Mücke wird zu Elefant II - Der Tod Mr. Lovers

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Pentzw
Kalliope
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Mücke wird zu Elefant II - Der Tod Mr. Lovers

Beitragvon Pentzw » 15.07.2015, 18:26

Wir flogen einen Londoner Flughafen an. „Bitte anschnallen!" Ich tat es nicht. Für mich war Sicherheit ein Fremdwort geworden. Das Flugzeug schwankte. Für mich hatte das aber keinerlei Bedeutung mehr. Einfacher wäre, säße ich jetzt im jenem German-Wings-Flugzeug, das jüngst gegen eine phyrenäische Steilwand gerast und zerschellt war. Leider befand ich mich nur in einer englischen Billig-Fluglinie.
Mein Zustand war also mehr als hundeelend. Meine Freundin hatte geschrieben, dass ich natürlich jederzeit komme könne, aber ich solle Ihren Freund, Mr. Lover, zuhause lassen. Mit diesem wolle sie nichts mehr zu tun haben.

Eins muss man ihr lassen, nicht nur an theatralischem Gestus, sondern auch an kühl berechnetem Timing mangelt es ihr nicht, hält wenn man sich diese Zeilen vor Augen..

Tagebucheintrag von gestern.
Maria hat also ihren Freund die Freundschaft gekündigt. „I will have nothing to do with him. Don’t bring him with You!” In 24 Stunden fliege ich. Meine Euphorie ist im Keller. Zuerst habe ich mir den Kopf zerbrochen, vielleicht meint sie unter Freund einen wirklichen Freund. Aber sie kennt doch niemanden meiner Freunde. Nunmehr bin ich mir sicher, dass es sich nur um ihn handeln kann, Mr. Lover. Klar, so hat sie ihn doch bezeichnet, ihren Freund. Ist es schon so lange her, dass ich bei ihr gewesen bin, dass ich das vergessen konnte?
Wie aber soll ich das bewerkstelligen? Ihn abschneiden oder abreißen, bevor ich losreise?

Gleich wird man sehen, wenn man weiterliest, was Eingebung bewirkt. Als ob ich es nicht geahnt hätte, mein untrügliche, wenn auch unbewusste Menschenkenntnis hat mich gewarnt, bestimmt!
Nämlich, Tage vorher schon, bevor ich diese dubiose Message erhalten habe, bin ich magisch angezogen worden und immer wieder vor einem riesig großen, grellen Bild aus den Sechziger Jahren im Künstlerhaus gestanden, versunken in dieses grausliche Mann-Mit-Penis-in-der-Hand-Bild.
Der Mann, obwohl sein Penis noch dran ist, hält entgeistert starrend und blickend einen riesigen, ekligen in seiner Hand. Von daher könnte man es treffender und eindrücklicher Mann-ohne-Penis-Bild nennen. Freilich, nur Objektivisten, Realisten und Faktizisten sehen darin einen Widerspruch: wie kann jemand einen Phallus in Händen halten, während seiner noch, wenn auch ziemlich eingeschrumpft, dran ist? Von Verkleinertsein dieses kann jedoch genau besehen nicht gesprochen werden - wenn man sich meinen jetzt in natura anschauen würde, dann wüsste man, was das heißt – aber in Vergleich mit dem überdimensionierten in seiner Hand, dann schon.
Wenn ich hier schreibe, dass mich dieses Bild bereits vor Marias unfroher Botschaft verfolgt hat, wird es keiner glauben, wenn er nicht so verrückt ist, wie etwa die tiefgläubige Maria. Aber es war so! Als ob es eine Vorsehung gäbe. - Aber so eine gibt es!
Sollte es mir auch so ergehen, mit Maria, der englischen Jungfrau?
Sexualität ist Liebe ohne Religion. Liebe ist Sexualität mit Religion.
Wenn man mir nicht zumuten kann, ihn abzutrennen, vielleicht dann eine Impotenzspritze vom Arzt verpassen lassen, die Wochen andauert und meinen Besuch überdauert? Harmloser noch eine Art Anti-Viagra- oder Impotenz-Pille schlucken? Weiß der Teufel, was die Medizin und Pharmazie sich nicht alles schon ausgedacht hat mit ihren kranken Hirnen!

