Mücke wird zu Elefant III - mein persönlicher Brexit

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Pentzw
Kalliope
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Mücke wird zu Elefant III - mein persönlicher Brexit

Beitragvon Pentzw » 18.08.2016, 14:40

a) das Abendmahl

Zunächst umarmte mich Maria nicht, als ich vom Flughafen kommend bei ihr mein Gebäck auf den Boden gestellt und meine Kleidung auf die Garderobe abgelegt hatte: „Schön, dass Du da bist!“ Diese Geste und Worte hatten mich beim ersten Besuch überrascht, nachdem sie sonst so kühl erschienen ist. Nun überraschten mich diese, als sie unterblieben.
Ratlos schaute ich mich im Zimmer um. Alles beim alten?
Das Bild ihres zweiten Sohnes und deren Mutter ihres Enkels strahlte von der gleichen Stelle an der Wand in den Raum hinein.
Die Stille musste gefüllt werden.
„Was ist eigentlich aus dessen Vater geworden, weißt Du das?“
„Du meinst, den Vater meines zweiten Sohnes?“
„Ja!“`
„Nein, nicht genau. Aber ich glaube, er ist Priester geworden.“
Wieder so ein Heiliger! Damit begann es schon, mich etwas kleiner, unscheinbarer und unwichtiger zu fühlen.
Inmitten einer der großen Wände, über dem modernen Großbild-Fernseher-Altar, hing das bekannte Bild von Leonardo da Vinci, das Abendmahl. Anstelle der Apostel waren die Gesichter ihrer Verwandten eingefügt: welche also dem Märtyrer- und Heldenstatus ihrer biblischen Vorbilder in nichts nachstanden.
Einer, ihr erster Mann, angeblich ein im Dienste seiner Majestät der Königin von England ausgebildeter ugandische Soldat, war verschleppt worden von den Schergen des bösesten und gewalttätigsten Diktators Afrikas, als er in Zivil zum Einkaufen weggewesen war. Ein dicker Flaum auf der Oberlippe verdeckte die Narbe einer Hasenscharte. [Familienmythen oder –lügen. Später erfuhr ich, dass er deshalb daran glauben musste, weil er im Dienste Idi Amins Gelder von verstorbenen Veteranen veruntreut und unterschlagen hatte. Der Diktator sei auf ihn aufmerksam geworden, weil er sich so schnell hatte ein komfortables, großes Anwesen mit entsprechender Villa zulegen können.]
Der zweite Mann, mit mehr hatte sie ohnehin nicht das Bett geteilt, war davongelaufen oder besser, wie sie sich ausdrückte, ließ sie ihn ziehen, trotzdem sie einen Sohn von ihm hatte, ziehen lassen, kurz nach dem der zweite Sohn das Licht der Welt erblickte.
Schöne Heilige, so hatte sie als Frau zwei Söhne in Abständen von sechs Jahren allein großziehen müssen. Beide hatten studiert. Danach verlief das Leben von ihr in geordnete, gesegnete und feste Bahnen.
Bis ich in ihr Leben einbrach. Vorher hatte sie sich damit ab- oder eingefunden, dass sie sich schon in einem „Court“ vorfand, einem Art Wartezimmer für den Großen Arzt, oder Vorzimmer zur Hölle oder Himmel, wahrscheinlich Fegefeuer, dessen Beheizung in Langeweile besteht, um auf das jüngste Gericht zu warten. (Siehe Fußnote zu Court.)
Diese zölibatäre Idylle und beschauliche Kontemplation des späten Lebensabschnittes einer vorbildlichen Tochter, alleinerziehenden Mutter mit zwei Söhnen und Krankenschwester hatte ich mit meinem Auftreten und Eindringen jäh, wenn nicht zerstört, so doch gestört. Nein, ersteres, ich fühlte mich, als hätte ich ihre Immakulation, Unschuld und Naivität geraubt, durchbrochen und sie missbraucht., gleich einem Schänder, der diese Braut Christi dem Schmerzensmann am Kreuz entrissen und wie bei den Raub der Sabinerinnen entführt, verschleppt, versklavt und verkauft hatte.
Dafür musste ich bezahlen. Ich tat dies auch. Ohne Reue. Aus menschlicher Liebe nämlich.
Was ich schmerzlicher als die Geldentrichtung empfand, ich hatte ihr gerne aus einer geldlichen Notsituation im unwirtlichen Uganda aus der Patsche geholfen, war der rapide Schwund ihrer Zuneigung, die ich mit massiven Schuldgefühlen entgeltete, schuldete und auf die Waagschale meines Gewissens legen musste.
„Wer ist eigentlich auf dem Bild Judas Ischariot?“
Ihr pockennarbiges Gesicht verzog sich wieder einmal bis zur Schreckens-Verzerrung. Dunkel die Hautfarbe, ja, aber noch dunkler die Augen, in dem ich den undurchdringlichen Dschungel Afrikas wähnte zu sehen.
„Diese Frau da!“, sie deutete auf eine ältere Frau.
„Wer ist das?“
„Meine Mutter!“
„Aha!“
„Warum?“
„Auf ihr Betreiben hin wurde fast mein ganzes Land in Uganda verkauft.“
Wie das?
Siehe Essay „Ugandische Recht“

