Unter der Fassade

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Retro-Guy
Kerberos
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Unter der Fassade

Beitragvon Retro-Guy » 12.06.2014, 14:08

Unter der Fassade

Es war einmal eine ungeheuerliche Fabrik. Dort arbeiteten Milliarden von Menschen. Es war kaum beleuchtet und sie mussten unzählige, graue Blöcke am Laufband verpacken. Und das ihr Leben lang. Tagtäglich starben Tonnen von ihnen weg. Es dauerte nie länger als ein paar Sekunden bis man die Toten ersetzt hatte. In ihren Hirnen herrschte eine monotone Formel: „Block nehmen, Block verpacken, Block hinstellen.“ Ab und zu kam es auf, dass einer von ihnen misstrauisch wurde. Gerade letzte Woche ereignete sich solch ein Fall. Eine Arbeiterin fragte sich, was das Ganze eigentlich soll. „Woher kamen die Blöcke überhaupt?“, dachte sie sich „Und wohin zur Hölle verschwanden sie dann wieder?“ Sie wusste aus eigener Erfahrung, dass man niemals aufhören durfte zu verpacken. Die Strafe waren starke Elektroschocks, die sich bis ins Mark brannten. So konnte sie nur während des gleichzeitigen Schuftens über den Aufbau ihres einzigen Freundes, ihres Arbeitsgerätes nachdenken. Dabei tat sich ihr so manches auf. Sie stand ihr bisheriges Leben immer vor einem Granitquader, der ihr ungefähr bis zum Bauchnabel reichte. Auf diesem Quader befand sich eine steinerne Platte. So wirkte alles in allem wie eine Art Tisch. Das Fließband verlief durch zwei quadratische, weit auseinander liegende Öffnungen auf der Tischplatte. Die blanken Würfel entsprangen aus dem einen Loch, wurden dann mit einem Handgriff verpackt und fielen als Pakete das zweite Loch hinunter. Das Band war ein wenig klebrig, sodass es die grauen Klötze regelrecht ansaugen konnte. Jedes Mal, wenn ein Paket in die Maschine gefallen war, erzeugte das in der Frau eine merkwürdige Sattheit. Und immer wenn ein neuer grauer Klotz erschien, keimte immer wieder von neuem eine gewisse Lust in ihr auf. Die grüblerische Arbeitskraft blickte um sich. Erst jetzt wurde ihr klar, wie unglaublich viele Menschen in dieser riesigen Fabrikhalle wohnten. Alle Unterkörper der Arbeiter steckten wie in erstarrtem Treibsand im Betonboden fest. So kam keiner auf die Idee seinen Platz zu verlassen. Alle trugen dieselbe orange Uniform. Unter ihrem Stoff waren sie zwar alle biologisch einzigartig, doch sie folgten alle blind einem einzigen Rhythmus. Ob klein, ob groß, ob alt, ob jung. Keiner von ihnen schien einen Charakter zu haben, denn ihre Bewegungen waren alles andere als menschlich. Sie arbeiteten synchron, als hätte man sie selbst zu Maschinen verarbeitet. Die Frau erschrak, als sie erkannte, warum sie zeit ihres Lebens so schlecht Luft bekommen hatte. Schuld waren die orangen Plastikmasken, die die Gesichter aller Menschen verdeckten. So trugen alle denselben toten Gesichtsausdruck. Die Masken hatten zwei viel zu kleine Schlitze für die Augen und einen noch kleineren für den Mund. Sie bekam es mit der Angst zu tun. Die Dame verpackte mit einer Hand weiter und versuchte mit der anderen ihre Maske loszureißen. Dann ertastete sie kleine, runde Metallscheibchen am Rand der Plastikmaske. Ihre Finger fühlten je einen tiefen Schlitz auf den Scheibchen. Sie rüttelte wie wild an der Maske bis sie einen dumpfen Schmerz in ihren Schläfen vernahm. Da wurde die Frau unter dem Orange kreideweiß als sie erkannte, dass man ihr die Maske fest in den Schädel geschraubt hatte. Es war dunkel und sie hörte die Menschen schnaufen. In der Ferne erkannte sie flächendeckend Arbeiter, die sich bis hin zu ihrem Sehhorizont erstreckten. Diesmal war es kein Arbeitsschweiß, der die Maske innen klebrig machte. Sie schwitzte aus purer Angst. Ihr war klar, dass sie gefangen war. Und als sie panisch zur Decke hinaufblickte, wurde ihr bewusst, dass es noch etwas außerhalb, jenseits der Betonwände geben musste. Etwas fernab von diesen willenlosen Marionetten. Sie begriff, dass man sie ihrer bisherigen Lebenszeit beraubt hatte. Ihr verankerter Unterkörper wurde immer glitschiger und fing an sich zu winden. Sie fühlte sich wie ein patschnasses kleines Kind, das sich in seinem eigenen Urin suhlte, weil es sich in die Hose gemacht hatte. Plötzlich ergriff sie eine nie dagewesene Sehnsucht. Im Geiste ächzte sie nach Freiheit. Sie blickte sich abermals zu ihren unzähligen hirnamputierten Arbeitskollegen um, die wie mechanische Puppen weiter ackerten. Keiner drehte sich zu ihr um. Keiner hörte auf zu arbeiten. Das kalte Geräusch der Fließbänder war die einzige Antwort auf ihre Ratlosigkeit: „Schere dich nicht um solches! Arbeite weiter! Die Fließbänder sind deine Freunde! Das ist dein einziger Lebenssinn!