Natürlich kann man einwenden, von wegen Zufall, du hattest eh schon seit Wochen unter einem enormen sexuellen Druck gestanden und so bist Du halt an diesem Bild klebengeblieben. Könnte durchaus stimmen!
Nichtsdestotrotz befürchtete ich Schlimmes. Glaube man es mir oder nicht, ich sah grinsende Engelsgesichter durch die Flugrumpf-Luken des Flugschiffens sich die Nase und den Mund plattdrücken. Deren Hohngrinsen drückte mich tiefer und tiefer in die Sessel. Kleiner als klein fühlte ich mir vor der Begegnung mit der himmlischen Maria.

Eine andere Erinnerung holte mich in etlichen Tausend Metern ein.
Tagebucheintrag vom 23.03.2015 – Drei Monate zurück
Maria braucht Geld. Zum Essen, zum Trinken. Ich werde ihr welches schicken.
„I love You!“, sage ich, als ihre Schwägerin eine extrem schlechte Telefonverbindung mit Uganda herstellt.
„Naja! Quschsch!“, so in etwa, kommt, ein Laut, unübersetzbar, wenn auch für meine Ohren amüsant, weil ungehört, aber deutlich dringen ihre Zweifel durch. Dann spricht sie wieder mit Rosé. Der Lautsprecher ist freigedrückt. Eine extrem schlechte Verbindung zieht die Stimme Marias wie bei einem Verzerrer ins Groteske. Das klingt schaurig. Zudem ist es Ugandisch. Rosé übersetzt mir zeitversetzt Marias Worte.
„Hunger!“, „Kein Geld!“ „Alleingelassen!“ „Verwandte, Sohn, alle kümmern sich nicht um mich.“ „Vierzehn Tage noch.“ „Kein Geld mehr!“
Rosé, im Gegenlicht postiert, hat große, erschreckte Augen, die mit ihren Weiß vor schwarzem Hintergrund den theatralisch Effekt übersteigern, so dass sich eine Mücke zu einem Elefanten anwächst.
Ich erkläre mich sofort bereit, Maria Geld zu überweisen.
Dazu muss ich eine telefonische Verbindung herstellen, um ihr dieses nach Uganda zu senden und zukommen zu lassen. Dafür bedarf es eines übermittelten Codewortes. Damit öffnet sich für sie der Panzerschrank jedweder Geldfiliale in Afrika.
Das wähle ich aus, sobald ich den Betrag aufgegeben habe, wonach ich sie anrufe werde, um ihr eine vom Vermittler und Geldvermittler festgelegte Nummer mitzuteilen. Gleichzeitig muss sie sich natürlich dieses Chiffre einprägen.
Die Geldtransportfirma hieß Western Union, das klang nach Postkuschen- und Raubüberfällen zwischen engen und unwegsamen Schluchten oder von einsam in der Prärie da stehenden Postkutschen-Filialen, kurzum nach Wild-West-Romantik. Da sind sie wieder, die Pioniere und Entdecker der Neuen Welt aus meinen ersten Lebensphasen mit 10, 12, dabei dachte ich, sie seien mit dem Verschwinden des Wilden Westens untergegangen. Aber solch eine berühmte Postkutschen-Firma kann niemals untergehen, nur ihr Wirkungsbereich hat sich auf einen anderen Kontinent verlagert, ins unsichere Afrika, immer noch in terra Gefahr.
Da Mary nur Schlechtes von der Nation, der ich zwangsläufig von Geburt an angehöre, denkt und dies alles andere als hinterm Berg hält, zahle ich ihr es damit heim. Ich erkor natürlich den für sie nur zu sinnigen, unmissverständlichen, englischen, negativen Ausdruck, damit sie spürt und merkt, was dieses Wort „German“ für sie bedeutet. Voll Genuss, Befriedigung und Genugtuung stelle ich mir vor, wie sie es immerfort vor sich hinmurmelt, während sie sich halb verhungert und verdurstet durch die weiten Savannen Afrikas und dichten Dschungelbaracken Kampalas, hoffentlich verfolgt von Löwen, Luchsen, Krokodilen, Nashörner, Ameisen, Schlangen, Voodoo-Hexern und Medizinmännern zur Bank schleppt und merkt, welch erwünschte Schätze sich wie bei Aladin und der Wunderlampe auftun, sobald sie dieses Wort laut in den Mund nimmt.
Tatsächlich hat sie mir danach geschrieben: „I must thank U again, again, again...“ Ich muss Dir immerfort danken.
Aber von diesem Dank ist nicht mehr viel übriggeblieben. Nicht die Spur.
Notabene: Das schlechte Image der Deutschen lag darin, dass sich die meist älteren Engländerinnen, mit denen sie hauptsächlich gesellschaftlichen Verkehr pflegte, sich benachteiligt, hintersetzt und vernachlässigt fühlen mangels englischer Männer nach dem II. Weltkrieg, welche entweder im deutschen Bombenhagel oder bei der Atlantikoffensive ausradiert und dezimiert worden waren.
„Warum haben die englischen Fräuleins nicht auf die Amerikaner zurückgegriffen?“
„Hm!?“
„Ah, vielleicht, weil in deren Adern über 50 Prozent deutschen Blut floss?“
„Hm!?“
„Oder waren sich die feinen, kultivierten Ladys zu schade für die barbarischen Helfer und Unterstützer?“
„Hm!?“
Eine Antwort bleibt aus und sie schweigt. Ich schiebe es der Uganderin in ihr in die Schuhe, dass ihr wenigstens die Fragen wohl berechtigt erscheinen.

