hängen Ganzkörperfotografien meiner Ex-Freundinnen. Mitten ins Herz gibt 100 Punkte. Fokussiere mich wie Phil Taylor und töte JB gleich mit dem ersten Wurf. Beim Weiterwerfen wird mir klar: Ich habe nie was falsch gemacht. Immer waren die Frauen an allem schuld. Die Erkenntnis erquickt mich. Gehe grinsend zum DVD-Player und werfe einen Porno ein.

12:00 Uhr: Der Porno nervt. Die ganze Zeit werden die Männer als reine Fickmaschinen dargestellt. Fühle mich unzulässig unter Druck gesetzt. Schaue Arte und penne ein.

14:18 Uhr: Sonnenstrahlen kitzeln meine behaarten Nasenlöcher. Zeit fürs Mittagessen. Es gibt Radieschen mit Quark und Kräutersalz. Besser für die Linie.

14:58 Uhr: Die Nachbarin hämmert an die Tür, als gäbe es kein Morgen mehr. Ich reiße sie auf, rufe „Feuer, Feuer“ und starre sie entsetzt gestikulierend an. Im Hintergrund steht die Pinocchio-Figur im Flammen. Sie flieht mit angstgeweiteten Augen.

16:30 Uhr: Überlege, warum ich nie zu Ruhm und Ehre gekommen bin.

16:47 Uhr: Überlege immer noch.

17:05 Uhr: Es lag an den Umständen. Kann nichts dafür. Ach ja, die Gesellschaft, die Gesellschaft…

17:14 Uhr: Haue mir eine Tüte Haferflocken pur beim Film „Last Samurai“ rein. Heule bei der Szene, in der Katsumoto auf dem Feld der Ehre sein Leben lässt. „Sie sind alle vollkommen“, schluchze ich hemmungslos und vertilge noch zwei Dosen Erdnüsse als Nachtisch.

19:14 Uhr: Füttere Chip zum Abendbrot mit einer Buchstabensuppe. Frustrierend: Die Kombinationen „Angriff ist die beste Verteidigung“ und „Heidi Klum ist Deutschlands coolste Frau“ lassen sich ebenso bilden wie „Merkel bleibt noch zwanzig Jahre Kanzlerin“. Für „Im Mittelmaß lebt es sich gesünder“ fehlt leider ein „m“.

19:30 Uhr: Treffe eine Entscheidung. Will meinem Leben eine völlig neue Richtung geben. Ab morgen fange ich ganz von vorne an. Kehre zurück zum Ursprung, setze im biographisch Voraussetzungslosen an, komme infrage als alles und jeder, sehe die endlosen Möglichkeiten vor mir. Blitzgescheit und humanistisch will ich der Welt künftig entgegentreten. Wie Sylvester Stallone in Rocky IV werde ich meine ganze Kraft, meinen ganzen Glauben, meine ganze Liebe einsetzen für die Verbesserung der Welt. Werde mich stellvertretend für ihn mit dem System Putin anlegen, den Walfang zum Erliegen bringen und Sandra Bullock daran hindern, in weiteren Filmen mitzuspielen. Egal was passiert!

19:35 Uhr: Bin zufrieden, mir mal wieder klargemacht zu haben, dass ich mich jederzeit total anders verhalten könnte, wenn ich wollte.

19:45 Uhr: Beschließe die WM-Vergabe nach Katar zu recherchieren und der FIFA endgültig und unwiderruflich Bestechung nachzuweisen.

19:46 Uhr: Stelle fest, dass dafür Englischkenntnisse notwendig sind. Will Fremdsprachen weiter hassen und begrabe die Recherche.

19:47 Uhr: Öffne mein Küchenfester und rülpse so laut ich kann.

20:00 Uhr: Habe heute noch gar nicht gewichst. Gucke mir im Netz ein paar Pornos an und los geht’s.

20:58 Uhr: Bin erschöpft.

21:00: Sehe mir eine Folge "Wildfire" an. Hauptsache, dem Pferd geht's gut!

22:02 Uhr: Esse zwei After Eight und muss kotzen.

22:15 Uhr: Rufe bei der Telefonseelsorge an und lasse mich trösten, weil als ich vier war mein Hamster an einer Lungenentzündung gestorben ist. Befürchte, nicht in den Himmel zu kommen, weil ich ihn mit einer Sprühflasche bespritzte. Die Frau am anderen Ende der Leitung versichert mir die Zuneigung Gottes. Mit dem Hamster ist sowieso alles paletti. Er ist im Tierhimmel und isst gerade Lasagne, sagte sie. Selig lächelnd lege ich auf.

22:58 Uhr: Gleich kommt Harald Schmidt. Bin aufgeregt.

23:02 Uhr: Hab gar kein Sky. Scheiß ARD! Obwohl: Läuft die Sendung überhaupt noch? Google sagt: Bis 13. März. Na okay. Scheiß ARD!

23:33 Uhr: Denke ernsthaft darüber nach, Buddhist zu werden, während ich eine um meine Flurlampe schwirrende Motte mit dem Besen sachte Richtung Wohnzimmer treibe und dort brutal mit dem Duden von 1996, den ich mir wegen der Rechtschreibreform anschaffte, am Schrank des Bücherregals exekutiere. Lege eine Gedenkminute für die Motte ein, taufe sie Willi Winzig und zünde eine Kerze für sie an.

23:35 Uhr: Werde Buddhist. Feiere die Entscheidung mit einem wilden Rap zu „Das Urteil“ von Kool Savas auf Youtube. Die Nachbarin läutet wutentbrannt. Öffne das kleine Guckfenster an der Tür und werfe die Asche der Pinocchio-Figur zu ihr raus.

23:45 Uhr: Notiere mir imaginär eine Liste von Büchern, die ich mir jetzt umgehend besorgen muss. „Der kleine Prinz“, „Das Kapital“, eine rororo-Monographie von Niccolò Macchiavelli und das Buch „Ich bleib so scheiße, wie ich bin“ ergeben einen eindrucksvollen Stilmix. Nehme befriedigt die Bandbreite meiner literarischen Interessen zur Kenntnis.

23:59 Uhr: Schlafe beim Lesen von „Pu, der Bär“ zufrieden ein. Chip kuschelt sich bei mir an. „Eigentlich“, sage ich zu ihm und denke an Ödön von Horváth, „sind wir beide ganz anders, nicht wahr?“ „Ja“, mauzt mein kleiner Schatz, „aber mach dich nicht so breit, ich will eine Seekuh imitieren…“

[) i r k
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Re: Mein Geburtstag

Beitragvon [) i r k » 09.02.2014, 01:24

Ich musste sehr lachen... :rofl:
"du trittst da fast in die fußstapfen des unseligen dr goebbels und seiner zensur und verdammungsmaschine." (Ralfchen)

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Re: Mein Geburtstag

Beitragvon Hamburger » 09.02.2014, 23:20

Fein. Dann habe ich es ja wenigstens nicht umsonst geschrieben. :-)


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