Fußnote: Court – dieser englische Ausdruck ist mit zwei Synonymen widerzugeben. Einerseits der „Hof“ eines Bauern-, Schloß-, Burg-, Kloster-, Abteiwesens; andererseits bedeutet es auch Gericht.
Diese Begriffe kann man in einen weltlichen und einen geistlichen trennen.
Zum weltlichen.
Nichts könnte ihre Lebenslage plastischer spiegeln, lebte sie doch bislang in einem abgeschlossenen heimartigen Gebäude, in dem ein Garten-, Rasengelände dahinter sich befindet. Von den Räumen, von dem Gebäudeaufbau her handelt es sich um eine Art höfischer, klösterlicher Hinterhof.
Das spielt nun der geistige Aspekt hinein.
Diesen Court-Variante assoziiert auch im Negativen mit „discourteously“ , was heißt „unhöflich“. Demnach umfasst Court alles, was mit Höflichkeit gefasst wird. Ich bin in ihren Court eingedrungen, habe ihre Gefasstheit und in ihre religiöse Kontemplation gestört.
Ich fühle mich wie ein Frevler.

Ich spiele auf der Gitarre Greensleeves und singe folgenden Text dazu:


Liedtext: Greensleeves


1. Alas, my love, you treat me wrong, to cast me of discourteously, and
I have loved you so long, delighting in your company.
R: Greensleeves was all my joy, Greensleeves was my delight,
Greensleeves was my heart of gold, and who but you has Grennsleeves?

2. If you intend thus to disdain, it does the more enrapture me,
and even so, I still remain, a lover in captivity.

3. I have been ready at your hand to grant whatever you would crave.
I have both waged life and land, your love an good will for to have.

4. Alas, my love, that you should own, a heart of wanton vanity,
so must I meditate alone upon your insincerity.

5. Greensleeves, now farewell, adieu, to God I pray to prosper thee,
for I am still your lover true, come once again and love me.

Der Inhalt dieses in einer wunderbar schönen Sprache formulierten Textes bewahrheitete sich nun, als ob ich es herbeigesungen habe...


