Das trübe Grau

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Retro-Guy
Kerberos
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Das trübe Grau

Beitragvon Retro-Guy » 12.06.2014, 13:38

Das trübe Grau

Etwas spülte mich einst fort aus meiner erträglichen Welt hinab in unerforschliche Abgründe der Leere. Mein geistiges Auge hatte Orte besucht, die man mit Worten wie Zerfall oder Chaos kaum beschreiben kann. Wann genau alles anfing, weiß ich nicht mehr. Damals war mein Leben noch normal. Diese Zeit lernte ich erst schätzen, als mir alles genommen wurde. Wie aus dem Nichts hatte es sich auf grauenhafte Weise verändert. Es tanzten früher stets normale Wesen vor meinen Augen. Doch diese Menschen haben sich mir zu unwirklichen Trugbildern verzerrt, die nur noch ab und zu aufflackern. Meine Sehnsüchte kreisen wie bunte Spiegel um mich herum und hauchen mir oft ein bitteres Lächeln ein. Wie die Zeit, in der ich lebe, ist mir auch der Ort, an dem ich umher wandele, völlig fremd. Ich weiß nur, dass es ein gemeiner Rastplatz für die Ewigkeit ist, wo man in einem farblosen Nebel, darauf wartet, dass einen etwas abholt. Mein Retter kam bisher noch nie herbei. Tausende Male habe ich ihn mir vorgestellt auf seinem hohen Ross. Er flüsterte liebliche Worte und reichte mir dann seine wohlgenährte Hand. Seine süßen Verheißungen kündeten von einem Land, wo auch ich so kräftig sein würde wie er. In meiner Fantasie ritt ich dann immer fort mit diesem Edelmann in eine blühende Welt, fernab von diesem Jammertal. Nie aber erfüllte sich dieser Traum. Ich bin und bleibe eingekerkert in dieser grauen Einöde, wo unsichtbare Gitter meine ständigen Begleiter sind. Meine Augen sind blind und es scheint mir, als würde nichts um mich herum existieren. Nur eines ist mir geblieben. Das Rätseln. Bin ich des Wartens müde, beginnt es. Ich suche in einer Art Meditation nach Ursachen für meinen Zustand. Die Wurzel für meine Qualen muss da irgendwo sein. Zerbreche ich mir hierbei allerdings zu sehr den Kopf, so belehrt mich ein dröhnender Schmerz, dass es falsch ist derartig über eine Sache zu brüten. Doch mit einem bebenden Schädel grübele ich oft dennoch weiter. Meistens werde ich hierbei schließlich ohnmächtig. Aber hin und wieder gelingt es mir, eine verbotene Schwelle zu übertreten. Dort, auf der anderen Seite gebäre ich wundersame Erinnerungen längst durchlebter Erfahrungen. Ich erlebe eigenartige Reisen durch die Vergangenheit. Hier erwachen vertraute Schauplätze aus ihrem dunklen Schlummer und heißen mich willkommen. Am Ende dieser geistigen Ausflüge steht die Ursache für meinen Zustand. Kurz bevor ich sie genauer erkennen kann, kehrt mein Verstand wieder zurück in die wirkliche Welt und ich habe alles wieder vergessen. Nur ein einziges Mal ist es mir im Kopf geblieben. Diese Reise hat sich mir ins Hirn gebrannt, denn sie war die wohl erschreckendste von allen. Hiervon möchte ich nun erzählen. Auf jener Reise trieb es mich in ein Hallenbad. Nirgends hörte man Wellenrauschen oder Gelächter. Nirgends sah man eine Menschenseele. Als kleines Kind war ich in jenem Wasser geschwommen. Ich konnte mich noch genau an diesen Tag erinnern. Damals strampelte ich, leichtsinnig wie ich war, immer weiter hinaus, in die Mitte eines Beckens. Ich konnte noch nicht schwimmen und verlor wie aus heiterem Himmel den Boden unter den Füßen. Es war die blanke Panik, die in mir wütete. Immer und immer wieder saugten sich meine Lungen mit Wasser voll. Und immer wieder überhörte man das stumme Röcheln aus meinem Kindermund. Um ein Haar wäre ich