Sein letzter Kampf IX

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Pentzw
Kalliope
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Sein letzter Kampf IX

Beitragvon Pentzw » 18.07.2016, 23:15

Glockenturm über den Wiesengrund

„Schmidt!“
„Meyer!“
„Wer bitte?“
Eine barsche Stimme am Telefon wiederholte den Namen.
„Ach, Erwin! Du bist es! Lange nichts mehr gehört!“
Es war ein alter Kämpfer, ein strammer Nazi, so wie ich. Mehr noch, er war mal Obersturmbann-Führer, einer meiner Vorgesetzter gewesen. Er war noch mehr Nazi als ich also, falls das möglich ist. jedenfalls stimmlich-, tonfallartig, auftretungsmäßig.
Und natürlich ließ ich ihm das erste Wort.
Er erzählte, was passiert war seit seinem letzten Anruf. Es ging ihm besser.
„Was hälst Du davon, uns einmal wieder zu treffen? Es wird wieder einmal Zeit zu einem Kameradschaftstreffen. Alte Freunde untereinander, Soldatenlieder singend, Saufen und in Erinnerung schwelgen. Du weißt schon!“
„Ohja, das wäre schön. Ist ja schon lange her, unser letztes Treffen, nicht?“
Ich schwelgte gleich in Erinnerung, wie das letzte Mal jemand Fotos mitgebracht hatte mit Bilder von zerschossenen Kriegsgeräten der Franzosen. Das war eine Genugtuung, zu sehen, wie die Schmach von Versailles gutgemacht worden war im Blitzkrieg gegen den Erzfeind und westlichen Nachbarn.
„Ja, sind jetzt drei Monate. Man fühlt sich so überflüssig, als man nicht gelebt hätte, das Alter, du weißt!“
„Ja, also ob wir nicht gekämpft hätten für unsere Ziele.“
„Jawohl!“
Genaueres unterließen wir mittlerweile. Niemand wusste, ob nicht jemand mithörte. Du Welt steckte ja so voller Denunzianten, Wichtigtuer, jüdischen Verfolgern, Rachsüchtigen undsoweiter. Man konnte gar nicht vorsichtig genug sein.
„Oja, wäre gut. Aber ich...“
Er wusste, worauf ich hinauswollte. Er reagierte sofort, wie ich nicht anders erwartet hatte, ein wahrer Kamerad eben, hier bewies es sich wieder.
„Kein Problem. Da ich der Rüstigere bin...“
Er lachte trocken. Es gab wirklich nichts zu lachen darüber. Aber ein gewisser Zynismus hatte sich doch eingeschlichen, wen wundert’s bei solchen, die immer nur so vor Gesundheit, Tatkraft und Aktivitätsdrang trotzten wie wir.
„Werd Dich abholen. Moment Mal. Schwuppdi-Wupp, hab auch schon Papier und Bleistift zur Hand. Beschreib Mal, wo Du wohnst. Das Heim finde ich ja leicht. Muss nur meinem Fahrer den Straßennamen mitteilen... Aber Dein Zimmer.“
„Im Zweiten Stock.“
„Und zwack, schon zweiter Stock notiert.“
Ich zögerte jetzt aber. Es gab nur mittlerweile mehrere zweite Stockwerke, da ein Anbau stattgefunden hatte, zu der Zeit, als ich diesen, diesen jungen, nunja Nazi kennengelernt hatte. Ich wusste nicht, was ich da sagte, als ich weiterredete und meine Informationen zum Besten gab. Ach, hätte ich doch nur einen Moment überlegt, ich Hornochse.
„Du fragst nach dem Schwalbennest. Das ist das...“
„Schwalbennest?“, wiederholte er im Ton, als traute er seinen Ohren nicht.
Jetzt kam mir dieser Ausdruck auch komisch vor. Zunächst einmal nur seltsam, sonst nichts.
„Frag einfach, egal, wen Du triffst, wo ist hier das Schwalbennest? Jeder wird Dir es sagen können“, redet ich weiter arglos.
