Verbrannte Erde XX - Menschen abends am Bahnhof II

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Pentzw
Kalliope
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Verbrannte Erde XX - Menschen abends am Bahnhof II

Beitragvon Pentzw » 26.12.2015, 13:51

Menschen abends auf dem Bahnhof II

Da trat eine Frau mit einem Mann auf dem Bahnsteig, unmittelbar an der Unterführung, ganz hinten links. Sie mussten vom Süden kommen, nicht vom Haupteingang, sondern von Eingang hinten, südlich des Bahnhofs, mussten sie ihn betreten haben. Dort konnte der Mann sein Motorrad unbeeinträchtigt abstellen, auf das zu setzen er jetzt kaum noch warten konnte. Er war luftig gekleidet und mit Schmerbauch, der ihm aus dem lose über den verschossenen Körper hing und herausdrang und lugte. Er war viel zu schwach bekleidet für diese Jahreszeit, so als hätte er es eilig gehabt und sei unter Druck gestanden, sich schnell anzuziehen und aus dem Haus kommen zu müssen, um, um, ja, letztlich nur hier seine Frau abzustellen und möglichst genauso schnell wie hierher-, wegzukommen, zum geliebten, schnellen Gefährt.
Doch der Mann zweifelte: „Kann ich meine Frau hier allein stehen lassen?“ Und schaute sich um. Ein seriöser Mann mittleren Alters stand dort, kaum zehn Meter entfernt, der auf den selben Zug zu warten schien, wie seine Frau. „Na gut, ich muss los, weil morgen, morgen muss ich wieder arbeiten, verflixt. Wie mich meine Frau anschaut. Es schmerzt sie, dass ich sie verlassen muss. Aber, Frau, - warum sage ich es nicht laut und denke es nur? – ich muss gehen, ich muss arbeiten, womit ich Geld verdiene und unsere Tochter studieren kann. Und wir unsere Hausschulden abbezahlen können. Ich weiß, für Dich sorgen andere, der Herr dort drüben zum Beispiel. Dann die Pfleger, Ärzte und Helfer in der Psychiatrie, wofür wir nichts bezahlen müssen, dafür kommt doch der Staat auf. Und wenn ich nicht arbeite und Dich begleite, dann... Du weißt schon.“
Der recht kleine, dicke, fette und runde Mann drückte seiner Frau keinen Kuss auf die Stirne, er fasste sie nur kurz an der Schulter, bevor er sich umwendete - nicht einmal ein Wort sprach er und in der Unterführung verschwand er blitzschnell. Eine Geschwindigkeit konnte er an den Tag legen, die man seiner Gestalt nach nicht zuschreiben und zutrauen würde.
Hätte er sich nur mit einem Kuss auf der Backe verabschiedet, dachte er noch reumütig, bevor er auf seine Harley Davidson sprang und stieg und über die Straße nach Hause preschte. Sein T-Shirt, nur ein leichtes Überzug, sehr nachlässig dies und gefährlich für Nieren und Gesundheit, flatterte dabei im Fahrtwind: Sein Heavy-Metal-Logo signalisierte seine Radikalität im Öffentlichen. Und das nur war wichtig: was andere über einen dachten.

Die gleichfalls etwas dickliche, robuste, kleine Frau hatte ein wenig herumgestanden, nach dort- und hierhin geblickt, bis sie sich schließlich zum vertrauenswürdigen Mann am Gleis hier hinbegeben und an seine Seite gestellt hatte, als wäre es das Letzte, was ein Fremder ablehne könnte. Die Bitte, sich ihm anschließen zu dürfen, hätte sie sich sparen können. Ja, jeder hat das Recht, dass er wohlbehalten an seinen Zielbahnhof gelangte. Und jeder hat die Pflicht, dies anderen zu ermöglichen. Vor allem wenn sie „krank“ waren, geschweige denn „psychisch krank“ waren.