ertrunken, hätte ich es damals nicht, wie durch ein Wunder zurück zum Beckenrand geschafft. Warum war es nicht geglückt? Weshalb war ich nicht einfach untergegangen und im dichten Blau verblasst? Mit meiner Leiche wären all meine Sorgen versunken. Das dichte Grau wäre gar nie erst aufgetaucht. Es war leider nicht geschehen. Schwamm drüber. Während meines rätselhaften Ausflugs sah die Schwimmhalle allerdings ganz anders aus als früher. Schwache Sonnenstrahlen schimmerten durch gallertartige Fensterscheiben. Diese rosaroten Schleimhäute wellten sich langsam wie Götterspeise, nur viel eleganter. Dadurch entstanden Lichtbilder, die schillernd auf den Hallenwänden tänzelten. Der giftig süße Chlorgeruch umschmeichelte meine Nase. Ach, wie vertraut mir dieser Duft doch war! Mein Körper war weich und winzig. In meiner surrealen Gedankenwelt nahm ich stets eine andere Gestalt an. Diesmal fand ich mich zu einem zusammengekauerter Embryo verwandelt. Man hatte mich einfach liegen gelassen, einen mickrigen Wurm in diesem gigantischen Saal voll von eisigen Becken. Meine Glieder waren noch nicht ausgewachsen aber es reichte, um mich langsam fortzubewegen. Das Krabbeln tat weh und erregte mich gleichzeitig. Mein Körper war noch nicht für das Kriechen geschaffen, aber mein Gehirn war schon bereit für einen Marathon. Dann reckte ich meinen Kopf empor und blickte hinauf auf die kolossale Holzdecke. Das Gebälk hoch über mir erstreckte sich in fantastischen Sonnenmustern. Es strahlte so etwas wie Wärme aus. Irgendetwas tief in mir wurde aufgewühlt. Salzwasser lief mir die Wangen hinunter und meine Gesichtsmuskeln verzerrten sich zu einer wunderbaren Fratze. Ob man das als glücklich oder traurig bezeichnet, kann ich nicht mehr einschätzen. Alsbald kroch ich wimmernd über die mit Noppen versehenen Pflaster. Es kribbelte irgendwie ein klein wenig auf meiner gelähmten Haut. Als ich die Ursache erkannte, suhlte und wälzte ich mich auf dem Boden. Ich wollte immer mehr von diesem Kribbeln spüren. Dabei streiften meine Stumpen, die später Arme und Beine werden würden, immer wieder über die weichen Noppen. Dann kämpfte ich mich in Richtung eines Beckens. Dort angelangt, beugte ich mich am Beckenrand abgestützt über die Wasseroberfläche. Blut sammelte sich allmählich in meinem Kopf. Meine Schläfen pochten sanft. Ein klarer Speichelfaden glitt meine Unterlippe hinab und kurze Zeit später war ich mit der Flüssigkeit verbunden. Es tat gut, sich immer tiefer vor zu bücken, immer mehr Leben in meinen Adern pumpen zu fühlen. Ich starrte hinunter in die dunkelblauen Tiefen, gegen die ich mich in meiner Kindheit so vehement gewehrt hatte. Im kurzen Augenblick, bevor ich fiel erkannte ich einen blassen Fleck auf dem spiegelglatten Wasser. Schwarze Kulleraugen schielten mir entgegen. Sie saßen auf einem madenähnlichen Fortsatz, aus dem Sekret baumelte. Violette und blaue Adern zeichneten sich wie Blutergüsse auf einer Art Glatze ab. Es war mein Gesicht, in dem blauen Spiegel. Vor Schreck verlor ich den Halt und plumpste ins Wasser, wo ich mit diesem Parasiten, meinem alten Ich, verschmolz. In der schwerelosen Einheit mit dieser Ursuppe, sank ich immer tiefer. Meine Hirnströme trieben mich immer weiter hinaus in die Vergangenheit. Irgendwann am Grund meines Unterbewusstseins, erhaschte ich einen blendenden Lichteinfall. Dieses Glitzern über mir, hoch oben an der Wasseroberfläche erleuchtete mich. Dann setzte sich die qualvolle Suche nach dem Verursacher fort. Immer und immer tiefer sog mich ein Strudel hinunter in unüberschaubare Schluchten. Alt-, nein