„Hör ich recht? Schwalbenest?“
Wie klang das nur?
„Du hast richtig verstanden!“, bestätigte ich ihm noch. Nicht genug damit, ließ ich die Bemerkung fallen: „Schwalbennest, über den Wiesengrund.“
„Wiesengrund?“
„Ja, das ist der Stock darunter!“
Allmählich kam’s mir schon.
„Na gut, ich notiere: über den Wiesengrund ist das Schwalbennest!“ Jetzt unterließ er die Bemerkungen von wegen Zack-Zack, scheinbar saß ihm der Stift nicht mehr so fest zwischen den Fingern. Tja. Aber ich war noch völlig ahnungslos, wohinein ich mich da verirrt hatte.
Noch dachte, genau, wenn man es für sich betrachtete, war es schon so recht, sogar romantisch klang das doch.
„Ja, und darüber ist der Glockenturm.“
„Der Glockenturm?“
„Ja, das ist der dritte Stock. Aber der wird gerade umgebaut.“
„Aha. Der Glockenturm wird gerade umgebaut. Sag mal, bist Du sicher, dass Du in einem Seniorenheim lebst und nicht in einer Dorfkirche?“
Musste das sein?
„Äha, ja, warum...“
Ich befürchtete schon, mir glitte der Telefonhörer von der Hand, so schwach fühlte ich mich auf einmal. Jetzt wurde es mir auch klar. Richtig, das klang doch zu blöd! Schwalbennest. Zu sagen: Ich wohne im Schwalbennest.
Schmidt hat bestimmt gedacht: „Mann, piepst‘s bei Dir vielleicht schon?“
Dann Glockenturm obendrauf!
Piepen ist ein zu feiner Ausdruck. Bei Dir hämmert es oben im Dachstübel...
Glockenturm - Brechreiz, Übelkeit, Schwindelgefühl bei 200 Meter Höhe!
Das Schwalbennest befindet sich über den Wiesengrund, wahrscheinlich westwärts zur Hasen-Hoppel-Heide, oder so eine Kinderei - wie oberpeinlich!
„Okay, ich schreibe also zunächst mal auf „Schwalbennest.“
Diese Szene würde mich noch lange verfolgen, diese Worte noch lange in meinem Gehirn nachklingen, wie ein Ohrwurm, der einem unsäglich quält.
„Ich ruf Dich kurz vorher noch einmal an, wenn ich komme...“
Damit legte er auf.
Womit alles klar war: Erwin würde ich mein Lebtag nicht mehr sehen!
„Ich rufe vorher noch einmal an, um Dir Bescheid zu sagen“ – denn so etwas gab es bei Nazis nicht. Ein Mann, ein Wort! Solche Umwege führten doch zu nichts und nirgendwohin.
Dass mir das nicht vorher schon aufgefallen war?
Nee, das hätte anders klingen sollen, damit es auch ein Nazi versteht und sich etwas vorstellen kann. Vielleicht unter der Wolfschanze des 2. Stockes liegt die Lammheide des 1. Stockes. Mann, wir hatten doch meinen „Kampf“ von unserem Führer gründlich gelesen, wir wussten doch, wo es lang geht: fressen oder gefressen werden, und der Mensch ist auch nur ein Wolf und in Wolfschanzen gehen die Wölfe ein und aus und die springen dann halt Mal einen Stock tiefer, um sich schnell ein Lamm oder Schaf zu reißen. Meine Herren, bei diesen Begriffen lief doch uns Nazis und Deutsche das Wasser im Mund zusammen.
Wie sagte Willi dazu: Homo homini lupus!
So aber war das zutiefst beschämend und oberpeinlich (Neffe)!
