Dunkle Flügel

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Ramona Heber
Kerberos
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Dunkle Flügel

Beitragvon Ramona Heber » 03.11.2016, 22:43

Wie jeden Morgen war ich dabei mein Frühstück auf den kleinen, mit Wachstuch bezogenen, Tisch zu stellen, als mein Blick sich wie zufällig auf das Fenster richtete.
Auf den Bäumen die gegenüber unseres Hauses standen saßen Vögel, drei oder vier.
Das war nichts Besonderes, dort saßen immer welche, aber meist Amseln und Krähen. Heute schien das anders zu sein, einer von denen war viel größer und braun. Ich vergaß mein Frühstück und holte rasch das Fernglas. Nachdem ich es endlich geschafft hatte meine Hand still zu halten, so dass ich auch etwas erkennen konnte, musterte ich das braune Tier auf dem Ast genauer. Ich kenne mich nicht sonderlich gut in der Ornithologie aus, aber solch einen Vogel hatte ich noch niemals in einem Buch oder Film gesehen.
Sein Gefieder war dunkelbraun, fast schwarz und der Schnabel ebenso. Während ich in meinem Kopf nachkramte und versuchte mich an den Biounterricht zu erinnern, bewegte der gefiederte Unbekannte den Kopf und sah zu mir rüber. Jedenfalls kam es mir so vor und ich wünschte mir eine Gardine zu haben, die ich zuziehen konnte.
Obwohl der Vogel ein gutes Stück von mir entfernt saß, war es mir so vorgekommen, als hätte er mich direkt angestarrt. Mein Herz schlug noch immer laut und das obwohl ich mich eigentlich nicht schnell erschrecken lasse.
Ich nahm also meinen Teller und ging hinüber ins Wohnzimmer. Um mich abzulenken schaltete ich den CD – Player ein und verdrängte die Sache. Man konnte sich viel einbilden, wenn man zu viele
mystische Filme ansah. Vermutlich waren die deswegen nicht so gut, weil Menschen leicht zu manipulieren sind. Nachdem die CD durchgelaufen war zog ich den Stecker, nahm meinen Teller und erstarrte. Direkt vor dem Zimmerfenster, auf dem Sims, saß der Vogel und sah mich an.
Keine Ahnung wie lange der da schon saß und mir zusah. Diese Augen waren wie Eiskristalle, so schneidend kalt und durchdringend. Bemüht ruhig zu atmen und mich langsam zu bewegen, um ihm nicht zu zeigen dass er mir unheimlich vorkam, schloss ich die Augen. Als ich sie wieder öffnete
schlug der Vogel mit einem seiner Flügel gegen die Scheibe, die dabei fast zu Bruch ging und schwang sich in die Luft.
Jetzt hasste ich es keine Gardinen an den Fenstern zu haben, dass musste ich sofort ändern.
Bis jetzt hatte mich das nicht gestört, denn hier oben hatte ich keinen gegenüber wohnen.
Auf die Idee, dass jemand hinein sehen könnte, war ich nie gekommen. Und wenn ich Papier an die Scheibe kleben würde, war mir echt egal. Irgendetwas musste ich unternehmen, sonst würde ich in der Nacht kein Auge zu bekommen.
Die ganze Geschichte war so abgefahren, dass man sie keinem erzählen konnte, ohne für durchgeknallt gehalten zu werden. Obwohl das ja die Meinung der Leute über mich kaum verschlimmern konnte. Für die meisten war ich sowieso ein sonderbarer Mensch, der nicht der gängigen Norm entsprach.
Also ging ich ins Bad, um zu duschen und musste mit Schrecken feststellen, dass ich mich auch dort beobachtet fühlte, obwohl der Vogel weg war. Weil mir die Lust vergangen war drehte ich das Wasser ab und war schon nach fünf Minuten mit dem Duschen durch. Abtrocknen und Anziehen,
zehn Minuten später war das erledigt. Dann noch Zähne putzen und raus hier. Ich musste unter Leute und mich ablenken, vermutlich doch lieber nicht mehr am Abend Vampirfilme ansehen.
Mir fiel der Spruch ein, den ich vor ein paar Tagen gelesen hatte. Alles ist euch erlaubt, aber nicht alles tut euch gut.