Weinrot war die Farbe des glibberigen Tornados, der meinen Leib, wie einen toten Fisch umher wirbelte. Nachdem sich der tosende Sturm gelegt hatte, sank ich schwerelos, sank immer tiefer und tiefer. Der Druck hier unten drohte meinen Körper zu zerquetschen. Kleine elektrisierte Bläschen schlüpften aus meiner Nase und brodelten empor in freie Schlünde. Dort konnten sie endlich aufatmeten und aufhörten zu existieren. Meine Augen ruhten. Mein Herz stand still und man konnte nur das gähnende Rauschen hören, wie es eben dröhnt, wenn man unter Wasser ist. Ich hatte die Luft angehalten und sah hinunter zu meinen Füßen. Unter ihnen war kein Boden. Alles war so dunkel und leer. Wie aus einem Urinstinkt heraus, rollte ich mich wieder in die Fötusstellung zusammen. In dieser undendlichen Leere war ich nicht einmal ein Atom. In meiner eigentlichen Meditation war ich ein Embryo. Und als Embryo grübelte ich weiter und schuf eine zweite Parallelwelt. Dort hatte ich die Gestalt eines ausgewachsenen Mannes. Ich war nur spärlich bekleidet und mein Körper war völlig durch Nest. Ein gnadenloser Schiffbruch lag wohl hinter mir, denn es hatte mich an exotisches Festland gespült. Hier wucherten unermessliche Kostbarkeiten an den Bäumen. Mit jedem Biss in solch eine Frucht würde ein Bild meiner alten Tage aufflackern. Hier wollte ich mein ganzes Leben verbringen, auf dieser pochenden Insel uralten Seiens. Hier gab es Zeit wie Sand am Meer. Hier würden Wesen hausen, die mit mir zusammen unter der lodernden Sonne tanzen würden. Ich krabbelte wie ein Tier den goldenen Strand entlang. Die satte Farbe des Glitzerpulvers ließ meinen Atem stocken. Ich konnte nicht anders. Mein Bart überwucherter Mund küsste, leckte und fraß den Sand. Er schmeckte zwar schal und trocken. Doch die Erkenntnis, die ich dabei gewann, war überaus genießbar. Im Sand grub ich hecktisch nach der Vergangenheit, nach der Wurzel meines Übels. Kaum hatte ich damit angefangen, zerronnen die Körner in meinen Händen zu Asche. Diese grauen und weißen Flocken schenkten mir letzte Abschiedsgerüche saftiger Rosenblüten. Dann passierte es. Der Strand meiner Träume zerfiel zu Trümmern. Alles erbleichte. Alles bebte. In diesen tobenden Ruinen erhörte man keinen meiner Hilferufe. Auch das spätere Gejammer blieb unbeachtet. Niemand sah meine leiderfüllte Grimasse zwischen dem brüllenden Geröll. Und das war auch besser so. Mein Gesichtsausdruck strahlte einen solch hässlichen Schmerz aus, dass keine Schreie ihn jemals ausdrücken könnten. Schließlich war alles vollkommen stumm. Wieder umgab mich diese unendliche Leere. Urplötzlich kam es wie ein Rausch über mich. Der Grund für mein stumpfes Hirn lag einige Jahre zurück. Der Verursacher lag begraben unter haufenweise Scherben aus Porzellan. Ich musste irgendwie an ihn heran kommen. Auf normalem Wege, wäre es ungefähr so, als würde man versuchen das Heu im Nadelhaufen zu finden. Mein Körper hätte sich so sehr abgewetzt, dass kein Stück Fleisch mehr an meinen Knochen zurückgeblieben wäre. Nur mein Geist konnte es schaffen, bis zum Fuß des Scherbenbergs hindurch zu sickern. Es war eine Bewusstseinskette entstanden, die mich mit meinen Stellvertretern in der Traumwelt verband. Der Schiffbrüchige, der Embryo und mein eigentliches Ich hatten ein Netzwerk gebildet. Also teilte ich mein Bewusstsein abermals, wie ein Einzeller. So wurde das vierte Glied in der Reihe geboren, mein Geist. Mein schiffbrüchiger Zwischenwirt blieb auf der Bergspitze zurück während ich mich körperlos auf den Weg machte. Als ungreifbare Substanz