Ein Freund

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Pentzw
Kalliope
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Ein Freund

Beitragvon Pentzw » 26.04.2014, 22:13

Vorsehung oder nicht, aber ich dachte eines Tages, Mensch, Thorston, wo ist der wohl verblieben? Wohin hat es ihn verzogen? In eine andere Stadt, in eine anderes Land? Oder lebt er doch hier irgendwo im Ballungsraum?
Bis ich ihm plötzlich im Bahnhof begegnete, aufgescheucht und die strähnigen, schmierigen Resthaare zu Berge stehend, sich beklagend, dass man bei ihm eingebrochen habe. Er erzählte zudem erzürnt, dass vor kurzem sein Vater den Löffel abgegeben habe, kurz nachdem auch seine Mutter verstorben war. Er war nicht minder empört über seinen Vater als über den Einbruch.
Einige Wochen später saß er wieder vor mir, in der U-Bahn vis-á-vis: dunkelbrillig, verschmierte Haare, eine Tonsur wie ein Mönch, dessen Strukturen von einem deutlich blauen Adern-Geflecht übersät war. Rucksack und einen riesigen Korb, in dem quer durcheinander allerlei Essbares herumkullerte, vervollkommneten das Wiedererkennungsmerkmal.
Ich gab ihm meine Karte.
Nach ein paar Wochen kamen Briefe in einem Abstand von zwei Wochen zunächst, dann Wochen, dann Tage. Es waren Blätter mit Notationen von Harfemusik aus dem 12. Jahrhundert. Daraus beabsichtigte er ein Buch zu machen – mit Hilfe von mir.
Wie leben im 21 Jahrhundert, richtig? Wen könnten Lieder auf Englisch, transportiert von der Harfe auf die Gitarre, Flöte oder welches moderne Instrumente auch immer, heutzutage noch interessieren?
Ich dachte weiter nicht darüber nach, reihte die Briefe einfach ein, fuhr in den Urlaub, und als ich wiederkam, stand er vor meiner Tür. Am Rücken dieses Mal seine spanische, weiße Gitarre.
Also gut!
So machten wir uns an die Arbeit. Jeden Samstag, unter der Woche musste er malochen, dreckige, schäbige, ausbeuterische Arbeit, aber er wollte eine Buch mit Liedern aus dem Mittelalter herausbringen, koste es was es wolle.
Von mir aus.
Dabei war sein Englisch hundsmisserabel. Trotzdem war er voll des Eifers, nimmermüde erzählte er den Inhalt dieser oder jener Geschichte, Stories, die er in den Archiven des Vatikans kopiert hatte, Weisen mit bis zu 15 Strophen, die vorzutragen, sich über Stunden erstrecken mussten und welche zur damaligen Zeit überall im christlichen Abendland bekannt gewesen waren.
Zum Beispiel folgendes Lied „The Way went into the Light?“

Eine Gruppe Kreuzritter verirrt sich in den Bergen der Alpen. Sie gelangen an eine Schlucht und stürzen beinahe hinab, werden aber von einem Engel gewarnt. Plötzlich überfallen sie Feinde in einem Tal, wo sie ihr Nachlager aufgeschlagen haben, können diese jedoch in die Flucht schlagen. Erschöpft schleppen sie sich an einen Wasserfall, der auf ein Mal zu einem Weinfall wird. Freudig betrinken sie sich, schlummern ein und als sie vom Rausch erwacht die Augen aufgeschlagen, gewahren sie endlich einen Schneise durch den dunklen Alpenwald, von der die Sonne her scheint und ihnen zukunftsweisend und Licht spendend den Weg weist.

In seiner Sprache klingt diese Geschichte allerdings anders.
Eine Schar verwilderter Kreuzzügler verirrt sich im Wald hoch oben in den Bergen. Bevor sie in eine Schlucht stürzen, schreit ein Enge plötzlich laut: He, passt Mal auf Eueren Weg da auf, ihr Blindhühner. Als sie in einem Tal die Zelte aufschlugen, fielen ein paar Wegelagerer über diese her, die sie natürlich locker in die Flucht schlugen. Dennoch angeschlagen, robbten sie zum naheliegenden Wasserfall, der sich da plötzlich um die Ecke bemerkbar gemacht hat. Sowie sie sich daran den Durst stillen wollten, entdeckten sie, dass das Wein war. Volle Kanne tranken sie davon, hauten sich aufs Ohr und als sie ausgepoft hatten, sahen sie da ein Licht, dass durch den Wald durch eine Schneise auf sie herabschien. Das war ihr Weg. Ab der Fisch!

Ich schaue mir Thorston genauer an und nehme einen Schluck aus meinem Römerglas.
Er schafft es immer wieder, mich in Erstaunen zu versetzen.
Seine klobigen, dreckigen Hände mit den vor Schmutz stakenden Fingernägeln machen einen ungepflegten Eindruck. Klar, dass es mir ins Auge sticht, liegt daran, dass ich offenbar in anderen Verhältnissen lebe. Glücklicherweise!
Dazu seine schwarzen und verdreckten Zähnen, inmitten darin eine klaffende Lücke.
Als wäre er selbst aus dem Mittelalter hierher ins 21. Jahrhundert verschlagen worden.
Mir schaudert bei diesem Anblick. Zweifelsohne führt er ein hartes Leben mit harten Arbeitsbedingungen, zurzeit durchaus üblich. Aber ein Buch mit Liedern aus dem 12 Jahrhundert herausbringen wollen, wenn er sich offensichtlich nicht selbst mal einen vernünftigen Zahnarzt leisten konnte?
Natürlich, einige Leser mögen zurecht einwenden, solch ein Projekt kann sich nur ein Professor für Mediävistik leisten, sofern er dieses überhaupt von der Deutschen Forschungsgesellschaft gefördert bekommt, aber ein Schichtarbeiter doch nicht!
Okay, Thorsten, Dein Freund, ganz klar, ist Alkoholiker, weil nur jemand begeistert sein kann von solchen Geschichten, wo sich Wasserfall in Weinfall wandelt, wenn er selber einer ist.
Falsch! Keinen Tropfen rührt er an.
Moment, wahrscheinlich dann halt Trockener Alkoholiker.
Nicht mal das. Er ist nicht einmal mehr Raucher. Im Gegensatz zu mir.
Zwar trinke ich hin und wieder gerne einen guten Schluck Wein, was aber kaum der Rede wert ist.
Und wenn mich jemand fragt, was ich mich ständig frage, wenn ich mich mit solchen Menschen, die plötzlich aus dem Nichts auftauchen, und mit solchen Geschichten auseinandersetze, die diese weiß der Teufel woher anschleppen, dann weiß ich keine Antwort.

Noch etwas. Ich weiß, was Sie denken. Das mit der Vorsehung und so, das klingt viel zu märchenhaft: Man sehnt sich nach einem Menschen, den man jahrlang nicht gesehen hat, plötzlich taucht er auf wie Rumpelstilzchen oder so ähnlich und versorgt einem mit Gold und so, für einen Schriftsteller wie mich mit Geschichten eben, um im Bilde zu bleiben. Das glaubt mir keiner.

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