Dann traf ich diese Frau vom Arbeitsamt, die Ämterfrauen, die Sachverwalter und Sachverwalterinnen, wie man sie nannte. Die Nichtsbestimmtes-Können-Frauen-und-Herren.
Sie waren die andere Medallie dieser sogenannten psychisch-kranken Frau, die es vielleicht auch deswegen war, weil ihr Mann so viel arbeitete, weil die Tochter studieren und es einmal besser haben sollte, weil sie ein Haus halten und jedes Jahr in den Urlaub fahren wollten.
Und weil es diese Frauen und Männer hier gab, die diese Verschiebung der Verantwortung der Familie auf dem sogenannten Staat aufrechterhielten, davon lebten und partizipierten: die Sachverwalter, wie man sie nannte. Hier Sachverwalter von Menschen, die keine Arbeit finden. Fragt man sich, wie kann man etwas verwalten, was es nicht gibt, nämlich Arbeit, so liegt man schief. Es geht nicht um Arbeitsvermittlung, es geht um Arbeitslosen-Betreuung. Dies aber so zu bekunden, wäre die Wahrheit, die unbezahlbar geworden ist.

Als ich am Bahnsteig mit Ziel zurückfahren stand, tat ich dies neben zwei Frauen.
Ich wagte sie jedoch nicht anzusprechen.
Endlich saßen wir im Abteil, uns soeben über die bequem Sitzgelegenheit hierdrinnen freuend, da wir gerade draußen in der Unwirklichkeit herumgestanden waren und auf den Zug gewartet hatten. Ein Flaschensammler störte plötzlich unsere Idylle, der mit seinem hektischen Sammeln, Auflesen und Picken von leeren Pfandflaschen in den Müllablagen der Zugabteilungen zwischen unseren Gliedern hindurch nach solchen fischte und grabschte.
Ich fühlte mich bemüht, dieses störende Verhalten den Fremden zu erklären und zu rechtfertigen: „The poor are gathering empty bottles, because there are some fee on it...“ Und schon steckte ich in einer Sackgasse der Erklärungsnot, zum einen, weil mir der englische Ausdruck nicht geläufig war, was wunder, wie sich bald herausstellte, es solches Pfand und so eine Deklaration mitnichten in Irland gab.
Vergeblich fragte ich nach einem englischen Äquivalent.
Na klar, reagierte ich auf dieses Wort-Fehlen hin, die Iren leben ja auf einer Insel, die vom Meer umgeben ist und der Usus bestand, durfte man Fotographien aus den Zeitungen ihres Heimatlandes trauen, dass der Abfall-Plastik einfach in diesem entsorgt werde.
Damit hielt ich nicht hinterm Berg.
So fühlte sich eine der Damen bemüßigt zu bemerken: „Das stimmt. Viele Menschen bei uns zuhause werfen den Müll achtlos weg. Aber ich habe meinen Kindern anderes Verhalten beigebracht.“
Das hieß, es ändert sich etwas im Verhalten der Iren mit dem Umgang des Müll.
Das waren Neuigkeiten aus Irland.
Sie stiegen aus.

Ich wiegte mich im Rütteln der Zugwaggons. Neue Züge waren es, aber doch Gerüttle verursachten sie.
Beim Öffnen der Türen erschallten schrille Pfeiftöne. Sie verstummten erst, als die Türen wieder zugingen. Beendet mit einem Klappgeräusch. Aber auch wenn die Türen es unterließen, sich zu öffnen, waren die schrillen, hohen Töne zu vernehmen und wenn nicht, bewusst gehört, so drangen sie unweigerlich durch das vegetative Korsett wie ein unsichtbares Schwert oder elektronisches Laserlicht: unentrinnbar.
Wenn der Zug bei der Abfahrt beschleunigte und Geschwindigkeit aufnahm, wurden die Laiber und Körper gegen den Sitz gepresst oder beim Verlangsamen aus diesem gedrückt.

Mit einem Mal fiel meine Aufmerksamkeit auf eine mittelalterliche Frau mit Händy.
Sie hatte es herausgezogen und durchzublättern begonnen. Sie tippte auch darin ein und surfte mit ziemlicher Hingabe.
Ich zückte mein Tagebuch und begann sie zu zeichnen. Mein Bleistift hatte Schwierigkeiten ein klares Bild von ihr hinzukriegen.
Sie hatte ihr Bein übereinander geschlagen dabei und jedes Mal, wenn sie über eine aufgeschlagene Webseite länger brütete, langte sie mit der linken freigewordenen Hand zu ihrem Haar, um eine Strähne zwischen ihren spitzen Fingern zu drehen. Hatte sie sich sattgesehen an der Seite, ließ sie ihre Hand herabfallen, wobei sie, als hätte sie einen Fusel oder sonst etwas Ekliges in ihren Händen, dieses gleichsam mit einer schnippenden Fingerbewegung auf den Boden abtropfe und abschüttele. Über beider Arme liegen goldene Schmuckstücke, links ein Armreif, rechts eine feudale Uhr mit römischen Ziffern.
Dann fiel mein Blick auf die rechts schräg gegenüber Person.
Bei manchen Menschen war es absolut außerhalb jeglicher Galaxie, sie nicht zu fragen, was ich jetzt mit ihr gern getan hätte. Diese ältere Dame traute ich mich aber nicht zu fragen, ob ich sie zeichnen durfte – warum eigentlich?