b) Kreuzigung oder Brexit auf ugandisch


Zwischenzeitlich rief sie über das Jahr hin immer wieder bei mir an: „Oh, ich habe mich in der Nummer geirrt!“, sagte sie jedesmal, räumte aber auch einmal ein, dass sie neugierig sei.
„Das ist mir aber zu teuer, weiter mit Dir zu telefonieren.“ Es war ihr offenbar zu kostspielig, mit mir in Kontakt zu treten.
Jedes Mal erwähnte sie zudem den Namen Rosés, ihrer Cousine und einzigen Bekannten hierzulande.
Rosé erlitt einen Schlaganfall. So begegnete ich ihr nach einem Jahr wieder hierzulande in Nürnberg.
Als Krankenschwester, Freundin und nahe Verwandte kümmerte sie sich um vom Schicksal plötzlich schwer geschlagene Menschen. Natürlich und freudig erregt, sie wieder sehen zu können, bot ich meine Hilfe an. Sie wunderte sich, dass ich noch in sie verliebt sei. Es faszinierte und rührte mich, wie diese kleine Frau proper sich um Rosé in der Klinik kümmerte, emsig hin- und herrannte, um ihr dies oder jenes Teilchen wie Tassen und Teller zu besorgen, beispielweise arglos in die Küche ging, die nur fürs Personal geöffnet war.
Zwischenzeitlich saß ich auf dem Balkon und hörte mir jazzige Musik an. Vom zweiten Stock aus konnte ich nach unten auf dem Rasen sehen, wo eine Blaskapelle dazu überging, traditionellere Melodien zu spielen. Just bei einem solchen Ständchen erschien „the friend“ von Maria , tanzend, angetan von der Volksmusik, die sie mit Londoner-Untergrund- und New-Yorker-Harlem- und Kambale Totalchaos-Stil würzte, interpretierte und choreographierte.
Ich nahm sie auf ihrem Video auf. Ich wollte gerne diese Aufnahme haben. Aber der eiserne Engel aus London oder Uganda blieb hart, standhaft und sturköpfig, indem „the friend“ verschämt tat und sich weigerte, mir bislang eine Kopie zuzuschicken und zukommen zu lassen.
Es ist bitterschade: eine schwarze, gertenschlanke, dürre, hochaufgeschossene, dunkelhäutige Frau tanzt zu kruder Blaskapell-Musik à la Bavaria und „Frankonia“.

The „friend“ war sehr eisern, mal sah ich sie als Frau, mal als Mann. Sie schaute strenger als Maria zu blicken beliebte. Als Mary mir geschrieben hatte, dass sie einen Freund mitbrächte, „friend“, im Englischen weder mit der oder die versehen, sondern hier mit überhaupt keinem Artikel, dachte ich an einen Freund und mir wurde mulmig. Aber dieser Engel aus Stahl versetzte mich in noch qualvollere Gefühle, als sie mich dazu missionieren wollte, wieder in den warmen Schoß der gleichen Kirche zurückzukehren, der ich entflohen war, nachdem mich die Vertreter dieser Institution als Kind derartig grün und blau geschlagen haben, dass ich ein Martyrer oder Verrückter oder Dergleichen gewesen wäre, hätte ich nicht dieser Zwangsverbindung Ade gesagt als Homo sapiens, sprich vernünftig denkender Mensch.
Aber den Fundamentalisten genügt es nicht, ein guter Mensch zu sein, man muss ihrer Organisation angehören. Selbst man/frau wäre ein schlechter Mensch, wären sie wahrscheinlich die letzten, die einem dazu drängten, aus ihrer Verbund auszutreten. Zumindest habe ich davon noch nichts gehört. Beim Thema Sex natürlich ist das etwas anderes.
Maria pumpte mich um Geld an. Immerhin hob ihr(e) Freund(in) den Zeigefinger. Maria fuhr zurück, insistierte nicht weiter, von mir Mammon zu erhalten.
Am letzten Abend war ich allerdings eines beidseitigen moralischen Dauerbeschusses ausgesetzt.
„Der Herr freut sich ja mehr über einen reuigen Sünder als über 100 Gläubige.“
Ihre Augen weiteten sich. Erstaunlich, die beiden hatten wenig Wissen von der Bibel. Viele Textstellen waren ihnen fremd. Da ich einmal mütterlicherseits hätte Priester werden sollen, bin ich wohl besonders aufmerksam dem Kommunions-, Bibel- und Religionsunterricht gefolgt.
Die beiden, die jeden Morgen den sogenannten Gottesdienst besuchten, schienen währenddessen dabei noch zu schlafen.
Ich bat noch einmal inständig darum, dass die Freundin oder der Freund mir doch die besagte Filmaufnahme zuschicken möge, drückte ihr/ihm meine Visitenkarte in die Hand, aber ich warte heute noch vergebens.