Willi hat noch gesagt: „Na, unser Ober-Dichter und Dichter-Fürst Nummer eins, hat schon gesprochen: entweder Amboss oder Hammer – entscheide Dich, was Du sein willst. Oder Dichter Nr. 2: Der Krieg ist der Vater aller Dinge – wobei er dies ja von Heraklit, einem Griechen, abgekupfert hat. Trotzdem!“
Ich verstand nur Griechisch, aber eins: wer Deutsch sein will ist ein Wolf ein Nazi ein Krieger ein Hammer eine Wucht, die zuschlägt und nicht erträgt!
Ich begann fast ein bisschen an mir zweifeln...

Willi: „Aha, Du willst die Macht der Weiber brechen?“
Als ob die Weiber schon etwas grundsätzlich zu sagen hätten! Tz!
„Weiber, Frauen, mir egal. Aber bitte nicht solche Bezeichnungen, die im Kindergarten oder in der Grundschule gang und gäbe sind. Wir sind doch längst Erwachsene.“
„Du meinst, dass wir Erwachsene sind, weil wir dem entwachsen sind.“
„Wie bitte?“
„Erwachsen: sollte man meinen. Wenngleich eine Dezeleration stattfindet.“
„Was soll das heißen?“
„Naja, eine Regression, ein Rückschritt, ein Back to the roots.“
„Was „bäck to the ruuts”? Red gefälligst Deutsch!“
“Ja, zurück zu den Wurzeln!“
„Aha, klingt zwar nicht schlecht und geradezu naziartig: zu unseren Wurzeln zurückkommen, aber hier, nein, dann lieber nicht. Ernsthafte, ehrliche, klare, reife Bezeichnungen sollen es sein! Dafür lohnt sich zu kämpfen.“
„Ich verstehe. Kämpfen ist immer gut, gegen was auch immer.“
„Was?“
„Also, wogegen willst Du kämpfen?“
„Ich will gegen die Degeneration unserer Generation, ach vergiss es. Ich dachte die Bezeichnungen unserer Stockwerke müssten mit Wörter belegt sein, die an unsere glorreiche Vergangenheit anknüpft.“
Willi, wie ein Papagei: „An unsere, äh, mehr oder weniger glorreiche Vergangenheit an...“
„Du hast es erfasst. Jetzt hör zu! Ich dachte an „Wolfsschanze“ für unser Stockwerk. Was meinst dazu, Willi? Ob wir eine neue Namensgebung durchdrücken können.“
„Wolfschranze, hm. Ich weiß nicht...“
„Willi, Wolfsschanze heißt das!“, brüllte ich ihn an. „Damit spaßt man nicht!“
„Ähm, okay, von mir aus auch Schanze. Hm. Ist historisch schwer belastet. Ja, aber wer interessiert sich noch für die Vergangenheit heutzutage? Jeder einigermaßen gebildete Mensch weiß zwar Bescheid, aber ob es solche noch gibt, das kann auch bezweifelt werden, weil was die heute in der Schule lernen, pff, das kannst du den Hasen als Stallfutter hinwerfen. Warum also nicht?!“
„Gut. Dann bleibt nur noch das Hindernis: unsere Mitbewohner. Wie schätzt du die ein?“
Daumen-nach-unten-Geste.
„So seh ich das auch. Das ist unser Problem.“
„Also, wie willst du das dann durchsetzen? Wie ich die Obernonne kenne, sperrt sich diese. Zum einen deswegen, zum anderen klingt das nicht besonders christlich.“
„Ja, ich weiß!“
„Also!“
„Also, wie das schon einmal war: den Feind mit seinen eigenen Mitteln schlagen –Scheißdemokraten mit demokratischen Mitteln niederringen! Basta!“
Ich verschränkte die Arme wütend, zog die Brauen zusammen und legte die Füße übereinander.
„Klingt nicht übel!“
„Natürlich können wir nicht wieder wie früher einfach in das Parlament einbrechen und die Demokraten aus dem Saal prügeln!“
„Die Zeiten sind vorbei!“, seufzte Willi.
