Verschwörungstheorien

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Silentium
Mnemosyne
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Verschwörungstheorien

Beitragvon Silentium » 23.03.2004, 19:35

Da Herr Eiter ja zur Paranoia aufruft, dachte ich mal ganz allgemein, also, so nebenbei, man könnte man euch ja auch wieder mal auf Prosa herumhacken lassen.

Mechanische Kraken und grüne Schuhe

Sobald man in einem Kaffeehaus den Kaffee Café schreibt, wird Schwarzteetrinkern nur noch mit Küchenkastenstaub verschnittener Pompadour serviert. Entaromatisiertes, mehrmals aufgewärmtes Wasser in dem- um den Schein zu wahren- apathisch ein Teebeutel hängt und sich langweilt.
Leonard Hofbauer legte einen Würfel Zucker auf seinen Löffel, senkte ihn, den Tassenrand als Kipppunkt nutzend, ab und beobachtete, wie das Zuckerweiß sich mit Tee voll sog und dunkler wurde.
Obwohl er noch nicht wirklich alt war, begann sich sein Haar an den Schläfen bereits zu lichten. Sein Gesicht war rundlich und rötlich, die Nase spitz und wie die eines Kaninchens zitternd, wenn er nervös war, die Augen klein und treuherzig. Solche Menschen wünscht man sich hinter dem Fahrkartenschalter, wenn man in Eile ist. Sie versprechen Zuverlässigkeit und hohe Toleranz gegenüber schlecht gelaunten Kunden. Menschliche Stoßdämpfer im sozialen Gefüge einer leicht reizbaren Gesellschaft.
„Ist der Platz hier frei?“, fragte jemand. Leonard blickte auf.
„Bitte… setzen Sie sich.“
„Danke.“
Er musterte seinen Gegenüber- seinen dunkelhaarigen, blassen Gegenüber- der außer ihm der einzige Gast im gesamten Lokal zu sein schien. Um sie herum ein Wald leerer Tische, bewohnt von durchweichten Glasuntersetzern, liegen gelassenen, benutzen Taschentüchern und halbleeren Gläsern.
In einem Anflug psychologischen Scharfsinns erkannte Leonard, dass der junge Mann mit jemandem sprechen wollte.
„Kann ich etwas für Sie tun?“, erkundigte er sich daher.
„Ich will Sie nicht belästigen, nein, das würde ich nie wagen, also, lassen Sie sich bitte nicht stören.“
Leonard seufzte erleichtert auf, hatte jedoch nicht genug Zeit, den Blick wieder zu senken. „Allerdings, wenn ich es recht bedenke, dann müssen Sie mir zuhören, es ist dringend, das Schicksal der Menschheit hängt davon ab und Sie sind der einzige, der hier ist, dem ich es anvertrauen könnte.“
„Aha.“, machte Leonard.
„Mein Name ist hier nicht von Bedeutung- Rudolf Sterner, im Übrigen, sehr erfreut, ihre Bekanntschaft zu machen Herr…“
„Hofbauer.“, sagte Leonard.
„Herr Hofbauer, also, wie ich sagte, ich muss mich jemandem anvertrauen.“
„Und… was kann ich für Sie tun?“
Rudolf Sterner beugte sich zu ihm vor, sah ihm tief in die Augen und senkte die Stimme:
„Eine Verschwörung zur Erringung der Weltherrschaft.“
Oha, dachte Leonard, einer von DER Sorte.„Und –ähm- wie kommen Sie zu dieser Information?“
„Psst! Nicht so laut! Ich habe meine Quellen, ich habe meine Quellen, habe sie von geheimster, sicherster Quelle, meine Information. Die Verschwörer gehören der Gruppe der buddhistisch-calvinistischen Ökologiebefreiungsfront für Jesus und die heilige Barabara an.
Sie haben mittlerweile ein weit verzweigtes Netzwerk in fast allen Ländern der Erde- der Vatikanstaat und Bahrain dürften meinen Informationen zufolge eine Ausnahme bilden. Sie planen, zuerst die Weltbevölkerung drastisch zu reduzieren. Dann, wenn nur noch ein Viertel der heutigen Menschheit am Leben ist, beabsichtigen sie, die Lücke mit Klonen von Udo Jürgens zu füllen, die in eigenen Laboratorien auf dem Mond gezüchtet werden. Die Regierung weiß davon, tut nichts dagegen, weil auch sie schon infiltriert ist. Die Bevölkerung ist ahnungslos. Aber ich weiß es- heute, heute ist der Beginn der Aktion „Ausrottung“ geplant. Und es wird hier beginnen, in dieser Stadt.“
Er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, mit der anderen umfasste er seinen eigenen Hals- eine offensichtlich unterbewusst gesteuerte Bewegung, der Urinstinkt, in Gefahrsituationen die Kehle zu schützen.
„Und wie… wie wollen sie die Menschheit ausrotten?“, erkundigte sich Leonard vorsichtig und nahm noch zwei Zuckerwürfel aus der Schale vor sich.
