Zwei Berichte, eine Geschichte

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Pentzw
Kalliope
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Zwei Berichte, eine Geschichte

Beitragvon Pentzw » 27.12.2015, 03:11

Ich möchte einen Bericht schreiben. Ich möchte keine Geschichte schreiben, die fiktiv anmutet.
Die Handlung hat wirklich so stattgefunden, also ist es ein Bericht.
Wie ein Bericht sein soll, schreibe ich.
Am Bahnhof. Ich wurde um eine Frage angegangen. Flüchtlinge. Eine andere Person schaltete sich dazwischen: „You have to buy...“ Der Mann hatte eine Begleiterin, die mir bekannt vorkam. „Woher kenne ich Dich?“ , fragte ich, als auch diese sich zu Wort gemeldet hatte, in einem besseren Englisch als der andere. Sie war mir bekannt, nur wusste ich nicht, woher.
„Ach geh!“ Sie nannte einen gemeinsamen Bekannten. Dann ging auch mir das Licht auf.
Wir stiegen in den Zug ein, wobei sie sagte: „Komm, suchen wir uns einen Platz im Abteil, dann können wir etwas reden.“
Wir sprachen zuerst über gemeinsame Bekannte, Freunde. Das Wort fiel auf Reinhold.
„Der war ein Spitzel!“
„Was, glaube ich nicht!“, sagte ich.
Aber sicher, versicherte sie.
Apropos Wort „sicher“. Sie war Lehrerin gewesen, Deutsch und Englisch, aber ihr Bekannter Versicherungsagent. Ich erinnerte mich, dass er mir nicht ganz geheuer war. Also, ich meine, ich bin auch vielen nicht geheuer, Künstler, man versteht, aber der war mir nun nicht ganz koscher. Er stierte auf, verunsicherte, undsoweiter. So empfand ich es. Muss ja nicht bei allen gewesen sein. Mir sagte man über ihn, er würde alles versichern. Auch mir wollte er eine Versicherung andrehen, gab es wohl bald auf, denn beim einem Künstler Versicherung, das ist nur ein Witz.
„Er wohnte damals in unserem Haus“, erzählte die Bekannte weiter. Ich erinnerte mich. Reinhold wohnte mit dem Versicherungsfritzen zusammen, woraufhin die Lehrerin als Partnerin einzog. „Er kam jeden Tag zu mir in die Wohnung und hat mich ausgehorcht“, so die Lehrerin. „Drogen, Hehlerei...“ „Genau, das hat er alles der Polizei weitergegeben“, meinte sie.
Stopp: das klingt wie eine runtererzählte Geschichte. Es soll ein Bericht sein. So soll es sein!

Trotz dem es ein Bericht sein soll, müssen Fragen erlaubt sein.

Frage 1:
Ich weiß den Namen der Lehrerin nicht. Sie hat ihn mir nicht gesagt, oder wenn doch, dann habe ich ihn mir nicht gemerkt. Frage: warum merke ich mir nicht ihren Namen? Ich kann sagen, dass ich ein sehr gutes Namensgedächtnis habe.

Frage 2: Was kann es einer Lehrerin, die beim Staat angestellt ist, an einer öffentlichen Schule nämlich, stören, wenn eine Person Drogendealer verrät? Müsste sie dies nicht für gut halten, da schließlich Jugendliche von Drogenkonsum bedroht sind und dieser schädlich ist, zumal für die pubertäre Entwicklung?

Der Bericht geht hier weiter.
„Ich habe mich aber gut mir Reinhold verstanden. Der hat die Martinsklause als Wirt geführt, ich habe mit seiner Unterstützung und den Gästen zwei Filme drehen können. Das war fantastisch.“
Im Gegensatz zu den Gestrauchelten, den Arbeitslosen, den Orientierungslosen waren Frau Lehrerin und Herr Versicherungsagent keine Gäste in diesem Lokal. Sie hatten auch nicht mitgewirkt in den Spielfilmen, die wir dort ausheckten, teilweise drehten und wo die Schauspieler, Techniker undsoweiter zusammenkamen.
„Ich erinnere mich, dass er mir eine Autobiographie über Fouché gegeben hat“, sagte ich. Es stimmte. Das war bemerkenswert. Reinhold las normalerweise nicht, sondern glotzte Viva oder so einen Musiksender.

Frage 3. Warum erwähne ich das? Klar, es passte dazu. Und besagt: Durchaus möglich, dass Reinhold ein Spitzel war. Er hatte auch einmal jemand zusammengeschlagen, bevor er die Kneipe hatte, erinnerte ich mich, dass er mir erzählt hatte.
Vielleicht hatten die Bullen in von daher auf dem Kieker: Zweite Chance, wenn Du ein paar Tipps, Winks herüberwachsen lässt. In Deiner Kneipe verkehren doch recht zwielichtige Typen...
Auch erinnere ich mich, dass er mir damals eine Stereoanlage verscherbeln wollte. „Das ist bestimmt Hehlerware“, hatte ich gesagt. „Das ist keine Hehlerware.“, hatte er mit Bestimmtheit entgegnet.