Ich hatte es nicht weit bis zum Center und schlenderte durch die kleinen Geschäfte. Ab und zu blieb ich stehen, sah Sachen an und blätterte in Zeitschriften oder Büchern, konnte mich aber für nichts entscheiden. Als ich mich nach unten beugte, um eine heruntergefallene Karte aufzuheben, ging ich einen Schritt zurück und stieß mit jemanden zusammen. „Entschuldigung“ murmelte ich und drehte mich um. „Hab sie nicht ….gesehen.“ „Macht doch nichts.“ sagte der junge Mann und sah mir in die Augen. Solche Augen hatte ich noch nie gesehen, sie funkelten wie Eiskristalle.
„Darf ich sie auf einen Kaffee einladen?“ fragte er und verbeugte sich leicht in meine Richtung.
Obwohl ich mich irgendwie unwohl fühlte, konnte ich sein Angebot nicht ablehnen. Es war, als hätte die Fähigkeit mir eine Entscheidung aufzuzwingen. Ich nickte und steckte die Karte zurück an ihren Platz. Der Mann legte mir seine Hand auf den Rücken und dirigierte mich in Richtung des Kaffees. Ohne Frage, er wusste genau, wie man sich benehmen musste. Das war ja heute nicht mehr üblich bei so jungen Menschen. Er war jung, vermutlich gerade Anfang Zwanzig. Was bewegte so jemand dazu mit mir, einer Frau von Fünfzig Jahren hier an diesem Tisch zu sitzen, sich überhaupt mit mir zu unterhalten?
„Sie sind mir aufgefallen weil sie zwischen all den Menschen voller Hektik so anders waren. So als
würden sie ihre Zeit nicht dieser nichtigen Jagd nach dem Schönsten und Besten von allem opfern.“
Wie sollte ich seine Worte deuten? Konnte er auch noch in meinen Gedanken lesen, oder was?
Ich war so verunsichert, aber das musste ich ihm ja nicht unbedingt zeigen. „Hab heute frei und wollte mal ein wenig bummeln.“ Kaum das ich diese Worte ausgesprochen hatte, kamen sie mir auch schon total dämlich vor. Und das waren sie auch, von wegen frei haben. Ich war arbeitslos und auf der Flucht vor einem großen, braunen Vogel, dass war die Wahrheit.
Vorsichtig nippte ich an meinem Kakao, den die Kellnerin inzwischen gebracht hatte und musterte
aus dem Augenwinkel meinen Gastgeber.
Er hatte die Augen ein wenig zusammengekniffen und trank ebenfalls einen Schluck aus seiner Tasse. Sein Gesicht wirkte schmal und relativ blass. Seine ganze Figur machte einen eher zierlichen Eindruck und er hatte dunkelbraunes Haar, dass bis über die Schulterblätter fiel.
Ich war so vertieft gewesen, dass ich nicht bemerkt hatte, dass er mich ebenfalls ansah. Natürlich hatte er gemerkt wie ich ihn gemustert hatte, wie peinlich. Verlegen senkte ich meinen Blick auf die Tischplatte vor mir und blätterte in der Karte. „Möchten sie noch etwas daraus?“ fragte er aufmerksam. „Nein, danke und ich muss dann auch langsam wieder los. Hab noch was zu erledigen
und danke für die Einladung.“ Während er das Geld, für die Getränke, auf die Rechnung legte, sagte er, ohne aufzusehen. „Sehe ich sie wieder?“
„Schon möglich.“ sagte ich unsicher. „Aber jetzt muss ich los. Auf Wiedersehen.“ Er lächelte mir zu und sagte: „Auf Wiedersehen, Carol.“
Ich hatte es jetzt eilig zu gehen, blieb aber nach wenigen Schritten wie angewurzelt stehen. Woher kannte er meinen Namen? Ich hatte ihn nicht erwähnt. Woher kannte er meinen Namen? Ich drehte mich um und ging die drei, vier Schritte zurück, doch er war weg. Weit und breit war nicht die geringste Spur von ihm zu sehen. Der breite Gang zwischen den Geschäften war nicht so voller Menschen, dass er sich darin hätte verbergen können. So schnell konnte keiner verschwinden.
Aber das wir an diesem Tisch gesessen und gesprochen hatten, dass war wirklich passiert, denn die Kellnerin räumte gerade die beiden Tassen auf ihr Tablett und steckte das Geld ein.
Ich kam mir so dumm vor, was war nur los mit mir? Seit heute Morgen sah ich überall nur Sachen, die mich an meinem Verstand zweifeln ließen.