„Ja, leider, aber ich weiß mir anders zu helfen. Ich erzähl dir meinen Plan.“ Mit dem Auslauf des Satzes hatte ich die Stimme gesenkt. Meine Stimme, die so fest und klar war, begann zu flüstern.
Willi beugte sich neugierig vor zu mir.
„So willst Du also kämpfen!“
„Ja! Findest du das nicht gut. Aber ich dachte mir, wir haben doch ein Parlament, äh, eine Mitbewohnervertretung.“
„Wo du und ich nicht hineingewählt worden sind.“
„Was wunder, wir haben uns auch nicht aufstellen lassen, daran liegt’s.“
„Tja, sieht so aus, als ob dies ein Fehler war.“
„Können wir im Nachhinein noch ändern, nicht wahr!“
„Das ist die Frage!“
„Na, ganz einfach. Wann ist die nächste Mitbewohner-Versammlung angesagt?“
„He, Junge, du bist genial. Genau, da wird auch jedes Mal das Vertretungskomitee neu gewählt, weil so ein großer Abgang, äh große Fluktuation herrscht. Nach jeweils ein neuer Versammlung muss jedes Mal mindestens eine Delegierte neu besetzt werden. Ist schon rasant. Sterben weg wie die Eintagsfliegen! Diese alten Leute.“
„Genau, und da lassen wir uns jetzt hineinwählen und dann schlagen wir zu!“
„Hm, verlockend. Könnte klappen. Aber ob die Weiber uns Männer wählen, ist zweifelhaft.“
„Wir müssen einfach einen Wahlkampf führen. Aber ich glaube, wir kommen auch ohne aus. Keiner schlägt sich um so einen Posten. Die wollen doch nur ihre Ruhe haben.“
„Ja, stimmt. Mir kommt’s immer so vor, als müssten die dazu geschlagen werden, einen Wohnheim-Mitarbeiter-Posten zu begleiten –tz!“
Ich raunzte anerkennend dazu.
„Genau, man hat stets den Eindruck, die Schwestern brauchen dringender solch ein Gremium als die Einwohner selbst. Um sagen zu können, schauen’S her: bei uns herrscht die reinste Demokratie, denn die Heiminsassen können ihr Recht in einer demokratischen Institution vertreten.“
Und ich ergänzte ihn lachend: „Gell, da staunen’S. Sind wir nicht geistig voll drauf und fortschrittlich und auf der Höhe der Zeit und solch Kokolores.“
„Das wäre außerdem der erste in der Geschichte dieses Heimes, solch ein Wahlkampf.“
„Wie gesagt, den werden wir uns sowieso sparen können.“ Lach.
„Und wenn schon, dann soll’s sein: Der Zweck heiligt die Mittel.“
„Eben! Oder wie es schon bei Shakespeare zu sehen ist im Sommernachtstraum: du musst Dich zum Esel machen, damit du die Ziege bockst.“
Weißt der Kuckuck, wie er das wieder meinte. Mir wurscht!

„Vorausgab Dich nicht, Mausi!“ Der Göttergatte!
Ein Ehepaar, im Gänsemarsch hintereinander, kam zurück von der Kirche. Es stand mitten in diesem Zwischenraum und kam weder vor noch zurück. Die Frau hatte sich mit ihrem Rollator in die vielen anderen illegal herumstehenden sperrigen Hilfsstützen auf Rädern verheddert.
Übrigens: ja, das gab es noch, noch lebende Männer über 80 Jahren! Demgemäss sieht man so etwas kaum noch, ein Ehepaar im hohen Alter, die letzten Vertreter ihrer Gattung und Art sozusagen, ein wahrhaft fossiles Weltkulturerbe.
„Ja, Schatzi. Ich pass schon auf. So bald kriegst du mich nicht los!“
„Aber Schatzputzi, ich muss doch sehr bitten!“
„Du hast ja recht. Verzeihst Du mir noch einmal?“
„Ja, aber... Das hätt’ich dir aber geraten.“
Zwischen triefendem Schmalz und stahlharten Anfeindungen, das Produkt jahrzehntelanger Liebe und Streit, ein tödliches Gemisch, das einem allein schon das Zuhören zur Folter, jeden Satz zum Peitschenhieb und ätzendem Gift machte.
