Verbrannte Erde XX - Menschen abends am Bahnhof

In diesem Forum kann sich jeder mit seinem Text der Kritik des Publikums stellen. Selbstverständlich auf eigene Gefahr ...
Pentzw
Kalliope
Beiträge: 944
Registriert: 11.04.2011, 19:59

Verbrannte Erde XX - Menschen abends am Bahnhof

Beitragvon Pentzw » 05.12.2015, 20:03

Junges Flüchtlingsehepaar und, schwer einzuschätzen, vermutlich mit Kindern, sehr, sehr jung, oder waren es deren Geschwister gewesen, fragen nach einer Zugverbindung nach Ansbach. Vielmehr bat mich ein einheimischer Gefragter und Auskunftsgeber, ob ich dieser Fragenden Fragen in Englisch beantworten könne.
“Ihr habt aber noch eine halbe Stunde Zeit, bis zur Abfahrt des Zuges.“
Sie bedankten sich herzlich und verschwanden schnell in der Unterführung.
Entweder, die wollten nur ihr Deutsch prüfen und verbessern, oder sie haben es Ernst gemeint. Dies würde ich aber in einer halben Stunde wissen.

Dann hatte ich einen Mann, dicker Bauch und recht luftig gekleidet gesehen, wie er eine Frau kaum 20 Meter von mir abgestellte. Oder sollte man sagen, auf das Gleis gebracht und sich mit einem Kuss auf die Backe verabschiedet? Er hatte es jedenfalls sehr, sehr eilig, dieser recht dicke, kleine, fette, runde Mann mit einem T-Shirt, das ihn als Heavy-Metal-Fan auszeichnete. Radikal im Öffentlichen.
Die Frau hatte ein wenig herumgestanden, nach dort- und hierhin geschaut, bis sie sich schließlich zu mir herbegeben und an meine Seite gestellt hatte, als wäre es das Letzte, was ein Fremder ablehne könnte. Die Bitte, sich mir anschließen zu dürfen, hätte sie sich deswegen sparen können. Ja, jeder hat das Recht, dass er wohlbehalten an seinen Zielbahnhof gelangt.

Ich habe eine Anziehungskraft auf Bedürftige.

„Kein Problem! Laufen sie mir einfach hinterher.“
Ich stieg in den Zug ein, der gerade einfuhr. Die Frau dackelte mir nach wie ein treuer Hund.
Von den Ehepaar mit Kindern oder Geschwister keine Spur mehr weit und breit. Sie hatten ihre Bezeichnung bestätigt: Flüchtlinge.
Sie setzte sich mir schräg gegenüber, hielt in Händen ein Getränk wie etwas, an dem sie sich festhalten musste. Daraus machte sich während der Fahrt immer wieder kleine Schlucke.

Wir fuhren noch nicht los.

Aus dem Fenster sah ich einen Fahrgast mit Koffer aus der Unterführungstreppe heraufkommen, -rennen und sich abschleppen. Der Koffer musste sehr schwer sein. Warum humpelte der Schwarze? Hüfte kaputt? Poliokrankheit von Kindheit an?
Wie immer, ich erhob mich, betätigte die Tür-Öffnung, um ihm den Einstieg zu erleichtern.
Er bedankte sich sehr herzlich.
Ich setzte mich wieder. Er, dem Geholfenen, fasste die Hilfeleistung so auf, dass er sich mir gegenüber hinsetzen durfte.
Von mir aus!
Ein paar Höflichkeitsformeln. Als ich ihn als Amerikaner ansprach, überraschte mich seine Herkunft: Afrikaner. Ich fühlte, wie meist, wenn ich von der Sprache auf die Herkunft falsch getippt hatte, Schuldbewusstsein.
Mir fehlten bei Afrikanern die Erfahrungen, was soll’s. Er war gehbehindert und hatte schweres Gepäck zu tragen und es lag nun an mir, es schleppen zu müssen. So würde es jetzt aussehen, nach meinen kleinen Faux pas.
Egal!