Reiß dich zusammen. Dachte ich und wollte mich umdrehen, um nach Hause zu gehen.
Ich beugte mich runter und hob mit zitternden Fingern eine braune Feder vom Boden auf, die direkt unter dem Stuhl lag auf dem der Mann gesessen hatte. Keine Ahnung was ich mir dabei dachte, ob ich überhaupt noch denken konnte. Ich steckte die Feder ein und ging in die Haushaltsabteilung um mir Folie zu kaufen, mit der ich mich zukünftig vor fremden Blicken schützen konnte.

Obwohl ich dann tatsächlich alle Fenster so für fremde Blicke verschlossen hatte, saß ich den Rest des Abends hinter meinen Bücherregalen versteckt und las bis ich endlich müde genug war, um sofort einzuschlafen. Eigentlich lag ich gern im Bett und dachte nach. Über Gott und die Welt, wie man so sagte. Aber heute wollte ich nicht nachdenken, denn diesen Tag konnte ich mir mit nichts wirklich erklären. Was geht hier vor? Dachte ich und schloss meine Augen.
Als ich erwachte fühlte ich mich keinesfalls ausgeruht. Meine Arme taten so weh, als hätte ich die ganze Nacht hindurch schwere Baumstämme oder ähnliches geschleppt. Ich versuchte mich an meinen Traum zu erinnern, so wie sonst auch. Doch der aus der vergangenen Nacht war einfach nicht greifbar, seltsam. Aber ich hatte keine Lust mir wieder einen Tag zu versauen, bloß weil ich mich mit durchgeknallten Sachen befasste. Heute musste ich Wäsche waschen und Fenster putzen.
Manchmal muss man sich bestimmte Dinge selber vorschreiben, um eine gewisse Struktur in den Tag zu bringen. Es ist nicht gut einfach so in den Tag zu leben und nichts Sinnvolles zu tun.
Nach dem Frühstück sortierte ich die Wäsche und belud die erste Trommel. Während ich das tat ertappte ich mich dabei zum Fenster zu sehen und an den seltsamen Vogel zu denken. Was war an diesem blöden Vieh so besonders, dass es mich in seinen Bann ziehen konnte?
Ich knallte die Maschine zu und drückte das Programm. „Du machst mir keine Angst.“ sagte ich halblaut und öffnete das Badfenster. Auch ohne mein Fernglas konnte ich ihn oben im Baum sitzen sehen und das ein gutes Stück näher als am Tag zuvor. Zuerst wollte ich einfach das Fenster wieder schließen, hob dann aber doch das Glas an die Augen und beobachtete was er tat. Fast eine halbe Stunde saß er unbeweglich auf dem Ast und starrte in meine Richtung.
Plötzlich hörte ich etwas wie einen Knall und sah, dass der große Vogel wie ein Stein durch die Äste nach unten stürzte. Mein Herz begann zu hämmern, als ich mir bewusst machte, dass jemand auf ihn geschossen haben musste. Es gab eine Menge Tierhasser auf dieser Welt.
So war ich nicht und ich konnte jetzt nur schwerlich so tun, als hätte ich nichts gesehen. Es war ja fast so, als hätte dieser Vogel mich ausgesucht, um ihm zu helfen.
Ich hetzte die Stufen runter und durch den Garten des Nachbarn, mein Herz klopfte laut und das nicht nur weil ich so gerannt war. Was würde mich erwarten? Lag er dort zerfetzt und als blutiger,
lebloser Körper, oder würde ich ihm beim Sterben zusehen müssen? Warum dachte ich immerzu
dieses ….ihm....? War ich tatsächlich so bescheuert und brachte den Mann von Gestern mit diesem Vogel in Verbindung, bloß weil diese dumme Feder unter dem Stuhl gelegen hatte. Da war plötzlich dieses Geräusch, dass fast wie ein Stöhnen klang und ich zögerte für einen Augenblick.
Über die Stufen des Nachbarhauses hörte ich jemand keuchend nach oben hasten und hatte den Eindruck, dass es nötig war schneller zu sein als derjenige der dort kam.
Darum raffte ich mein letztes bisschen Mut zusammen und schlug mich durch das Gestrüpp.
Am Fuß des großen Baumes lag der Vogel und versuchte mit matten Bewegungen auf die Beine zu kommen. Meine Güte, war der vielleicht riesig. Wie sollte ich den dort wegbringen?