schlängelte ich mich durch schmale Spalten aus Porzellan. Später umgab mich Keramik und noch später Ton. Dann war ich am Boden angekommen. Hier unten hatte man den Samen meines verdorrten Daseins gelegt. Hier, tief unter der Erde vergraben lag die langersehnte Erklärung für meinen Zustand. Es war ein fatales Erlebnis, dass meine Psyche so sehr schädigte. In einer rustikalen Kaschemme fing alles an. Dort war alles warm beleuchtet. Irrlichter in bunten Flaschen hingen von der niedrigen Decke hinab. In jener Kneipe munkelten und schlürften mein Bruder und ich. Am Ende eines langen Holztisches saßen wir dicht beieinander und teilten uns ein Glas Saft. Wir merkten es anfangs noch nicht aber dann erkannten wir den Mann, der uns gegenüber saß. Da war er, direkt vor unserer Nase und trank sein goldenes Gift. Mit diesem glatzköpfiger Rüpel hatten wir zuvor in einer anderen Stadt bereits ungemütliche Bekanntschaft gemacht. Wir versteckten uns hinter dem Tisch und pokerten darauf, dass er uns noch nicht bemerkt hatte. Eigentlich hätten wir wegrennen wollen, aber unser Getränk schmeckte einfach zu verlockend. In völliger Ekstase schlürften wir den süßen Nektar leer. Dann fing der kahlköpfige Raufbold plötzlich an, wirr vor sich hin zu brabbeln. Er befand sich in irgendeiner wunderlichen Trance. Auf keinen Fall war es der Alkohol, der durch ihn sprach. Es war etwas anderes. Etwas Fremdes. Trotz allem nahm er uns wahr und schließlich erkannte er uns. „Sind das nicht hübsche Barbaren?“, posaunte er. Der Schläger selbst kam kein Stück näher, doch er packte eine seltsame Schlange aus. Dieses Tier kroch langsam zu uns her. Erst auf unmittelbarer Entfernung bemerkte ich ihr makaberes Aussehen. Sie war schmerzhaft zerfleddert. Diese Schlange musste sich wohl derzeitig häuten oder etwas dergleichen. Ein fieses Grinsen in ihrem Gesicht verängstigte mich. Ich blickte hilfesuchend zu meinem Bruder. Doch dieser starrte nun ganz gebannt auf das Ungetüm. Dann fauchte es aus ihrem Maul: „Iss mich! Zerfetze mich! Töte mich!“ Wie von einer unbekannten Macht verführt, streckte mein Bruder seine Hand langsam aus. Plötzlich griff er sich einen abstehenden Hautfetzen der Schlange nahe dem Schwanzbereich. Während er langsam daran riss, ertönte ein trockenes Knittern woraufhin ein fauliger Gestank die Luft verpestete. Seine Finger zogen ihr fast gänzlich die Haut ab, wobei sogar kleine Fleischbrocken mitgerissen wurden. Als mein Bruder es vollbracht hatte, hielt er die Kruste apathisch in seinen Händen. Das, was von der Schlange übrig geblieben war, sah einfach abscheulich aus. So etwas war nicht für Menschenaugen bestimmt. Der Schädel des Ungetüms war nun knorpelig und kaum wiederzuerkennen. Ihr Inneres war nun zum Vorschein gekommen und hatte eine graue, matte Oberfläche. Bei dieser gliederlosen Kreatur konnte man eigentlich nicht wirklich von Blut reden. Vielmehr war es eine dunkle, zähflüssige Schleimsubstanz, die nicht gerinnen wollte. Dann, getrieben von einem unnatürlichen Hunger, verschlang mein Bruder die unsagbar alt wirkende Kruste. Kaum hatte er seinen letzten Schluck getan, wandte sich die Schlange auch schon mir zu. Sie ließ ihre gespaltene Zunge gierig rein und raus gleiten und glotzte mir mit ihren hypnotisierenden Augen entgegen. Ihr breites Grinsen war von solch ekelhafter Natur, dass ich die Augen schließen wollte. Doch ich konnte nicht. Ich musste hinstarren. Der Grund war wohl, ihr hypnotischer Blick. Trotz allem versuchte ich vorsichtig zu bleiben und wählte mir nur einen kleinen Fetzen von ihrem Unterleib aus.