„Wusstet ihr, dass sich Reinhold erschossen hat?“
„Das geschieht ihm g’scheid recht!“, sagte die Lehrerin spontan. Muss ich wiederholen, dass dies ein Bericht ist?
„Ich muss doch bitten, jemanden den Tod zu wünschen...“
„So sagen halt die Abenberger!“, beeilte sich die Lehrerin zu sagen.
Daraus schloss ich, sie wohne jetzt in diesem Dorf und habe sich gut angepasst.
„Er hat nicht mehr aufhören können zu rauchen. Die Ärzte haben ihn gewarnt: aufhören oder qualvoll sterben. Dann hat er sich erschossen.“
Die beiden schweigen.
Ich erinnerte mich an eine einige Jahre zurückliegende Begegnung mit dieser Lehrerin, als ich über einen ihrer Kollegen mich erboste: „Er hat mich verprügelt, dieses A-Loch.“
„Aber er hat zwei süße kleine Kinder großgezogen.“
Nun fiel mir Reinhold ein.
„Er hat immerhin einen Sohn großgezogen.“
Schweigen, lastendes Schweigen.
Damals konnte ich gegen diese Aussage nichts erwidern, entgegnen, obwohl ich zwar heute nicht mehr den Schmerz auf meiner Backe spüre, worauf er mit bloßer Hand geschlagen hat, aber die entwürdigende Wirkung ist mir noch präsent. Überhaupt, warum werde ich geschlagen? Aber wer Kinder großgezogen hat, dem wird in unserer Kultur fast alles verziehen. Reinhold sollte auch davon profitieren, zumal wir eine herrliche Zeit hatten, zwar keine Kinderchen machten und großzogen, aber ein paar fetzige Filme drehten. Die ganze Stadt war auf den Beinen damals.
Außer die Lehrerin, der Versicherungsagent und ein paar andere. Uns hat keiner unterstützt, die Staatsvertreter warfen uns sogar Knüppel zwischen die Beine, wenn sie konnten...

*

Ich kenne eine angehende Deutschlehrerin.
Oben die pensionierte Deutschlehrerin, hier die junge, angehende - der Zusammenhang ist klar.
Noch einmal die ältere Deutschlehrerin, die aus dem Schulsystem heraus ist und dieses ungestraft schelten kann, nach Lust und Laune. Meinungsfreiheit nennt man das übrigens.
Berichten bitte, nicht kommentieren!
„Heutzutage werden doch die Jugendlichen verheizt. Da stellt man ihnen ältere Lehrer vor die Nase, die sich einen Scheißdreck um diese pubertierenden Jugendlichen kümmern...“
Meinungsfreiheit nennt man das übrigens!
Berichten!

Zur angehenden Deutschlehrerin sagte ich: „Franz Kafka, die Verwandlung. Das war grauenerregend, als ich das gelesen habe...“
„Aber das muss doch lustig sein“, meinte Bernadette, die Aspiratin. „Ich habe es zwar nicht gelesen...“
„Was lustig? Das war das Schlimmste, Grausamste, was ich in meiner Hochpubertär-Phase gelesen habe...“ „Glaube ich nicht!“, erwiderte Bernadette, die baldige Deutschlehrerin, die das hiesige Schulsystem plus universitären Ausbildung zur Lehrerin durchschritten hatte, ohne je ein Buch von Franz Kafka gelesen zu haben, geschweige denn „Die Verwandlung.“
Okay, ich bin älter, aber ich kann mir vorstellen, wie sich ein Jugendlicher mit seinen sich entwickelnden Pickeln auf der Nase vorstellen kann, dass dies Vorboten eines wachsenden Schnabels sein könnte. Bernadette würde wahrscheinlich mit den Jugendlichen bei Schullektüre in Lachen ausbrechen.

*

Bernadette ist eine Lehramtsanwärterin für Deutsch in der Realschule – ja, meine Bekannte war ausgebildete Lehrerin – meint, wenn man Kafkas Verwandlung liest, dann wird man darüber lachen müssen, sobald man sich in einen Käfer zu verwandeln beginnt. Bernadette ist mehr als halb so alt wie ihre Vorgängerin. Stelle ich mir vor, mir wächst auf der Nase ein Schnabel, so die Pickel die Anzeichen dafür sind, denn die Haut verhärtet sie, bevor es ein Horn bildet, dann werde ich darüber in einen Lachkrampf ausbrechen, so sinngemäß Bernadette. Sie hat, obwohl die 1. Hürde ihrer Ausbildung überwunden, niemals im Leben Franz Kafka gelesen und sie wird gemeinschaftlich mit den hochpubertierenden Schüler es lachend schon noch tun.

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