Sein letzter Kampf II

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Pentzw
Kalliope
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Sein letzter Kampf II

Beitragvon Pentzw » 26.05.2015, 15:36

Farbe bekennen!

Mir fiel ein Stein vom Herzen. Mein Onkel war gut weg- und aus der Affaire gekommen. Sicherlich, niemand würde Schaden erlitten haben, aber der moralische Schaden immens gewesen.
„Alles okay?“, fragte ich zu meiner Begleiterin gewandt. Ich nahm ein Taschentuch heraus und schneuzte mich. „Charascho!“ sagte sie und schmunzelte amüsiert. Plötzlich aber stieß sie hell und schrill auf, schlug sich dabei auf die Oberschenkel. Das schien ja eine Gaudi zu sein, was?
Wegen des Vorfalls mit dem Onkel – konnte das sein? Als sie mit einem Zeigefinger auf mein Gesicht wies und mit der anderen Hand ihren Mund verschlossen hielt, wurde es mir zu bunt.
Was war so komisch an mir?
Ich sah mir die Richtung ihres Fingers an. Aha, es wie auf mein Gesicht. In dieses zu schauen, konnte ich natürlich nicht.
Ich stand ziemlich dumm da.
Vielleicht lag es aber....? Ich wage es nicht auszusprechen.
Ich griff in der Seitentasche meiner Jeans nach einem Taschentuch, rieb meine Nase damit, putzte sie mir sogar, rieb sich noch einmal intensiver mit dem Papiertuch ab. Es sollte kein Rostrest an ihr kleben, obwohl ich die Empfindung hatte, dass da gar nichts wr. Plötzlich schrie ich vor Schmerz auf. Ich war an die Kerbe an meiner Oberlippe geraten. Jetzt hatte ich es. Deswegen lachte sie mich aus. Ich hatte die Ursache ihres Lachens längst wieder vergessen gehabt.
Als ich das Klebeband unter heftigsten Widerstand von der Oberlippe zerrte, ging das nicht ohne Blutvergießen vonstatten, Markerschütternder Schrei: Ein zweiter erfolgte, als ich danach die Stelle berührte, wo das Klebeband gewesen war. Da musste sich eine kapitale Hasenscharte befinden.
Aber was soll’s, Rassengesetze galten ja nicht mehr.
„Muss noch schnell zu meiner Tante „Guten Tag“ sagen, bin gleich wieder zurück!“
„Lass Dir Zeit, ich genieße einstweilen die Sonne.“
Sie setzte sich eine Sonnenbrille auf, verschränkte die Oberschenkel und lehnte sich zurück, um sich die Sonnenstrahlen auf die weiße Hau zu lassen. Wird auch Zeit, dass diese blasse Ukrainerin endlich mal Farbe bekommt. Immerhin, Farbe wird sie bald bekennen!