So schluckte auch ich ihre bittere Haut. Und dann fing mein Zustand an. Meine Sinne verfaulten. Mein Raum- und Zeitempfinden funktionierte zwar noch tadellos, aber was ich sah, widersetzte sich meiner gesunden Optik. Alles um mich herum war verstaubt und halb verwest. Nur die allerfeinsten Konturen schimmerten ab und zu durch das allgegenwärtige Grau. Mein Leib war mürbe und schlapp. Versuchte ich mich, irgendetwas Irdischem zu entsinnen, wollte und wollte es mir einfach nicht gelingen. Sonst blitzte immer sofort etwas vor meinem Inneren Auge auf. Aber von nun an sollten es in diesem Fall nur mehr verschwommene und blasse Flecke sein, die sich mir auftun würden. Ich versuchte, an mir bekannte Menschen zu denken. Doch diese erschienen mir immer nur in transparenter und abgeänderter Form. Das sollte also mein zukünftiges Leben sein? Ein Käfig, in dem ich auf Wände starren musste, die gespickt waren mit Souvenirs aus einem fremden Kontinent. War ich ab heute dazu verdammt, nur mehr in diesen Relikten nach meiner vergessenen Welt forschen zu können?
Beim Gedanken, auf ewig in dieser trostlosen Wahrnehmungswelt gefangen zu sein, schaltete sich mein ureigener Raptorinstinkt an. Panik durchfuhr mein gesamtes Nervensystem. Wild um mich starrend schaffte ich es irgendwie entfernt an meinen Bruder zu denken. Er war nicht mal ein Wort in meinem Kopf. Er war nicht mehr als ein flüchtiger, gesichtsloser Einfall. Wie es ihm wohl ergangen war? Wenn ein kleiner Fetzen bei mir schon so bösartige Folgen hatte, wie musste dann erst mein Bruder fühlen und denken, der ja beinahe die ganze Kruste im Magen trug? Plötzlich spürte ich, dass die Schlange irgendwo in der Nähe herum schlich. Sie war da. Ich wusste es. Langsam wurde es kühl und nach einer Weile zitterten auch schon all meine Glieder. Meine Zähne fingen an zu klappern, beruhigten sich dann allmählich, bis sie und mein ganzer Körper völlig erstarrten. Als ich so versteinert am Betonboden lag, erkannte ich eine schemenhafte Silhouette auf mich hinab blicken. Ich erkannte weder Gesicht noch sonst etwas Genaueres, nur einen schattenhaften Umriss. Es war eine sonderbar koboldartige Gestalt. Urplötzlich zog sich alles unter meiner Haut zusammen und nicht viel später kauerte mein Körper am glatten, kalten Boden. Ich wusste, dass es die Schlange war, aber warum sah ich nur einen schelmischen, grotesken Mann? Wer war dieses Wesen, dessen Haare so grässlich abstanden? Dann meinte ich zu fühlen, meine Sinne würden um geringe Grade schärfer und normaler. Würde ich wieder sehen können? Hatte ich mich in diesem Mann getäuscht? War er etwa ein Retter? Nein. Das war unmöglich, denn wie aus dem Nichts schoss mir ein Schlangenmaul entgegen. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie oft mich dieses Ungetüm gebissen hat. Aber ich weiß noch, dass ich mich verzweifelt gewehrt habe. Die Schlange hatte mich in ihrem Fadenkreuz, in ihrem Nest und ich war nur ihre wehrlose Beute. Dieser Parasit saugt einem die Jugend aus und dann lässt er einen bei lebendigem Leib verwesen. Mein Peiniger würgte mich mithilfe seines flexiblen Körpers. Das Gift brodelte in meinen Bisswunden und ließ mich wieder heimkehren in die grauen Schlünde, die ich ja so sehr verabscheue.
Irgendwann nach unsagbar langer Zeit traf ich meinen Bruder wieder oder besser gesagt, das Ding, das seine Erbanlagen in sich trug. Ich und mein mutierter Bruder spielten ein grässliches Spiel. Mir bleibt nur zu schätzen, ob das alles mehr Traum oder Realität war. Wie lange wir das schon trieben, war mir ein einziges Rätsel. Eine leise Ahnung verriet mir allerdings, dass wohl zuvor schon ähnliche Partien stattgefunden haben mussten. Nur das konnte erklären, warum ich eine verschwommene Heiterkeit in mir verspürte. Es fühlte sich so an, als hätten wir seit hunderten von Jahren nichts anderes gemacht. Wieso konnte ich auf einmal wieder klare Dinge vor mir sehen? Vielleicht hatte ich mich an das lähmende Schlangengift gewöhnt. Vielleicht hatte sich mein Gehirn mittlerweile evolutionär an diese Albtraumwelt angepasst. Vielleicht war ich nun dazu bereit, mehr zu tun, als nur mehr tot auf meinen Tod zu warten. War die graue Leere nun tatsächlich gestorben oder handelte es sich hierbei nur um eine zufällige Randerscheinung?