Wir fuhren los. Die Abenddämmerung brach herein. Wir kamen aus der Stadt übers Land.
Außen war es bald dunkel geworden, so dass das Innere des Abteils sich zusehends deutlicher an den Scheiben abzeichnete und also plastisch materialisierte als Parallelwelt oder gar Anti-Materie. Ab und zu sauste ein Gegenzug an uns vorbei, dessen Rauschen im Lärm des Triebwerkes und der Motorengeräusche des Zuges, in dem wir saßen, geschluckt wurde und nicht durchrang, so dass Gespensterzüge an einem vorbeiflogen und -schwebten. War es jedoch ein Fernzug, ein hochmoderner, schneller ICE, dann tat es jedes Mal einen dumpfen Schlag an den Scheiben, das man fürchtete, sie könnten zerbersten.
Es war nicht nötig, mit der Dame Worte zu wechseln. Ihre flackernden, ängstlichen Augen verboten dies. Sie blickte überall hin, wo ihre Augen hinreichten, bewegte aber ihren Kopf weder nach links noch rechts.
Hielten wir an den einzelnen Haltstellen, sah man die gelben Bahnlampen draußen an den Fahrsteigen und Fußgängersteigen wie vergebens brennen.

Der Afrikaner zückte plötzlich einen Schein aus seiner Tasche. Er meinte, er müsse mich für meine Hilfe bezahlen. Von mir aus, ich konnte jede müde Mark gebrauchen.
Freundlich lächelnd steckte ich es ein.
Er sprach auch ein bisschen Deutsch, wenn auch nicht viel.
Als es zum Ausstieg kam, packte ich die Koffer, die so schwer waren wie Blei.
Scherzhaft sagte ich: „Sie haben für 5 Euro aber einen sehr guten Preis erhalten.“ Damit meinte ich die Kofferträger-Tätigkeit.
Er fasste es Ernst auf.
„Ja, wirklich einen sehr, sehr guten Preis“, wiederholte er mich.
Das traf mich ins Herz. Wenn einer Dir Deine eigenen Worte zurückgibt, fühlst Du Dich provoziert. Er hatte meine Hilfsstellung als ernsthafte Dienstleistung aufgefasst und nun, bei diesen Papageienworten, ärgerte ich mich darüber, dass ich nicht den 5 Euro-Schein abgewiesen und einen höheren Betrag gefordert hatte.

Ich schnorrte eine Zigarette im Bahnhofs-Vorhallenplatz von der Dame von vorhin und das kam so. Sie war ausgestiegen und bevor sie sich zum Taxistand anschicken wollte, hatte sie sich auf einer Bank niedergelassen und einen Glimmstengel angezündet, den sie tief inhalierte, so dass ich dachte, die kannst du jetzt nicht so einfach hier abstellen, wechsle noch ein paar Worte, bevor du weiter musst.
„Haben Sie Kinder?“
Warum ich die folgenden Frage nicht während der Zugfahrt gestellt habe, wissen Sie ja.
„Ja!“, kurz und bündig. Komisch, keiner dieser Kinder hatte ihr geholfen, bis hierher nach Ansbach oder sogar bis in die Psychiatrie zu gelangen. Nur ihr Mann, der dicke, eilige hatte sie zum Gleis begleitet. Aber nicht weiter als bis dorthin. Man muss wissen, Ansbach ist in Mittelfrankens so viel wie das Schloss Landeck in Rheinland-Pfalz oder das Mannheimer Institut für seelische Gesundheit für Baden-Württemberg.
„Wozu haben Sie eigentlich eine Familie, wenn Sie sie hier in der Nacht allein herumsitzen lassen? Kümmert sich niemand um Sie?“
„Die haben keine Zeit!“
„Haben keine Zeit, nicht mal, wenn jemand ernsthaft erkrankt, hat keiner Zeit. Wann denn dann?“
„Mein Sohn ist Bäckermeister. Er ist auf Weiterbildung in Nordrhein-Westfalen.“
„Ja, okay. Und ihr Mann?“
„Der muss morgens früh raus. Schicht!“
„Sauber, jetzt bin ich im Bilde. Moment, Ihre Tochter. Haben Sie nicht auch von einer Tochter gesprochen?“
Hatte sie zwar nicht, aber sie hatte eine.
„Ich will sie nicht mit meinen Problemen behelligen. Dass ich krank bin, ist mir schon peinlich genug. Glauben Sie mir. Ihnen noch Zeit zu stehlen deswegen, nein, das will ich nicht.“
„Hm.“
Ein herren- oder damenloser Hund strich außen im Vorplatz des Bahnhofsgeländes herum. Er suchte wohl nach Abgelegtes, Weggeworfenes. Ob der sich auch schämte?
Er hob sein linkes Bein und pisste an die Ecke.
Zur Hälfte rauchte ich die Zigarette, bis es Zeit schien, weiterzugehen.