„Oh- sie haben mehrere Methoden! In sämtlichen Weltmeeren sind riesige U-boote in Gestalt von dreizehnarmigen Riesenkraken stationiert. Sobald ihnen der Befehl dazu gegeben wird, werden sie die Küstenregionen ansteuern und sich Touristen zeigen. Sie sind auf gestreifte Bermudashorts und Fotoapparate programmiert. Diese Sichtungen werden wochenlang auf den Titelblättern aller wichtigeren Tageszeitungen sein- damit, so hoffen sie, werden sie der Tintenfisch-und-Scampi-Industrie einen schweren Schlag versetzen. Wer isst schon gerne Meeresfrüchtepizza, wenn er weiß, dass der große Bruder seines Imbisses dort draußen lauert? Die Krise, in die die Wirtschaft der Mittelmeerländer daraufhin geraten wird, wird den Weltmarkt mitreißen- Börsenchrashs, Unsicherheit, Panikkäufe, Amokläufe.
Zusätzlich sind ein comeback-Konzert von Elvis, Auftritte von E.T. in mehreren Talkshows, das Erscheinen der Memoiren Arnold Schwarzeneggers am europäischen Buchmarkt und ein Krieg zwischen Amerika und Luxemburg in Planung.
Ist die Weltbevölkerung einmal demoralisiert, wird es leichter, Panik zu verbreiten um dann im Hintergrund zu operieren. Dann beginnt der versteckte Terror, auf den niemand mehr achtet, weil er zuerst ungefährlicher scheint, als das, was die Bürger der Welt jeden Tag offen auf den Straßen erleben werden.“
„Bombenattentate?“, erkundigte sich Leonard und rührte den vierten Zuckerwürfel in seinen Tee. Rudolf Sterner schüttelte heftig den Kopf und begann auf seinem Stuhl vor und zurück zu wippen.
„I wo! Bomben sind passé! Jeder dahergelaufene Wochenendterrorist kommt mit Bomben! Nein- die buddhistisch-calvinistischen Ökologiebefreiungsfront für Jesus und die heilige Barabara hat besseres zur Verfügung. Biologische Kampfführung. Noch heute beginnt es, heute, heute sind die ersten Todesengel unterwegs.“
„Ach.“, machte Leonard. Würfelzucker fünf und sechs landeten in der Tasse.
„Todesengel, sage ich Ihnen, Todesengel. Menschen, die bereit sind, sich für die Befreiungsfront aufzuopfern. Ihnen wurde vor zwei Tagen ein Erreger injiziert- Inkubationszeit zwei Tage- der innerhalb von weiteren zwei Tagen zu ihrem Tod führen wird. Sie sind jedoch hoch ansteckend und bis zu ihrem Ableben wird ein jeder von ihnen hunderte von Menschen infiziert haben. Da die Krankheit- eine Abart der Hühnergrippe, die man in den Mondlabors mit dem Fußpilz gekreuzt hat- einen sehr, sehr schmerzhaften Tod zur Folge hat, führt ein jeder von ihnen eine Selbstmordpille mit sich. Sobald die Symptome- juckender Ausschlag, Krämpfe im rechten großen Zeh und Herzflattern- unerträglich werden, betrachten sie ihre Mission als erfüllt und legen sich auf eine Parkbank zum Sterben nieder. Damit erreichen sie, dass auch noch etliche Spaziergänger und die Polizei, die sich um den Leichenfund wird kümmern müssen, angesteckt werden. Ja, der Ausschlag ist besonders schlimm!“
Während er sprach, wurde seine Stimme immer leiser, immer verzweifelter. Nun schluchzte er auf: „Ich flehe Sie an, Herr…“ –„Hofbauer“- „Herr Hofbauer, Sie müssen die Leute warnen!“
Er vergrub den Kopf in den Armen und weinte hemmungslos. „Grüne Schuhe… grüne Schuhe mit orange Sohlen, daran erkennen Sie sie. Daran erkennen Sie die Attentäter.“
In diesem Moment betraten- sehr zu Leonards Erleichterung- zwei in weiß gekleidete Männer das Kaffeehaus. „Rudi! Ja, da bist du ja! Bist deinem Betreuer weggelaufen… tststs… das darfst du aber nicht!“, rief der eine von ihnen, der andere wandte sich an Leonard: „Hat er sie belästigt? Wissen Sie, fremde Menschen machen ihm Angst. Es war ein Fehler, ihn auf den Ausflug mitzunehmen. Er hätte in der Anstalt bleiben sollen, wie sonst auch. Komm Rudi, tu nicht weinen, Rudi, ist ja nicht so schlimm. Jetzt bekommst du eine Spritze und dann bringen wir dich heim.“
„Ja. Heim.“, sagte Rudolf, richtete sich auf, verbeugte sich feierlich vor Leonard, lächelte ihm aufmunternd zu und ließ sich von seinen Pflegern ohne Anstalten wegbringen.

Leonard blieb noch eine Weile sitzen und rührte weiter Zucker in seinen Tee, bis er begann, am Tassenrand auszukristallisieren. Dann war es Zeit. Er stand auf, zahlte und trat hinaus auf belebte Straße, wobei er sich gedankenverloren zuerst am Arm und dann am Hals kratze.
„Seltsame Schuhe.“, meinte eines der Serviermädchen zu seiner Kollegin.
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Re: Verschwörungstheorien

Beitragvon razorback » 26.03.2004, 22:53

Was kannst Du eigentlich NICHT?