Mein Bruder hatte sich auf höchst absonderliche Art verändert. Sein Körper war gealtert, aber sein Gehirn musste sich in krankhafter Weise zurückgebildet haben. So kicherte er stets wie ein kleines Kind, nur dass seine Laute aus einer ausgedörrten Kehle klangen. Eines war offensichtlich. Mein Bruder hatte an diesem Wettkampf einen viel größeren Spaß als ich. Dies sollte auch die erste und letzte Runde sein, an die ich mich erinnern kann. Anfangs losten wir unsere Opfer aus. Ich musste fünf Zahlen nennen. Daraufhin fischte mein Bruder einige Karteien aus dem Stapel in seinen Händen. Dann, ganz unvermittelt fand ich mich in einem modernen Zugwaggon wieder. Ein düsteres Licht qualmte im lautlos gleitenden Fahrzeug und Menschen- wenn es denn welche waren- standen mir in einer Reihe gegenüber. Sie hatten mir alle den Rücken zugekehrt doch ich war froh ihre Schauseite nicht sehen zu müssen, denn diese Personen sahen äußerst bizarr aus. Es war mir nicht möglich, jedes ihrer Geschlechter zu bestimmen, aber wenn ich mich nicht irre, waren die weiblicheren Gestalten in der Überzahl. Sie alle hatten schwarze oder dunkelbraune, buschige Haare. Und bei jedem von ihnen funkelte eine schmierige, lichte Stelle am Hinterkopf hervor. Scheinbar handelte es sich bei allen-ganz gleich welchen Geschlechts- um männlichen Haarausfall. Es sah fast ein bisschen karikaturhaft aus, als sie so vor mir standen: mal klein mal groß, mal dick mal dünn. Mir wäre sogar fast ein Schmunzeln entschlüpft, hätten diese Wesen nicht so schrecklich real ausgesehen. Sie waren maskuline Hausfrauen, Zwerge, unterwürfige Greise oder halbe Skelette. Sie waren fehlerhaft und unvollkommen, wie es eben in der Natur des Menschen liegt. Ich weiß nicht wo sie herkamen. Sie mussten aus einem fremden Land oder vielleicht sogar aus einer fremden Welt stammen. Mir wurde fiebrig, als ich den Stoff auf ihrer Haut genauer betrachtete. Die Mode dieser Kleidung konnte ich entfernt in gewisse irdische Kulturen einordnen. Sie wirkte, wie aus Altkleidercontainern gezogen und umspannten ihre wohl zerschundenen Leiber. Trotzdem ließ sie das nicht wie Obdachlose dastehen. Ich dachte eher an Menschen, die sich verändert hatten, weil man sie durch Zeitportale gejagt hat und zwischendurch mussten sie immer wieder gestorben und wiederbelebt worden sein. Sie mussten auf extrem kurze Zeit, enorm viel durchgestanden haben. Dies ging schlicht und einfach über meinen Verstand hinaus. Wo rationale Erklärungen scheitern herrscht kindliche Fantasie. Wie sie wohl gefoltert wurden, wagte ich mir gar nicht erst auszumalen. Ebenso wenig wollte ich wissen, wie verstümmelt ihre Körper unter den Lumpen nun wirklich waren. Ihre grotesk geschwungenen Beulen und Wölbungen wiesen auf einen ungemein krankhaften Körperbau hin. Etwas Stämmiges haftete ein paar von ihnen an und ließ mich unweigerlich an eine kleinwüchsige Neandertalerart denken. Sie standen einfach reglos da, wie fleischliche Zielobjekte. Das Ziel des Spiels war grausam. Man musste ein Gewehr, das auf dem Boden lag, aufheben und jedem Einzelnen nach der Reihe eine Kugel durch den Kopf jagen. Mein Bruder war verschwunden, doch ich hörte immer noch seine Stimme, die entweder in meinem Kopf oder von Außerhalb schallte. Er machte sich über meine missliche Lage lustig und stachelte mich dazu an, endlich nach der Waffe zu schnappen. Mit seiner kommentierenden Stimme im Ohr blickte ich auf ein groteskes Schauspiel vor mir. Die menschlichen Zielscheiben wandten mir zeitgleich ihre Schauseite zu. Eine großgewachsene, hagere Frauengestalt unter ihnen hatte plötzlich