Dann kamen wieder E-Mail-Botschaften, allerdings keine frohen. Vorwürfe steckten darin.
„Ob ich mich nicht von meinem Sitzplatz erheben könne?“
Was wollte Mary?
Beim zweiten Mal rüden Anstupsen verbat ich mir dies. Sie ruderte zurück. Eigentlich habe sie Betty gemeint, eine andere hierzulande Lebende. Eigenartig, weil die postalische Anrede meinen Namen trug. Sie gab übrigens ihrer Verwunderung Ausdruck, dass ich noch in sie verliebt sei? Hatte sie mir beim letzten Besuch in London ohnehin die rote Karte gezeigt, die sie aber nach Intervention von Rosé wieder zurücknahm, stöhnte sie abends in der Küche liebesverwundet. Allerdings war ich nicht der Gegenstand und der Verursacher.
Rote Karte:
„Du schläfst mit ihm?“, hatte ich sie beim letzten Besuch gefragt.
Sie nickte bestimmt.
Dies war für mich die Aussegnung unserer Beziehung und ich hatte gemurmelt „Amen“, was heißt: So sei es! Rosé intervenierte und sagte nach Nachfrage: „Ein Missverständnis. Es handelt sich bei dem betreffenden Menschen, über den ihr gesprochen habt, doch nur um ihren kleinen Cousin.“ Sie hatte aber von keinem Kind gesprochen, sondern von einem Freund. Klar, ein Kind kann auch ein Freund sein.
„Do You have sexual intercourse with him?“
(Hattest Du mit ihm sexuellen Kontakt?)
“Yes, I did!”
(Ja, ich hatte.)

Dann kam eine Einladung nach London.
„Warum hast Du keine junge Freundin? Das wäre gut für Deine körperliche Gesundheit.“
Aber ich könne kommen. Sie nannte die Zeiten. Ich buchte einen Flug. Kurz darauf teilte sie mir mit, dass ich doch nicht kommen könne, eine „funneral“ sei dazwischengekommen.
Angesichts dessen, dass sie mir mein schlechtes Englisch vorwarf, war diese Schreibweise peinlich. Ich räume gerne ein, dass die ugandische Engländerin durchaus in dieser Sprache besser sprechen mag, aber schreiben gewiss nicht! Aber auch der derzeitige amerikanische Präsident, sogar mit Harvard-Universitätsabschluss, macht Fehler in derjenigen Sprache, in der er als oberste Repräsentant gewählt worden ist.
Sie bräuchte nicht permanent um mich und für mich da zu sein, solch ein „funeral“ mag doch kein dreitätiges „event“ darstellen, sein und dauern.
Mit diesem Ausdruck vergriff ich mich total.
Eine Beerdigung soll kein gesellschaftliches Spektakulum sein, außerdem war anzunehmen, was sie auch wusste, die Gesellschaft würde sich danach noch in die privaten Gemächer zurückziehen, pappeln, quatschen, tratschen, kichern, quengeln und lamentieren, kurzum eine Beerdigung ist eine sehr menschliche Angelegenheit mit offenem Ende, aber nur für Eingeweihte, Auserwählte und Institutionsmitglieder – so vermute ich einmal.
Der Verstorbene war ein Heim-Bewohner. Im Heim hatte sie kaum Kontakt zu anderen Menschen. Sie beklagte dies. Nun aber hatte man/frau Grund, zusammenzukommen. Wahrscheinlich würde man von einem Appartement zum andren ziehen, auch ihres würde heimgesucht werden, würden sie da auf einem im Unterhemd Dasitzenden stoßen, der mit nicht-britischem, eigentlich nicht-englischen, sprich fremdländischen Akzent spricht: ein gesellschaftliches Desaster!?
Versteh einer oder eine die Engländer/Engländerinnen/Ugander(innen).
Ich denke an Oskar Wilde, der gesellschaftlich geächtet, nach Paris ins Exil musste. Sich gesellschaftlich zu kompromittieren hat vielleicht die schlimmsten Konsequenzen für Engländer, Iren und Afrikaner(innen).

Ihr Absagebrief war deutlich: „Ich werde nicht von meinem Standpunkt abrücken. Ich will Dich hier nicht sehen. Du kannst in ein Hotel ziehen. Sorry, Du wirst Dein Geld verlieren.“
Der letzte Satz war der Dolchstoß.
„Sorry“ klingt hierzulande durch den inflationären Gebrauch ausgelutscht.
Es klingt also nicht sehr viel Mitgefühl daraus hervor.
Kein vielleicht Es-tut-mir-sehr-Leid!

copyright @ werner pentz

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