Der Kopf des Tieres fiel immer wieder kraftlos zur Seite und er gab Schmerzlaute von sich, wie ich das von noch keinem Lebewesen gehört hatte. Ich beugte mich zu ihm runter und da sah er mich an.
Diese Augen, die mir zuerst wie schneidend, kalte Eiskristalle erschienen waren, fielen immer wieder zu und zuckten unter den Lidern. Ich dachte nur das sind nicht die Augen eines Tieres, nie
im Leben. Kurz entschlossen und auch auf die Gefahr hin, dass er nach mir haken würde, hob ich den blutenden Körper auf und drehte mich um. Und dann stand dieser alte Mann vor mir, ich hatte ihn schon ein paar Mal gesehen. Er sah ziemlich wütend aus und das Gewehr in seinen Händen hab ich gar nicht gleich wahrgenommen. „Du hast ja keine Ahnung was das für eine Kreatur ist, die du da in den Armen hältst. Leg ihn hin und hau ab, solange du das noch kannst. Wenn er dich erst in seinen Bann gezogen hat denkst du nicht mehr selbst.“ Der Vogel zuckte an meiner Brust und riss die Augen auf. Was ich in diesen Augen sehen konnte war Angst, nichts als nackte Panik.
Ich konnte dem Mann keines seiner Worte glauben und entschied mich dem Tier zu glauben.
„Ich glaube ihnen nicht und ich werde nicht zusehen, wie sie ein Lebewesen einfach so umbringen.“
Mit diesen Worten drückte ich das verletzte Tier an mich und stampfte durch das Laub davon.
„Du hast ja keine Ahnung, was du anrichtest.“ brüllte er mir wütend hinterher.
Ich ließ mich davon nicht beeindrucken und stieg die Treppen zu meiner Wohnung hoch, wobei ich das Gefühl hatte, dieser Vogel würde immer schwerer werden.
Und als ich oben vor der Wohnungstür stand erinnerte ich mich schlagartig an meinen Traum aus der vergangenen Nacht. Dort war genau das passiert, was ich jetzt erlebt hatte und ja, ich gebe zu,
dass ich in dem Moment Angst empfunden habe.
Es war nicht wirklich einfach die Tür zu öffnen und währenddessen den zuckenden Vogel auch noch festzuhalten. Als ich endlich im Flur stand lehnte ich mich gegen die Wand und rutschte an ihr nach unten. Der Vogel humpelte ein Stück von mir weg, knickte aber wieder zusammen. Also stand ich wieder auf und ging auf ihn zu. „Komm her, ich setz dich auf eine Decke und dann schauen wir was ich für dich tun kann.“ Dann saß der blutende Vogel mitten in meinem Wohnzimmer auf meiner Sofadecke und ich wünschte mir ein wenig Ahnung über erste Hilfe bei Vögeln. Vermutlich sollte ich zuerst mal nachsehen wo er überhaupt getroffen wurde.
„Carol, Carol.“ Ich hörte meinen Namen, eindringlich und doch fast geflüstert. Erschrocken sah ich mich um, doch da war niemand außer mir.....und dem Vogel. Wenn es denn überhaupt einen Vogel gab. Laut der Aussage des alten Mannes war das was hier auf meiner Decke saß k e i n V o g e l.
Jetzt war ich schon so weit in diese seltsame Geschichte verstrickt, das ich aber auch die Wahrheit wissen wollte. Ich hockte mich vor dem, was auch immer es nun war, auf den Boden und sagte mit wie ich denke, fester Stimme. „Was bist du?“
Eine lange Zeit kam keine Reaktion von meinem Gegenüber. Doch dann stand plötzlich dieser junge Mann in meinem Zimmer. Ich hatte nicht mitbekommen wie rasch diese Wandlung vollzogen
worden war und mein Schrecken stand mir vermutlich ins Gesicht geschrieben. Er streckte seine Hand nach mir aus und zuckte im selben Moment stöhnend zusammen. „Ich......wollte dir keine ….
Angst machen. Tut mir....“ Er krümmte sich zusammen und presste beide Hände auf den Bauch.
Erst da nahm ich war, dass dunkelrotes Blut durch seine Finger sickerte.
Ohne an meine Angst oder was auch immer zu denken schob ich ihn in Richtung des Sofas. „Leg
dich hin.“ sagte ich und ging in den Flur, um den Verbandskasten zu holen. Der war noch übrig von meinem Auto, das mit Motorschaden in der Garage wartete.