aschblondes, langes Haar bekommen. Oder hatte ich die Farbe vorhin einfach übersehen? Ihr durchfurchtes Gesicht zeugte von einem enorm qualvollen Leidensweg. Alle Gestalten starrten mich hilflos an. Auch wenn jeder Einzelne mir eine unerhörte Angst einflößte, hatte ich immer noch mehr Mitleid als alles andere vor ihnen. Meine anfängliche Spiellaune hatte sich in toten Ernst verwandelt. Ich sprach zu meinem Bruder und hoffte, dass er mich erhörte. Die Menschenreihe kam langsam im Gleichschritt auf mich zu. Ich schrie aus voller Kehle. Das alles ging zu weit. Mein Ruf, war noch nicht verstummt, da erkannte ich in manchen Fratzen, das gnadenlose Grinsen des Wesens, das mal mein Bruder gewesen war. Entweder seine Seele sprach durch sie und er wollte, dass ich einen Teil von ihm ermorde oder sie hatten mein geliebtes eigen Fleisch und Blut zu Einem von ihnen gemacht. Mein Bruder lachte mich im Hintergrund schadenfreudig aus. Er zeigte nicht das kleinste Mitgefühl. Ihm ging es nur um meine Niederlage. Plötzlich bewegte ein magerer Mann, der ganz links stand, seine Hand langsam in Richtung Gewehr. Dazu krümmte er sich nach vorne worauf ihm seine langen, feuchten Haare ins Gesicht fielen. Sie waren pechschwarz und ohne Glanz aber zweifelsfrei nass. Dabei stierte er mir mit seinen tränen- und blutunterlaufenen Augen, die mich nervös musterten, entgegen. Ich war plötzlich wie paralysiert. Wie konnte ein Mensch nur so etwas Gewissenloses vollbringen? Warum wollte er mich angreifen obwohl ich nicht danach trachtete ihn zu verletzen? Dann verstand ich. Auch er wollte das vielleicht nicht, aber das waren nun einmal die Spielregeln. Die Strafe drohte dem, der Gewissen zeigte oder sich der Gräueltat widersetzte. Seine knochigen Finger hatten das Gewehr nun gänzlich im Griff. Er richtete sich nun etwas schneller auf und zauberte rasch, wie aus dem Nichts eine bleierne Patrone hervor. Der Ausgemergelte hielt mir die Kugel demonstrativ hin und überwand sich sogar, mich auf seine ängstliche Art zu verspotten. Ich fühlte mich so, als stehe sogar der Schwächste aller Schwachen über mir. Als hätten sogar die niederträchtigsten Elemente des Pöbels, das Recht mich zu bespucken. Man stieß mich aus, denn ich hatte die Regeln gebrochen. Man degradierte mich zum dreckigsten Abschaum der Gesellschaft. Ich war in ihren Augen nicht mehr als eine kaum vorhandene Existenz, die nicht einmal im sozialen Bodensatz vorkommen durfte. Blanke Panik stieg in mir hoch, als der Mann das Projektil tatsächlich in die Waffe stecken wollte. Ohne Wut, aber konzentriert auf mein Überleben bedacht, stürzte ich in Richtung meines schmunzelnden Peinigers. Er sah mich kommen und schob sich plötzlich die Kugel reflexartig in den Mund. Als ich mit ihm rang, verlor ich die anderen aus den Augen. Es kam mir so vor, als existierten sie nicht einmal mehr. Nun war es nur noch der Waggon, mein Angreifer und ich. Jetzt erst in engstem Gerangel erkannte ich das, was die ganze Zeit vor mir gestanden war. Das Gesicht sah fürchterlich greisenhaft aus. Fast wie ein kreidebleiches, hohlwangiges Reptil starrte es verwirrt und verängstigt in der Gegend umher. Die animalische Essenz, die ihm innewohnte, kam nun noch viel deutlicher zum Vorschein als zuvor. Sein Unterkiefer war vorgeschoben. Es war mir unmöglich einzuordnen, ob es sich hierbei um einen Ausdruck seiner Furcht handelte oder ob viel mehr sein Knochenwachstum dies bedingte. Ich fand keine Lippen und auch keine menschentypische Einwölbung über dem Kinn. Bei dieser Kreatur war es einfach nur eine Art Hautball, der vom Hals zum Mund führte. Wenige