Der Mann, mit dicken, trüben Gläsern in einem einfassenden Horngestell, dass ihm schief auf der Nase saß und seinen Blick gleich einem Schieler erscheinen ließ, sah aber immerzu steif geradeaus. Seinen Pupillen waren messerscharf und eisensteif auf einen imaginären Punkt ausgerichtet. Nach links oder rechts zu guckten, tat er nur ruckweise, als ob er dazu befohlen wurde, und also nur dann wie auf Befehl. Doch war er noch in Besitz seiner vollen geistigen Kräfte und Anstrengung, wenn auch eingeschränkt durch seine starke Sehbehinderung. Sobald er aber den Mund aufmachte, merkte man, woran man mit ihm war. Man durfte sich halt keinen Eindruck und kein Eindruck bilden aufgrund eines ersten Blickes machen.
„Heute habe ich meine Frau beerdigt.“
„Ach ja!“
Der Mann ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Der Mann ließ sich nicht aus dem Konzept bringen.
„Sie war 20 Jahre lang bettlägerig gewesen. Jeden Tag fuhr ich zu ihr hin und habe mich um das Nötigste gekümmert.“ Er zählte auf, was, was ziemlich ermüden wirkte und es ja auch in Wahrheit und Wirklichkeit gewesen war.
„Tja!“
Eigenartig, er betonte nicht einmal das Jeden-Tag.
Es war wirklich eine
Selbstverständlichkeit gewesen für den alten Mann, Hut ab.

„Meine Frau ist mir abgehauen.“ Todtraurig.
„Das hast Du immer noch nicht verkraftet?“
ü“Nein, immerhin waren wir 14 Jahre verheiratet...“
„Na und! Bei mir waren’s 11 und als sie wieder zu mir zurückwollte, habe ich die Schotten dichtgemacht.
Gleichzeit warteten wir aber zwei Stammtischfrauen auf iihn, irgendwo an einer anderen Stelle in der Großen Bahnhofshalle hier. Aber er klebte mit seinen Klagen wie ein Bonbon an mir. Wie kiegte ich ihn wieder los?
Ich geh schon, aber er brachte immer neue Vorwürfe auf. Der andere wohnte im gleichen Haus.
Na und, sagte mein Blick.
Des anderen Frau hatte Krebs und war noch nicht einmal gestorben, da ist er jeden Abend in ein anderes Dorf hinübergefahren, um sich mit meiner Frau zu treffen, wo sie sich zu zweit eine Wohnung angemietete hatten.
„Moral hilft überhaupt nichts, weißt Du, weswegen er seine Frau heiratete? Vielleicht, wie bei Türken üblich, war es eine arrangierte Liason. Einzig zum Zwecke der Besitzstandsmehrung! – Außerdem gibt es seit Jahrzehnen iun der Scheidungsklage nur nicht mehr das Schuldprinzip.“
„Ja, das ist auch gut so, das Zerrüttungsprinzip ist schon gut.“
„Siehst Du.“
„Ja, aber.
„Denk mal an die Frau.“
Er wirkte sehr zerstreut. Mehr als zerstreut.
Du meinst meine Frau?
Inzwischen hatten wir uns geduzt.
Nein, die andere, die irgendwo im Bahnhof wartet.
„Ach so, ja!“
Er räusperte sich zusätzlich und, als hätte ich ihm gerade auf die Schulter geklopft, sagte: „Ja, richtig!“ und gab sich damit einen Ruck und verabschiedete sich umständlich mit Hoffentlich-Bald-Wiedersehen.

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