"Barabara..."
"Tu nicht weinen..."

Und einer der besten ersten Sätze, die ich je gelesen habe.

Okay - das Ende war nicht so überraschend. Aber ist das nicht sowas von scheissegal? Ja, ist es.

Du schreibst grossartig. Einfach grossartig.
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Silentium
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Re: Verschwörungstheorien

Beitragvon Silentium » 26.03.2004, 23:23

Was kannst Du eigentlich NICHT?

Reichen Stichwörter?

Hm. Jau, das Ende is' absehbar. War mit Enden noch nie wirklich per "du". Suspekt, direkt suspekt, sind mir Enden...
*grübelgrübelgrübel*

Erfreut, wenn's dir gefällt,

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Re: Verschwörungstheorien

Beitragvon Edekire » 31.03.2004, 00:23

Oh, ich kann mich razors Urteil nur anschließend, gefällt mir auch außnehmend gut. All diese hübschen kleinen Seitenhiebe und Deteils, wie diese Schuhe. Der Erste Satz ist auch toll. Dann interessiert auch nicht mehr, dass das Ende nicht so überraschend ist.

Hm, das ist ja eine außnehmend diffenzierte Kritik, die ich hier zustande gebracht habe. Naja, loben geht eben schneller als mosern. Eigentlich komisch.

Was solls

Edekire
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Re: Verschwörungstheorien

Beitragvon [) i r k » 06.04.2004, 00:20

Verdammt gut, Silentium ... Bravo!

Und das Ende finde ich gar nicht so schlecht!
"du trittst da fast in die fußstapfen des unseligen dr goebbels und seiner zensur und verdammungsmaschine." (Ralfchen)

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Re: Verschwörungstheorien

Beitragvon Herbert Eiter » 11.04.2004, 00:30

Ach, das hätte ich beinah übersehen, bin ja nicht so oft in diesem Wurschtelforum.

Eine herrliche Geschichte! Sie sind eine hervorragende Verschwörungstheoretikerin!

Das mit dem Kratzen am Ende würde ich aber weglassen ... das ist so ne Art, den Leser mit der Nase drauf zu stupsen. Der Hinweis mit den Schuhen reicht vollkommen.

Bis dann,
Herbert
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Re: Verschwörungstheorien

Beitragvon Silentium » 11.04.2004, 01:33

Das mit dem Kratzen am Ende würde ich aber weglassen ... das ist so ne Art, den Leser mit der Nase drauf zu stupsen. Der Hinweis mit den Schuhen reicht vollkommen.

Guter Hinweis! Werd ich ändern.
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Matthias
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Re: Verschwörungstheorien

Beitragvon Matthias » 16.08.2004, 14:11

Hallo!

Habe den Text gelesen, fand ihn sehr amüsant. Nur das Ende hat mich verwirrt, aus folgenden Gründen:

Ich gehe davon aus, a) dass der Irre (sorry, meinte natürlich Rudi) mit seinen Theorien Recht hat, b) Leonard einer der Todesengel mit den grün-orangenen Schuhen ist.

Womit sich für mich die Frage stellt, warum Rudi ihn nicht als solchen erkennt ...

Weitere Kritikpunkte, die nicht wirklich wichtig sind: Das "Café" im ersten Satz würde ich mit Anführungszeichen schreiben, da es sich ja um das Wort, nicht um den Café handelt; der Satz "Obwohl er noch nicht wirklich alt war ..." klingt, für mich, irgendwie schablonenhaft. Wahrscheinlich, weil ich selber solche Konstruktionen viel zu oft verwende.

Du beschreibst Leonard zu Beginn wirklich sehr gut, so, dass man ihn sich sehr einfach vorstellen kann; damit meine ich allerdings nicht die Beschreibung seiner Kaninchennase oder seiner Haare, sondern das Bild eines Mannes, den man gerne hinter einem Fahrkartenschalter haben würde. Die physische Beschreibung könnte man meines Erachtens streichen, die "charakterliche" ist sehr viel eleganter. Insbesondere die Kaninchennase ist meines Erachtens überflüssig, da sie Leonard beschreibt, wenn er nervös ist; Nervosität scheint mir jedoch bei Leonard eher ein sehr seltener Ausnahmezustand zu sein.

Ähm, ja ... Hoffe, meine Probleme mit dem Text wurden klar. Ansosnten finde ich den Text sehr gelungen.

Viele grüße,
Matthias
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Silentium
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Re: Verschwörungstheorien

Beitragvon Silentium » 16.08.2004, 14:18

Tatsächlich... der hat ja bei jedem Punkt recht!

Die Sache mit Rudis ich-erkenne-den-Bösen-nicht muss ich noch überdenken. Klingt ja nicht unrichtig, was du sagst, andererseits... hm. Grübel.

Danke für die ausgesprochen konstruktive Kritik... und willkommen im Forum!

Sillysilence
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