borstige Barthaare sprossen in grauer und schwarzer Farbe auf diesem Ball. Er wirkte entfernt wie ein faltiger Schimpanse aber auch wie ein alter Greis, dem alle Zähne ausgefallen waren. Sein nackter Körper presste sich unweigerlich an meinen. Ich fühlte seinen eiskalten Leib. Sein Brustkorb war erschreckend schmal und man konnte jede einzelne Rippe unter seiner dünnen, blassen Haut sehen und spüren. Er war eigentlich fast ein Skelett aber die kaum vorhandenen, organischen Elemente schmiegten sich um ihn, wie ein dünner Schleier und hielten ihn auf wundersame Weise am Leben. Folgendes zu tun war nicht einfach, denn ich wollte diesem wehrlosen, halbtoten Geschöpf nichts brechen. Doch einen anderen Weg gab es nicht! Ich musste in sein glitschiges Maul greifen, um die Patrone zu bekommen. Angeekelt steckte ich einen Finger in den Spalt, welcher seinen Mund darstellte. Die Dinge waren nicht, wie sie schienen. Es hatte sehr wohl Zähne. Sie waren zwar verkümmert und gelb aber sie waren da. Bald überwand ich meine Scheu und steckte dieser Kreatur meine ganze Hand in den Rachen. Ich fühlte schleimige Zungen oder etwas dergleichen meine Finger umschließen. Es war höchst unangenehm aber ich versuchte mich reif wie ein Vater bei der blutigen Geburt seines Kindes zu verhalten. Dann röchelte das Geschöpf und seine Augen mit samt seinen Pupillen weiteten sich. Es starrte mir nun direkt in die Augen und ich ihm. Dann schoss mir für einen blitzartigen Moment sein vergangenes Ich durch den Kopf. Dieses Primatenwesen war einmal ein Händler gewesen, ein Obst- oder Gemüsehändler. Dann resignierte er, wie eine Antilope, die sich einem Gepard ergab. Nach diesem ewigen Weglaufen, am Ende seiner Kräfte, sah das Tier ein, dass es nun an der Zeit war, dem Tod ins Auge zu blicken. Es griff sich selbst mit seinen krummen, zitternden Zeigefingern in die Mundwinkel und zog diese nach hinten. Daraufhin dehnte sich das Loch, in dem mittlerweile mein ganzer Oberarm nach der Patrone fischte. Urplötzlich fühlte ich seine Schleimwände sich um meinen Arm pressen. Mit einem gewaltigen Ruck –und das war wahrscheinlich auch seine Absicht- würgte es meinen Arm mit samt seinem Gebiss heraus. Es waren weniger künstliche, dritte Zähne sondern vielmehr ein labberiger Ring. Die gelben Beißer waren wie eingeweicht und auf seltsame Art mit dem rosaroten Fleischring verwachsen. Das musste eine sonderbare Häutung gewesen sein, denn das gummiartige Affenwesen hatte immer noch Zähne im Maul. Dann passierte es. Es dehnte sein Loch immer mehr, bis die eingefallene Gesichtshaut nur noch wie eine zerfetzte Maske hinab hing. Es war mit Sicherheit ein widernatürlicher Häutungsprozess, denn das, was die maskenartige Fratze die ganze Zeit über verdeckt hatte, war das eigentliche Wesen dieser Kreatur. Das abscheuliche, reale Innere! Es schielte mir entgegen! Die augenlose Fratze eines knorpeligen Wurms! Das gähnende Maul mit den zackigen Zähnen schrie mir entgegen. Und meine Hand hatte sich gerade eben noch in der Gurgel dieses Ungeheuers gesuhlt. Aus einem elektrisierenden Schrecken heraus zerfetzte es jeden meiner mentalen Stellvertreter. Erst starb mein Geist, dann der Schiffbrüchige und letztendlich mein embryonales Ich. Mein eigentlicher Körper musste schließlich in Ohnmacht gefallen sein. Als ich wieder aus meinem seligen Koma auferstand kroch mir wie jedes Mal etwas die Nase hoch. Der sterile Geruch meiner grauen Hölle.
Aufzeichnungen eines 56-jährigen Patienten des Trenton Psychiatric Hospital in New Jersey aus dem Jahr 1942

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