„Aber mach endlich mal etwas, und schwätz nicht bloß herum. Du siehst doch, dass ich nicht mehr vor- und zurückkann.“ Dabei schob oder schlug die erlauchte Gemahlin eher rabiat ihr Gefährt in den Wust der anderen fahrbaren Untersätze, dass es nur so schepperte und krächzte.
Inzwischen hatte aber die Nonne, die das schon länger verfolgt hatte, das Telefon an der Wand betätigt, den Meister selbst angerufen und dieser kaum auch schon gerannt und radebrechte schimpfend in seinem russisch-deutschen Dialekt, dass mir das Messer in der Hose aufging. Ich verzichte zugunsten der Pflege der deutschen Sprache, ihn hier zu zitieren. Aber, das muss man ihm lassen, er räumte auf.
Man muss wissen, das der Eingangs- und Ausgangsbereich des Heimes sich aus zwei auf- und zugehende automatischen Glasschiebetüren konstituierte, dazwischen ein zwei bis drei Meter ausgesparter Zwischenraum. Nur zu oft war dieser unzugänglich und versperrt, ließen doch, wie heute auch, dort viele der Heiminsassinnen ihre Rollatoren zurück und einfach stehen, obwohl es verboten war. Aber frau hatte Angst, sie außen stehen zu lassen, befürchteten, dass sie geklaut werden würden –völlig unbegründet, denn die russische und türkische Mafia hatte bis dato noch ein einträgliches Geschäft mit dem Diebstahl von Fahrrädern.
Neumodische Rollatoren waren noch nicht so populär in deren Heimatländern.
Warum?
Die alten Russen und Russinnen waren zu stolz, wenn sie an der Promenade in Petersburg entlangflanierten, sich dabei abzustützen mit so einem Hilfsgerät. So ein Rollator ist nichts anderes wie ein Prothese. Und welcher Mensch, der noch einen Funken Ehre in seiner Brust verspürt, trägt solch eine Prothese schamlos in aller Öffentlichkeit herum? Da machst dich doch zum Narren und öffentlichen Kaspar! Stolz, ja das hatte unser Ober-Erzfeind noch, kein Wunder, hat ja auch 2 Kriege hintereinander gewonnen.
Und was die türkische Mafia anbelangt...
Man sah also, dass die Heimbewohner allmählich durch diesen Eingang zu ihren Zimmern strebten. Die Schwestern waren wie der Teufel hinter der armen Seele her, dass die Senioren regelmäßig und zumindest sonntags in den Gottesdienst gingen.
Es ist Sonntag morgen. Es ist 11 Uhr 30, ein Zeitpunkt, den die sogenannten Volksvertretungs-Versammlung bewusst gewählt hat. Es ist unmittelbar nach der Kirche, die sich um die Ecke befindet.
Die Heiminsassen werden hier und jetzt bewusst von der Heimleiterin abgepasst. Sie stand hinter dem Eingang, den beiden Schiebetüren, ihre Hände in die Taille gestemmt, ein strahlendes Sonntagslächeln aufgesetzt, nicht nur jeden mit einen „Grüß Gott" zu bedenken, sondern, eigentlicher Zweck der Übung, vereinzelt Damen auf die anberaumte Versammlung hinzuweisen. Zu befürchten war wohl, sie würden es vergessen.
„Herrje, das hätte ich heute wieder ganz vergessen“, antwortete tatsächlich eine Frau im hohen Diskant-Ton. „Nur gut, dass sie mich daran erinnern, ehrwürdige Schwester! - Ich muss aber schnell noch mein Täschchen aufs Zimmer bringen.“
Solche Matronen ließ die Oberschwester erst gar nicht mehr aus.
