Wagnerianer auf der Reise von Nürnberg nach Bayreuth

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Pentzw
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Wagnerianer auf der Reise von Nürnberg nach Bayreuth

Beitragvon Pentzw » 31.08.2016, 19:37

31.07. Sonntag, 2016

Nach Bayreuth zu einer Wagner Aufführung mit einem älteren Mecklenburg-Vorpommeren im Zug gefahren. Leider muss ich sagen und wer es mir nicht glauben kann, weil es so klischeehaft klingt, verstehe ich, drängte er sich mit seinem Roll-Koffer so rüde und rücksichtslos in den Zug, dass eine Dame aufschrie und ausstieß: „Muss das sein!?“ Als wir endlich saßen, wohlsituierter Herr in sehr fortgeschrittenem Alter, 75 Jahre würde ich schätzen, wirkte aber noch sehr fit, altdeutsch, begann er plötzlich zu schimpfen wie ein Rohrspatz: auf den linken Intendanten gleichermaßen wie über die männerverschlingende Wagner-Urenkelin, eine sexbesessene Walküre, Kunikunde und Sieglinde oder wie die Hexe da so heißt in der Nibelungensage. Es ist doch die Böse, die Intrigantin, die unseren geliebten, treuen, lieben Siegfried – wenn wir siegen, dann herrscht Frieden – mit dem intriganten Nebenbuhler Haken – auch so ein Nomen-est-Omen-Hinweis - verrät, woraufhin er imstande ist, diesen unbesiegbaren V2-Raketen-Held mit Drachenblut-Bad-Rüstung zu meuchelmördern, zu schänden und zu exekutieren, nicht wahr?
(V2 ist eine „unschlagbare“ Geheimwaffe und Rakete der Nazi-Propaganda gewesen, womit sie die Krieg noch gewinnen, herumreißen und eine Kehrtwende erreichen wollten. Sie kam aber nicht zum Einsatz.)
Aber wirklich, solch eine frauenfeindliche Allegorie und Aussage habe ich selbst als dummer Junge mit 10 Jahren schon nicht mehr geglaubt. Und einmal in der Schule die Figuren, Handlungen, Metaphern und Allegorien aus der Rheinischen Nibelungensage über mich ergehen lassen müssen, habe ich natürlich die diesbezügliche Vorlesungen im Studium gemieden wie der Teufel das Weihwasser.
„Da war doch dieser Jäger, der wegen einer Braut den Wilderer/Wilddieb mithilfe einer Zauberkugel, mit der er um die Ecke schießen konnte, den Bösewicht und Nebenbuhler um die Ecke brachte.“
„Ja, Anton Webern!“ (mit einer alten Genitiv-Endung „n“ statt Anton Weber. Ist ein Opern-Musiker aus dem 19. und 20. Jahrhundert.)
„So ein Scheiß hab ich noch nie gehört gehabt. Das ist mir schon mit 10 am Arsch vorbeigegangen, diese Zauberkugel-Saga!“
Der Herr, der im schwarzen, dunklen Anzug reist, ganz von Fuß bis Kopf auf Götterdämmerung eingestellt, sprich sehr modebewusst war, bleckte seine blendend-weißen, künstlichen Zähne, ein beeindruckender Kontrast! Er lebte in Hamburg, verkehrte oft in Berlin, in der Residenzstadt, wie er sich hochgestochen ausdrückt, sprich er sucht den Kontakt mit den Reichen und Mächtigen und kauft und ersteht einmal im Jahr die 250 Euro teuren Wagner-Festival-Tickets, pardon Festspiel-Karten. Obendrein und dazu passend, drängt er rücksichtslos, rüde und mit den Ellenbogen um sich schlagend, ein Rollköfferchen im Schlepptau, durch den in den Zug drängenden Fahrgäste-Bulk. Na denn!
Morgen seien Aufführungen, 6 Stunden lang, eine Qual, wie er sagt, er wird sich vordem mit heimischen Bier trunken machen, stärken und „dopen“, um diese dumpfe Kessel-, Posaunen- und Passionsmusik über sich ergehen lassen zu können. Es stellte ein säkularisiertes Exerzitium dar.
„Na, und was haben sie gegen den derzeitigen linken Intendanten?“
„Ich habe letztes nach der Aufführung gepfiffen mit meiner Trillerpfeife, kann ich Ihnen sagen, wie noch in meinem Leben nicht!“
„Dann hat es Spaß gemacht!“
„Oh, ja!“ Und lacht. Er ist nicht ohne Humor und Ironie, muss man ihm lassen.
Der linke Intendant war vorne auf der Bühne gestanden und hat dem Publik den Vogel gezeigt. Jeder hat also seinen Spaß gehabt, obendrein synchron zur Wagnermusik einen harten, derben und bajuwarischen. Das Gebäude, in dem diese archaischen Rituale zelebriert werden, ähnelt mit seinen Klinkersteinen einem Fabrikgebäude. Dieses „Ambiente“, und was könnte besser dazu, passt zu diesen kultivierten Prolos.
„Na, ohne Kalaschnikow geht es nicht mehr ab.“ (die von der Bühne auf das auserwählte, noble und wagnerbesessene Publikum gerichtet wird! Wer versteht das nicht?)
(Das Gewehr ist ein russisches.)
„Ach, Sie meinen, dass es eine Heckel, Messerschmidt & Co. besser täte.“
(Ist ein deutsches Gewehr, von der Konkurrenz also, das die derzeitige Außenministerin verpönt.)
„Äh...“
[Warum es überhaupt ein Gewehr sein musste, war die Frage. Oder wenn schon, dann eines aus Pappmasché. Die ganze Staffage könnte aus diesem Material sein, so dass man am Schluss ein infernalisches Sonnenwendfeuer veranstalten könnte.]
Eine Vertreterin des „Zug-Personals“ kommt und kontrolliert die Fahrkarten. (Dazu sagte man vormals Schaffnerin.)
„Wo waren wir stehengeblieben?“
„Linker Intendant!“
„Ja, wie in der ehemaligen DDR. Ich komme von daher.“
Ich nicke verständnisvoll.
„Der kann ja nicht einmal einen richtigen Satz bilden und stottert in einem fort da in unseren Rats-Versammlungen herum. Sie müssen wissen, ich bin in dem Rat zur Wagner-Aufführung.“
Wir müssen aufstehen. Wir sind angekommen.
„Genie und Wahnsinn, sage ich nur!“
Er lacht.
Wir haben uns köstlich unterhalten.

Diese Zeichnung habe ich ein paar Tage später gemacht, als ich erneut nach Bayreuth fuhr. Die Vorgehensweise ist die, daß ich auf ein Blatt Papier senkrecht einen Stift setze, Mitte oben, und dann als Medium meine Hand die Fahrt durch das Fränkische Mittelgebirge nach Bayreuth aufschreiben und –zeichnen lasse, quasi wie ein Seismograph. Ich habe genau in der Mitte des Blattes den Zeichenstift angesetzt, wir befinden uns also noch im Bahnhof Nürnberg. Die oberen Gesichter entstanden unwillkürlich dadurch, daß ich den ein oder anderen Zuggast angeschaut habe, bis der Zug die volle Fahrt aufnahm.

Fahrt nach BayreuthMaster.jpg
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