Als ich wieder ins Zimmer kam hatte der Mann sich auf die Seite gedreht und die Augen wieder geschlossen. Vielleicht war die Ruhe jetzt wichtiger als alles andere. Ich hockte mich mit dem Rücken gegen das Sofa und versuchte meine Gedanken zu sortieren. Was war das hinter mir? Ein Mensch vermutlich nicht, jedenfalls kein normaler Mensch.
Langsam drehte ich mich herum und ließ meine Augen über seine Züge wandern. Wieso hatte der Alte ihn als Kreatur bezeichnet? Und warum war er davon überzeugt, dass dieses Wesen böse war?
Behutsam strich ich mit einer Fingerspitze das lange Haar aus seiner Stirn und fuhr über seine Haut.
Sie fühlte sich nicht anders an als die eines anderen Menschen. „Was ist mit dir passiert?“ flüsterte ich und erschrak ehrlich als er meine Hand packte. Mein Herz hämmerte und ich versuchte mich von ihm loszumachen. „Du tust mir weh. Lass mich los, bitte.“ bettelte ich und jetzt hatte ich Todesangst. Er ließ meine Hand los und ich sprang auf, um in die andere Ecke des Raumes zu flüchten.
„Verflucht, ich bin verflucht. Ich war nicht immer dieses Monster, dass du siehst. Man musste sich nicht vor mir fürchten.“ Er schlug die Hände vor die Augen und ich sah, dass sein Körper begann sich wieder mit Gefieder zu überziehen. „Hättest du ihn nur schießen lassen, dann wäre es endlich vorbei gewesen.“ Er ließ sich zurücksinken und stöhnte. „Sag mir, wie kann man das aufhalten?“
schrie ich ihn an. „Sag schon.“ Und dabei hatte ich seine Schultern gepackt. „Jetzt sag was.“
„Jemand muss etwas für mich empfinden, so wie du, als du mir geholfen hast.“
Kurz entschlossen drückte ich meine Lippen auf seinen Mund, der sich durchaus sehr menschlich anfühlte. „Ich habe keine Angst vor dir und ich werde bestimmt nicht zulassen, dass dich dieser alte Spinner einfach abknallt.“
Langsam entfernte ich mich von ihm und sah ,dass seine Hände über einen feucht glänzenden, sehr menschlichen Körper glitten. „ Danke, Carol.“ flüsterte er und in seinen Augen glitzerten Tränen.
Ehe ich ihn fragen konnte, wie sein Name war, waren ihm schon wieder die Augen zugefallen.
Also entschloss ich mich, diese Frage auf später zu verschieben, wenn es ihm besser ging.
Jetzt machte ich mich erst einmal daran die Spuren zu beseitigen, die sein Blut auf dem Boden meiner Wohnung hinterlassen hatte. Dabei war ich bemüht leise zu sein, was aber scheinbar für sein Gehör noch immer zu laut war, denn er drehte sich stöhnend um.
Auf Zehenspitzen schlich ich mich in mein Schlafzimmer, zog ein Buch aus dem Regal und legte mich aufs Bett. Keine Ahnung wie lange ich gelesen hatte und ob überhaupt, doch plötzlich schreckte ich auf, weil ein Schatten über mich fiel.
Der Mann stand vor mir. Sein Herz hämmerte so heftig, dass ich den Eindruck hatte, er könnte daran sterben. Seine Blicke irrten panisch durch den Raum und er wirkte wie ein wildes Tier, dass
ausbrechen wollte. Er sah zwar noch immer wie ein Mensch aus, doch seine Haltung war lauernd,
angespannt. Ganz so, als spürte er hier etwas das ihn bedrohte.