„Nein, kommen Sie lieber gleich in den Saal!“
Klar, sofort den Hecht ergreifen! Von wegen schnell umziehen und so. Nein, was frau hat, hat sie!
Die Nonne ergriff mit den Händen den Arm derjenigen, welche, damit sie nicht ausrisse und abspenstig werden würde und geleitete sie in den Raum.
Wie Flöhe einsammeln!
Wie ich schon sagte, der Zeitpunkt Sonntagspätvormittag nach dem Kirchgang war Kalkül.

Willi und ich saßen längst schon auf heiße Kohlen. Wir waren die ersten gewesen, die sich im Pavillon neben dem Essraum einfanden, überdacht von einer Glasdecke und sehr hell beleuchtet. Gab es wichtige Dinge zu besprechen, saß das Personal hier, oder wenn der Obermufti, ihre Eminenz oder der Herr Kaplan aus der Diezöse sich die Ehre erwies.
Ideal um Geschichte zu schreiben, Heimgeschichte!
Jawohl, Nägel mit Köpfen würden gemacht!
Aber wie lange das dauerte. Eine nach der anderen trudelte gemächlich in den Saal ein. Wir beide waren ja die einzigen Männer hier im Heim. Das Ehepaar vorhin, bei dem ab und an der Mann zu Besuch kam, weil er der rüstigere von beiden war - das achte Weltwunder!
Es klimperte, klingelte und kreischte plötzlich.
Ich fuhr herum.
Schau, schau, meine Intimfeindin - Frau-Schau-Weit-Ins-Land!
Behangen mit Klunkern war sie wieder, die schwerer als eine Tonne wogen; umhangen mit Glas-Smaragden, Plastik-Perlen, Kettchen, Ringen... Wie eine Zigeunerin... Auffallen und auffällig! Krankhaft süchtig im Mittelpunkt stehen wollen, diese, diese...
Plötzlich hat mich Willi in die Seite gestoßen und dann die Worte geflüstert.
„Ruhig bleiben. Nicht provozieren lassen. Das ist bloß Taktik und Strategie. Die ist auch ’ne Vertretung. Fürchtet bloß um ihr Pöstchen.“
Ich räusperte mich, stieß aus und befahl mir fast laut: „Jawohl, nicht herauslocken lassen! Der Feind wartet nur darauf, mich abzuknallen!“
Damit lehnte ich mich in meinen Plastik-Lehnstuhl zurück, streckte die Beine aus und verschränkte die Hände vor der Brust. Heute, an diesem Ort und in dieser Stunde, würde Geschichte geschrieben werden und sich wieder einmal das Schicksal der Nation entscheiden!
Waren das noch Zeiten gewesen, als wir unsere Feinde und Widersacher aus den Stadtparlamenten prügeln konnten! Ich seufzte wehmütig, blieb aber eisern.
Willi war natürlich das ganze demokratische Prozedere vertraut, hier musste ich mich unterordnen, ihm, der sich auch ohne Ellenbogen durchzusetzen wusste. Hoffentlich brachte er es noch auf die Reihe, gerade heute und jetzt, wo es so Wichtiges, Elementares und Entscheidendes auf dem Spiel stand!
Manometer- wie langweilig das alles ist. Zum Kotzen, Haaregrauwerden und Kinderkriegen!
Man weiß ja, wofür!
Die Versammlung wurde endlich eröffnet – nach einer geschlagenen dreiviertel Stunde Wartens! Opfer über Opfer musste man erbringen. Was man nicht alles tat für Volk, Vaterland und Nation?“
„Was brabbelst du gerade jetzt von wegen Halluzination, tickt es noch richtig bei Dir?“
Empört wies ich Willi zurecht: „Nation, nicht Halluzination!“
„Das kommt heutzutage aufs Gleiche raus, bei dieser Bekloppalisierung.“
Ich geriet ins Nachdenken: „Globalisierung müsste das doch heißen... Oder?“
„Sei still!“, mahnte mich Willi.