Ich ging durch die Bahnhofshalle Richtung Zug und wer stand da? Die Dame vom Arbeitsamt, der ich gestern im Zug begegnet bin. Sie hatte aus Sorge um ihren Sohn die Fahrt hierher angetreten.
Ich wunderte mich, als sie eine Reihe von Medikamenten verpackt in eine Folie zückte und welche einnahm. „Sind Sie krank?“
„Ja, jetzt schon. Ich habe Krebs.“
Sie atmete tief durch.
Endlich, nach Jahrzehnten Suchens und Leidens, wäre es schließlich ans Tageslicht gekommen: den Befund Krebs zu haben.
„Ich bin darüber sehr, sehr froh. Denn endlich weiß ich, was ich habe.“
„Vorher hatten Sie etwas anderes?“
„Nein, nein. Ich wusste nur nicht was. Ich war depressiv. Dauerzustand.“
„Dagegen nahmen Sie Medikamente.“
„Natürlich!“
„Wo arbeiten Sie denn?“
„Beim Arbeitsamt.“
„Nicht beim Jobcenter.“
„Nein, ich bin für die Arbeitslosen I zuständig.“
„Für diejenigen, die gute Chancen haben, wieder eine Arbeitsstelle zu bekommen.“
„Sagen wir lieber so. Anfänglich ja. Theoretisch.“
„Entschuldigung, dass ich sie unterbreche. Ich kenne mich da ziemlich gut aus. Ich war jahrzehntelang Arbeitsloser Kategorie II. Sehr schlechte bis misserable Vermittlungsaussichten. Aber ich bin pumperlgesund!“ Ich lachte.
„Gratulation.“
Die Frau war sehr nett.
„Aber mich hat meine Arbeit doch fertig... Halt, nein, ich war einfach melancholisch.“
Sie hatte sich versprochen.. Aber was nicht wahr sein darf, ist nicht wahr, so dass sie sich selbst schnell verbesserte. Wer würde nicht bei einer staatlichen Arbeits-Vermittlungsstelle auf Dauer in die düstere Stimmung verfallen?
„Nun, jetzt hat man aber Krebs festgestellt. Das war die Krankheit, an der ich litt.“
Ich schwieg dazu. Sie erzählte zu rührig über ihr Dilemma. Ich wollte sie nicht irritieren, ihr nicht die Zweifeln in den Geist pflanzen, dass vielleicht das eine Ursache des anderen wäre. Die frustrierende Arbeitstätigkeit, die sie mit Medikamenten und Therapien behandelte und lösen wollte, führten durch überhöhten Medikamentenkonsum schließlich zum Krebs.
Da stand sie also wieder. Verloren und alleine.
Nein, ich brachte es nicht übers Herz, ihr gestern meine Vermutung mitzuteilen. Sie war so nett gewesen.
„Sie haben gesagt, ich sollte vielleicht meinen Arbeitsstelle wechseln. Von der Arbeitsvermittlung zur Psychisch-Kranken-Betreuung“, sagte sie sofort aufgeweckt und freundlich lächelnd.
Ja, diesen Vorschlag hatte ich ihr gemacht.
„Das wäre doch gut, nicht? Ich könnte diesen Leidenden doch viel geben. Weil ich aus Erfahrung spreche.“ Sie lachte wieder.
„Ja, ich glaube auch.“
Sie hielt ein Aufputsch-, vielleicht Vitamingetränk in Händen, während sie inmitten der weiten Halle des Bahnhofs verloren dastand.
Dann lachte sie auf einmal besonders stark.
„Trotzdem soll ich ihnen helfen, obwohl ich weiß, dass es diesen kranken Menschen nicht helfen wird.“
Sie hatte Recht. Wer psychisch krank war, dem war schwer zu helfen und wer Depressionen hatte, der war schwer aus diesem Sumpf herauszuziehen. Sofern er natürlich sehr tief drinnensteckte. Diese Frau tat das. Das wusste sie. So lachte sie nur noch darüber, dass ihr kein Ausweg blieb. Aber sie hatte wenigstens ihre Krebsdiagnose. Ein Hoffnungszeichnen.
Ich machte mich auf den Weg. Ich ging weiter.

Zurück zu „Texte“

Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 32 Gäste