“ Da erkannte sie, dass sie ganz allein war. Gab es unter diesen Milliarden von Masken ein Gesicht, das genauso fühlte und fragte wie sie? Sie kam sich vor wie eine Schauspielerin, als sie weiterhin Blöcke verpackte. Doch wer war hierfür verantwortlich? Wer benutzte sie und alle anderen als Werkzeuge? Im Herzen der Frau spielten sich Gefangenschaft und Fernweh gegenseitig aus. Ihr kroch die blanke Panik die Kehle hoch. Da geschah es. Die Arbeiterin tobte in völliger Rage und versuchte ihren Zellengenossen etwas zuzurufen. Doch ihr entfuhr nur ein staubtrockenes Keuchen, denn man hatte ihr wohl irgendwie die Stimmbänder herausoperiert. Komischer Weise knurrte ihr Magen. Solch eine Körperregung hatte sie noch nie verspürt. Verzweifelt versuchte sie wegzurennen. Vergebens. Ihr Unterkörper war hoffnungslos im Boden eingemauert. Blitzartig schoss ihr hochkonzentrierter Strom durch die Venen. Die grauen Blöcke kamen und verschwanden ohne Verpackung. Noch ein Elektroschock. Sie hatte sich dem System widersetzt. Speichel sammelte sich in ihrer Mundhöhle und der Hunger in ihrem Bauch verschlimmerte sich. Eine eigenartige Spannung lag in der Luft während sie wimmernd auf dem Boden kauerte. Etwas Unsichtbares wartete wortlos darauf, dass sie endlich wieder weiterfabriziert. Unter bitteren Tränen und Stromschlägen trotzte die Arbeitskraft diesem Gesetz. Sie war bereit für ihren Instinkt zu sterben. Schlussendlich verlor sie total ihre Kontrolle. Mit allerletzter Kraft in den Fäusten schlug sie auf das Gerät vor sich ein. Mit einem bröckelnden Knall entfesselte sie die markerschütternde Wahrheit über diesen Ort. Als sie den Antrieb der Maschine sah, traute sie ihren Augen nicht. In diesem Moment setzte sich ein grauenhaftes Puzzle in ihrem Kopf zusammen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht und zitternden, blutigen Händen verpackte sie ihren letzten grauen Block. Dann legte sie ihn wie ein Geschenk zurück auf das Fließband. Unerbittlich schossen ihr weiterhin lodernde, elektrische Ladungen durchs Fleisch. Doch vor lauter Adrenalin fühlte sie den Schmerz nur noch sehr dumpf. Das Fließband wurde wieder zum Laufen gebracht. Sie kippte halbtot um. Liegend und dem Tode nahe wurde sie Zeugin ihrer eigenen Befürchtungen. Das Paket fiel in die Tischöffnung und gelangte an einen nie erträumten Ort. Sie erinnerte sich an den Hunger und den enormen Speichelfluss, nachdem sie ihre Arbeit gestoppt hatte. Das alles ergab jetzt einen Sinn. Deshalb also hatte sie jedes Mal einen merkwürdigen Appetit empfunden, wenn sie die Blöcke aus dem Loch kommen gesehen hatte. Und deshalb auch die Sättigung, nachdem die Kartons in die Maschine gefallen waren. Die Arbeiter hatten ihre Unterkörper aus gutem Grund nie zu Gesicht bekommen. Als sie durch die eingeschlagene Maschinenwand sah, züngelte ihr die traurige Wahrheit über sich selbst entgegen. Der Antrieb war aus Fleisch und Blut. Und sie fühlte sich mit ihm verbunden. Sie starrte gebannt auf diese krankhafte Geschwulst. Zu ihrem Entsetzen erkannte sie sich selbst in den Proportionen jener widerwertigen Eingeweide. Als dieses organische Ding zu pochen und pumpen begann, schmeckte sie ihn, den herzhaften Geschmack von Karton. Sie fühlte das Beißen und Kauen in ihrem Unterleib. Fühlte ihre monströsen Zungen sich um Pappe schmiegen. Dann gab es einen heftigen Speichel- oder Sekretausstoß und das Pappmaschee wurde von irgendeinem organischen Loch in ihr aufgesogen. Das also war ihr wahres Wesen. Das also hatte die ganze Zeit über unter ihrem steinernen Tütü gelebt. Sie war die Geschwulst und die Geschwulst war sie. Ihr Leben war ein ewiger Verdauungsprozess gewesen. Das Geschwür verzehrte die Verpackung, um den nackten Klotz dann wieder auf das Fließband auszuscheiden. Dann wartete sie auf den nächsten Leckerbissen aus Pappe. Es war ein unermüdlicher Kreislauf. Tatsächlich war es immer ein und derselbe graue Klotz gewesen, den sie ihr ganzes Leben lang verpackt hatte. Sie kam sich ausgenutzt und belogen vor. Wozu hatte dieser Irrsinn genutzt, wenn nur ihrem kurzweiligen Hunger? Doch diese Dame war nur eine von vielen fleischlichen Fingerpuppen in diesem Saal. Alle Sisyphusarbeiten waren mit jenem unterirdischen Netzwerk verwachsen. Sie alle hatten ein gefräßiges Monster unter ihrer Fassade. Das war das triumphale Produkt dieser Fabrik. Immer derselbe graue Kot, der nur neu bekleidet wurde. Immer noch ein Würfel. Immer noch unverändert. Weder davor noch danach, gab es andere Stationen in der Herstellung. Es roch nach einem kolossalen Betrug. Es war immer die gleiche Tour. Keine Weiterverarbeitung, keine Veränderung. Dies war das in Stein gemeißelte, unverrückbare Gesetz. So stand es schon immer geschrieben. So soll es immer geschrieben stehen. Nachdem jene Arbeiterin das herausgefunden hatte, wurde der Alarm ausgelöst. Seit dem ist sie von der Oberfläche verschwunden.

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