Endlich kam Frau Oberin zur Sache: „Wer möchte sich heute wählen lassen und unsere gestern verstorbene, unersetzliche Frau Weigert ersetzen?“
Ein Platz auf der Wahlliste war mir sicher. Ich war der einzige Bewerber. In der Regel verstarb ja alle Monat ein Mitglied.
Ich hob die Hand.
„Hab ich mir doch schon so etwas gedacht!“, murmelte Frau-Schau-Weit-Ins-Land. Der Pavillion hatte einen derartig erstaunlich guten Widerhall, dass es gut verständlich und laut herüberkam und widererscholl. „Da steckt doch etwas dahinter, wenn ein Nazi zu einer demokratischen Versammlung erscheint.“
Die anderen raunten deutlich vernehmlich.
Aber auch Kichern. Das ist doch die Höhe!
Ich stand auf und brüllte: „Was gibt es da zu lachen?“
„Gerade der! Der Obernazi, jetzt will er auch noch auf Demokratie machen!“
Ich fuchtelte mit den Händen zu der Alten hin. „Ich habe 1945 mein Parteibuch abgegeben!“
„Wohin? In die lodernden Flammen der brennenden Städte, oder im Nürnberger Gerichtssaal Nr...“
Lachen übertönte alles.
Ich ballte die Faust und drohte ihr.
Aber Willi zupfte mich am Ärmel und zog mich zum Sitz herunter.
Er hatte Recht. Der Feind musste getäuscht werden!
„Da steckt doch bestimmt etwas dahinter!“
Nicht die Dümmste, die Alte. Aber die kriegen wir auch noch!
Psst!
Es fiel mir schwer, die Nerven zu behalten.
Mein Blick fiel auf eine Schüssel auf dem Tisch.
Walnüsse!
Man sagt ihnen nach, sie seien gut für das Gehirn.
Ich nahm mir eine.
Das hätte ich nicht tun sollen. Das war eine Falle!
Sowie ich nämlich die Nuss geknackt hatte, schaute ich mich vergeblich auf dem Tisch nach einer Ablage-Schüssel um.
`Komisch, man legt Essbares aus und sorgt sich nicht um den Abfallbehälter? Was steckt da hinter diesem Trick?`
Es lag auf der Hand, die Schalen einfach wieder zurückzulegen, von wo her ich sie entnommen hatte.
„Aua!“ Das tat weh. Eine neben mir sitzende Frau hatte mir auf die Finger geschlagen.
„Tut man so etwas?“, zischte sie mich an, als ich sie anblickte.
Sofort duckte ich mich, die Achseln gingen hoch, standen senkrecht aufrecht, automatisch, dazwischen mein Kopf eingerahmt, mein Blick senkte sich, fiel auf die Tischplatte und blieb dort haften.
Zwar war ich empört, mich wie ein Kleinkind zu behandeln! Mich erziehen zu wollen! Aber kommen sie einmal gegen die Mütter an?
Frauen sind die geborenen Erzieherinnen, Mütter bis ins Grab!
Was hatte doch mein Neffe letzthin gesagt: „Onkel, Spießrutenlauf ist das, wenn ich ins Heim kommen muss. An Hunderten von Frauen muss ich vorbeilaufen, jede grüßt mich mit „Grüß Gott“. Antworte ich mit „Schönen, guten Tag“, rümpfen sie die Nase, als würde ich 1 Meile gegen den Wind stinken.“
Ich verstand ihn jetzt nur zu gut, den Neffen. Die können’s niemals nicht lassen, diese Frauen und werden sie über 100 Jahre alt und sind auch die Kinder schon aus dem Haus.
Beschämt stand ich auf, was blieb mir übrig, ging aus dem Raum und verschwand im Männerklo. Dort spülte ich die Schalen hinunter.
„Bleib, wo du bist und rühr dich nicht. Du verpasst noch deinen Einsatz!“
Nun keifte mich auch noch Willi an, als ich zurückkam,
Und so einer will Philosoph sein?!

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