Der Geist des Weines

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klaasen1
Kerberos
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Der Geist des Weines

Beitragvon klaasen1 » 03.06.2014, 02:15

Die Augustinerstraße ist die Ausgehmeile der Mainzer Altstadt. Bis ins 17. Jahrhundert hinein war sie die Hauptgeschäftsstraße der Stadt.
Der Kirschgarten zählt zu den schönsten Plätzen in Mainz. Woher er seinen Namen hat, verrät nur noch ein Kirschbaumstumpf.
Die historische Mainzer Altstadt erstreckt sich vom Mainzer Dom bis hin zum Südbahnhof. In den unübersichtlichen Gassen, die bizarre Namen wie Nasengässchen, Heringsbrunnengasse oder Leichhof tragen, pocht das Leben. In der Altstadt ist immer etwas los. Am Tag herrscht rege Unternehmenslust auf den Straßen. Zu späterer Stunde halten sich die Mainzer und ihre Gäste in den gemütlichen und skurrilen Weinstuben und Kneipen auf. "Der 'Beichtstuhl', der zu den ältesten Weinstuben von Mainz gehört, erstreckt sich über zwei Etagen. Dort kehrte ich eines schönen Nachmittags ein."

Der Geschichte nach besteht die dunkle Holzvertäfelung im unteren Schankraum aus einem ehemaligen Beichtstuhl, den ein Künslter aus einer nahegelegenen Kirche zur Einlösung seiner Zechschuld mitgebracht hatte.
Die Zeit verging, und so langsam füllte sich der Beichstuhl. Ich saß nun zwischen zwei älteren Damen und Herren, und man schwätzte Määnzerisch. Gleich fragte mich einer der älteren Herren: ,,Was ist denn ein Forzknoddel?”
Die ältere Dame an seiner Seite fing an zu lachen, stubste ihn mit ihrem Ellenbogen in die Seite und meinte: „Lass doch den Mann in Ruhe. Woher soll er das denn wissen?” Ich tat so als wüsste ich es nicht.
Nun, meiner Erscheinung nach kam ich nicht aus Mainz. Was die Damen und Herren aber nicht wussten war, dass ich in Mainz geboren wurde. Zwar musste ich mit 12 Jahren Mainz verlassen, aber einige Mainzer Begriffe waren mir nicht fremd. Er glaubte, mich aufklären zu müssen und sagte mit schelmhaftem Unterton: „Ein Forz ist ein Furz und bedeutet in dem Zusammenhang klein. Ein Knoddel aa. Aber in einer Form wie sie Hasen zustande bringen. Also demnach heißt Forzknoddel so viel wie kleiner Scheißer.” Nachdem er gesagt hatte, was er glaubte, sagen zu müssen, fing er an zu lachen, haute mir mit seiner bäuerlichen Pranke auf die Schulter und lud mich zu einem Glas Wein ein.
Die Zeit verging, und es wurde von Stunde zu Stunde lauter und lustiger. Nachdem die alte Standuhr im Schankraum elfmal gongte, ging die Tür auf und ein sehr, sehr alter Mann betrat den Raum .Er trug einen zerlumpten alten Mantel aus einem Stoff, den man in früheren Zeiten für Kartoffelsäcke nutzte und schaute in die Gesichter am Tisch, die gleichsam erstarrt vom Anblick des Alten einzufrieren schienen. Es wurde still.
Die Wirtin kam und führte den alten Mann zum hintersten Tisch. Nach einer Weile brachte sie dem neuen Gast einen Määnzer Handkäse mit Musik und ein Krug Wein.
Ich schaute wie gebannt auf das markante Gesicht des Alten und konnte meinen Blick nicht mehr von ihm lassen. „Trotz zweitausendjähriger Geschichte ist Mainz jung geblieben,” meinte der neben mir sitzende, stark angetrunkene Herr, um von der eingekehrten Stille abzulenken. Langsam kehrte die Stille wieder ins Abseits zurück und man hörte wieder vereinzelt das eine oder andere Wort, aber immer noch im Flüsterton. Auch das ging vorbei, und die Fröhlichkeit kehrte wieder zurück. Mein Blick haftete noch immer an dem markant hageren Gesicht des alten Mannes, und fast schien er mir nicht fremd.
Ich bemerkte gar nicht, dass alle Gäste schon gegangen waren, saß wie hypnotisiert am Tisch.
Die ganze Zeit über hatte ich das Gesicht des alten Mannes beobachtet, und mein Blick zu ihm hin, haftete wie von einem Foto festgehalten. Nichts bewegte sich in seinem Antlitz; als wäre er aus Stein gemeißelt, saß er auf seinem Stuhl und rührte sich nicht.
Die Wirtin berührte endlich meine Schulter und gab mir zu verstehen, dass ich der letzte Gast sei und sie gerne schließen würde. Ich wies sie darauf hin, dass sie noch einen weiteren Gast habe. Den alten Mann dort.
Sie sagte verständnislos: „Welchen alten Mann meinen sie?” Ich lachte und sagte: „Den da! Den Alten dort hinten. ”
Sie schaute in die Richtung, in die ich mit meinem Finger zeigte und klopfte mir auf die Schulter, lachte und sagte ganz trocken:
„Das ist doch nur der heilige Geist. Eine Holzfigur aus dem 16.Jahrhundert. Die heilige Kraft, die unseren Beichtstuhl beschützt. Der sitzt auf diesem Stuhl schon, seit es die Wirtschaft Beichtstuhl gibt.”
„Aber,” sagte ich kopfschüttelnd, „Sie haben ihn doch bedient. Ich sah es mit eigenen Augen, wie Sie ihm Määnzer Handkäse und einen Krug Wein an den Tisch brachten.”
Da schaute sie mich an und meinte: „Haben sie dem alten Mann mit dem Klingelbeutel etwas gegeben?“
„Was meinen Sie damit?” fragte ich sie.
„Ich meine den alten Mann, der immer zur selben Stunde in den Beichtstuhl kommt und mit seinem Klingelbeutel um eine kleine Spende bittet. Den werden Sie auch meinen”
Ich lies es dabei bleiben, zahlte und sagte nur: „Ja, ja. Der Wein. Ich denke, ich habe etwas zu tief ins Glas geschaut.”
Sie hob nur die Schulter.
Draußen auf der Strasse war es gespenstig. Die Strassen lagen leer, und eine Erinnerung an meine Kindheit kam mir in den Sinn. Ich bildete mir ein, dass sich nichts verändert hätte. Alles sah genau so aus wie damals in meiner Kindheit.Die Pflastersteine, die Häuserfassaden, der Geruch. Ein Heimat Gefühl überfiel mich.
So etwas an Empfindung hatte ich zuletzt mit 12 Jahren. Danach nie wieder. Und jetzt- plötzlich- ist es wieder da, dieses Gefühl, das ich eigentlich nicht mochte. Es war eine Art Hassliebe, die ich für meinen Geburtsort empfand.
Am nächsten Tag beschloss ich eine Kirche aufzusuchen und zu beichten. Ich wusste nicht, warum ich das Bedürfnis hatte zu beichten. Vielleicht war es der gestrige Abend, als der Nachklang in mir etwas ausgelöst hatte. War es wirklich ein heiliger Geist gewesen, den ich für einen alten Mann gehalten hatte?
Ich betrat den Beichtstuhl, und als ich ihn wieder verließ und meine Sünden bekannt hatte, brach ich zusammen und starb.
Der alten Mann, den ich gesehen hatte, war ich selbst gewesen. Ich hatte die ganze Zeit in einen Spiegel geschaut und mich selbst nicht erkannt.

©kaas klaasen

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