Vor dem Hintergrund der Bitte, sich einem AIDS-Test zu unterziehen, konnte ihre Botschaft nur eins bedeuten: das Ergebnis ihres Testes lautet positiv. Damit hing ich mit drin, höchstwahrscheinlich hatte es mich auch erwischt, ich hatte HIV positiv.
Ich fühlte mich weiß Gott nicht wohl in diesem Flieger, in dem ich mich freiwillig begeben und eingesperrt hatte. Ich fühlte mich niemals gut in Flugzeugen, aber jetzt, wo ich sicher wir, von einer der schlimmsten neuzeitlichen Seuche, Plage, Geißel und Krankheit der Menschheit heimgesucht und befallen zu sein, wie erging es mir da wohl? Mir wurde übler und übler, ich durchforschte und durchkämmte meine jüngste Vergangenheit, wo oder wer mir diesen „Makel“ beigebracht, vererbt und hinterlassen hatte, unterdessen landeten wir sicher, leider.

Es stellte sich jedoch heraus, dass sie sich gar nicht der Mühe hatte unterzogen, einen Test zu machen.
„Wir hätten dies, bevor wir überhaupt Sex miteinander machten, tun sollen!“, sagte sie achselzuckend, als spräche sie über das heutige schlechte Wetter, dass es leider heute schlecht wäre und man da nichts machen könne.
Die kleine schwarze Nonne hatte also wieder einmal einer ihrer beliebten Spielchen mit mir getrieben. Aller Schweiß und Angst umsonst. Ich hatte wegen einer ihrer Launen und makaberen Scherze gebibbert und gezittert. Aber die Wiedersehensfreude übertünchte meinen Ärger und alles war schnell vergeben und vergessen. Allerdings dauerte es schon seine Zeit, bis Mr. Lover wieder von den Toten aufgeweckt werden konnte. Aber nur einer Heiligen gelingt solch ein Lazarus-Effekt!

copyright @ werner pentz

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