Nach der Eingangstür des Senioren-Heims befand sich eine Pförtnerloge. Ich klopfte gegen die Scheibe. Nichts rührte sich.
Ich beugte mich näher zur ovalen Scheibe.
Verschwommen machte ich da durch eine Person im hintersten Bereich des Raumes aus. Ich winkte ihr zu, doch sie reagierte nicht. Ich machte noch ein Huhu-Winke-Winke, aber keine Reaktion.
Davor stand eine Messingglocke, die einige Durchmesser maß, traute ihr nicht und wollte ich nicht betätigen, weil der Anblick der ruhig dasitzenden Dame mich einschüchterte. Nur Hand auf einen Knauf gedrückt und schon würde sie rasseln, wer weiß, wie laut. Das Dämchen in ihrem kleinen Kabäuschen entsprach einer Ikone, dem Bild einer rührigen, unschuldigen und fragilen Heiligen. Keineswegs traditionell, religiös und zeremoniell orientiert, flößten mir solch heilige Bräute und asketische Männer stets Ehrfurcht ein: Weltabgewandtheit, Askese, Ichstärke – toll!
Ich machte Handzeichen über Handzeichen. Wahrscheinlich war sie halb blind.
Schließlich steckte ich meinen Kopf durch das ovale Guckloch im Fenster, welches sich leicht öffnen ließ und ich verharrte: die bizarren Formen einer steinalten Nonne mit deren Häubchen, Talar, Ornament oder Trachtenkleid, erinnerten mich an ein Bild vom holländischen Altmeister Van Meer, entrückt-versunken und liebreizend dreinschauend. In ihrem hingebungsvollen Nickerchen hielt sie ein Strickzeug in Händen, die auf ihrem breiten Schoß ruhten.
Ihr Gewand, das wirklich diese imponierenden dicken Falten warf wie man sie auf Gemälden alter Meister bewundern kann und übrigens schwieriger zu malen als vermutet sind, war so weit ausgebreitet über den Stuhl, dass leider keine Aussagen über ihre Körperausmaße zu machen waren: dünn, schlank, klein, dick, mollig oder dickfällig, alles war möglich. Dahinter steckte natürlich Absicht, ich meine, solch Über-Kleider, XXXXX-L-Maße sich zuzumuten, tat man nicht ohne weiteres.
Aber darin liegt ja auch der Witz von so einem Gewand, nicht?
Nur ungern weckte ich sie.
Ich räusperte mich laut, sie öffnete sofort die Augen und ihre Hände arbeiteten automatisch weiter an ihrem Strickgegenstand für die lieben Neffen und Nichten der Familie. Aha, taub war sie nicht.
Dann hob sie die schweren Lieder und warf mir quasi einen unschuldigen Blick des Jetzt-Erkennens zu, der es in sich hatte. Da sprühte mir Leben entgegen, sapperlot.
„Ach, achje, sind Sie immer noch auf der Flucht?“
Wie, was? Damit konnte ich nichts anfangen.
„Ich verstehe nicht!“
Sie senkte die Augenlider schamhaft und kicherte.
Jetzt ahnte es schier, wollte es mir aber noch nicht voll eingestehen mit wem man mich in meiner in meiner äußeren Erscheinung verwechselte. Wer glaubt das, dass sie mit keinem Deut an meiner Existenz des Herrn Sie-Wissen-Schon zweifelt. Dabei müsste er nunmehr weit über hundert Jahre alt sein. Na, für manche sterben die Heiligen, Martyrer und Wie-Sie-Alle-Heißen niemals, zumal nicht für katholische Nonnen.
Aber so einfach machte ich es ihr nicht. Ich tat so, als wäre mein Name Hase, der von nichts wusste.
„Wie, was meinen Sie?“, fragte ich verdutzt die ehrwürdige Dame.
Sie kicherte überirdisch. „Na, wo glauben Sie, wo Sie hier sind?“
„Äh, ich glaubte bislang in einem katholischen Altenheim!“
„Ihr Glaube ist der rechte!“
Wieder schmunzelte sie und hob einen ihrer allmächtigen Finger, um mit diesem zu schlenkern, wie wenn man einem bösen Jungen die Leviten liest. Dennoch schwieg sie wissend lächelnd.
Nicht aufgeben, so leicht sollte sie es nicht haben.
Also stell Dir vor, Du bist Dir unbekannt. Was machst Du in dieser Situation?
Genau, Du stellst Dir Fragen.
„Gnädige Frau, warum lachen Sie denn so? Kennen wir uns vielleicht. Sind wir uns schon einmal woanders begegnet. Ich wüsste allerdings nicht, wo.“
Wirklich, ich zählte zu meinen Bekannten und Verwandten keine katholische Nonne.
„Woher?“, stammelte ich wieder.
Sie öffnete noch weiter die Augen, setzte ein noch breiteres Lachen auf.
„Das nächste Mal kommen Sie vorher zu mir. Ich werde sie rasieren, dass man nichts, nichts mehr sieht." Verschwiegen, verschwörerisch und geheimnisvoll zwinkerte sie erneut.
Ich tat so, als kapierte ich endlich. Genau, die Grund-Gütige spielte auf meine Hasenscharte, mein Gesicht, meine Konstitution an, das konnte nur, in ihren Augen, Gott sei dieser Armen Seele gnädig, der berühmte Adolf auf der Flucht sein.
Mir war ganz übel zumute. Was ich geahnt hatte, erschreckte mich jedoch mit der Gewissheit des Ausgesprochenwerdens. Und unternahm ich nichts, handelte ich nicht bald schnell, musste ich mit allem rechnen, mit dem Schlimmsten, mit...
Hastig ließ ich mir die Zimmernummer meines Onkel und meiner Tante geben.
Bevor ich mein sowohl entsetzliches als auch entsetztes Gesicht aus der ovalen Öffnung zog, sah ich sie noch, wie sie mich bekreuzte und segnete.
Jetzt war ich wirklich auf der Flucht, als verfolgte mich ein furchtbarer Fluch.
Zudem beschleunigte sich mein Schritt noch durch die Geister der Vergangenheit, die hier überall zwischen den Ritzen diesen alten von Vergangenheit trunkenen Hauses hervorgrinsten, lauerten und mir dicht auf den Fersen waren.

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