Wie lange er so abwesend erschien kann ich nicht mehr genau sagen, doch plötzlich hockte er sich
hin und ich musste unweigerlich an einen Vogel auf dem Ast denken. Seine Blicke lagen fragend
auf meinem Gesicht und ich spürte, dass er mit sich kämpfte. Er wollte mir vermutlich erklären was mit ihm los war, doch er hatte auch Angst davor. Irgendwie wollte ich es ihm leichter machen und sagte: „Ich fürchte mich nicht vor dir.“
Seine Reaktion auf meine Worte war anders als ich es erwartet hatte, denn er stand auf, ging ein Stück von mir weg und blieb am Fenster stehen. „Du solltest aber Angst vor mir haben.“ sagte er leise und wagte nicht mich jetzt anzusehen. „Du solltest vorsichtig sein Carol, ich bin kein Mensch. Vergiss nicht, dass ich ein wildes Tier …...“ Ich wollte nicht, dass er so etwas sagte, war zu ihm gegangen und griff nach seinen Händen. „Du kannst doch nichts dafür.“
Er entzog sich der Berührung und drehte sein Gesicht in das Dunkel des Raumes. „Und trotzdem könnte ich dich verletzen.“
„Ich glaube nicht, dass du mir etwas antun würdest, du bist kein Monster.“ Jetzt schwieg er und ich konnte deutlich hören, dass er mit Tränen kämpfte. „Glaubst du wirklich, ich wäre kein Monster.....
Dann sieh her, dass bin ich.“ Er fuhr sich mit dem Finger über den Arm und sein Nagel hinterließ eine tiefe, blutige Spur darauf. „So zu sein, gefährlich und verletzend, dass ist wohl monströs.“ sagte er traurig. In diesem Moment konnte ich mir vorstellen, was er nicht gesagt hatte.
Wie einsam ihn sein Dasein zwischen den Welten machte und ich wollte nicht hinnehmen, dass es nichts geben sollte womit man ihm helfen konnte.
Mich interessierte aber ebenso die Frage warum ihm das angetan worden war und von wem.
Nach einer Pause wagte ich einen neuen Vorstoß. „Komm her, es wird nichts passieren, vertrau mir.“ sagte ich und deutete einladend auf den Platz neben mir. Natürlich würde ich lügen, wenn ich behaupten würde kein unsicheres Gefühl im Magen zu haben. Er hatte Fingernägel die so scharf waren, dass er einem ohne Probleme damit die Kehle aufschlitzen konnte. Ich wollte ihm zeigen, dass ich in ihm trotz allem auch einen Menschen sehen konnte und wusste doch nicht, dass er die Angst am Schlagen meines Herzens deutlich erkennen konnte. Vermutlich konnte er aber ebenso
mein Verlangen spüren, dass seine Nähe in mir auslöste und dass ich eigentlich nie zugeben würde.
Die Matratze bewegte sich kaum als er sich neben mir niederließ. Da saß er nun und wirkte so verloren. Ich fragte mich, wie es dazu kommen konnte, dass er ausgerechnet bei mir Zuflucht gesucht hatte obwohl es auf der Welt so viele Menschen gab. Ich glaubte nicht an Zufälle, also gab
es einen Grund dafür und um wieder zur Ruhe zu kommen musste ich den finden.
„Wie heißt du eigentlich?“ „Lennard.“ antwortete er. „Mein Name ist Lennard Kilchurn.“
Es war deutlich zu spüren, dass die Erinnerung ihm schwer zu schaffen machte. Aber er versuchte sich frei zu machen von diesem Schmerz und sprach weiter. „Lord Kilchurn und ich war im Begriff zu heiraten. Wir waren jung, ich gerade Zweiundzwanzig und Claire, meine Braut, Neunzehn.“
Er stockte und flüsterte dann, kaum hörbar. „Er hat mir alles genommen und mich verflucht.“
Jetzt tat es mir leid, dass ich ihn gedrängt hatte zu reden. „Tut mir leid.“ flüsterte ich und legte ihm mitfühlend die Hand auf die Schulter.
Allein diese kurze Berührung schien schon unerträglich für ihn zu sein, denn er sprang auf und war,
ehe ich es auch nur wahrgenommen hatte, in die andere Ecke des Raumes geflohen.
Lennard hatte mir den Rücken zugekehrt und stützte sich mit den Händen gegen die Wand.
„Es muss dir nicht leid tun.“ sagte er, ohne mich anzusehen „Du ahnst nicht wie lange ich mir schon wünsche, dass alles jemandem erzählen zu können. Da war in all der Zeit niemand, mit dem ich hätte sprechen können.“ Als seine Finger sich zu Fäusten ballten hinterließen seine Nägel tiefe Spuren im Putz. Er drehte sich um und kam langsam zu mir zurück.
Behutsam strich er mit den Fingerspitzen seiner rechten Hand über meine Wange und hockte sich vor das Bett, so dass er mir in die Augen sehen konnte. „Du, du bist anders als die meisten anderen Menschen. Carol, seit Jahrhunderten habe ich mit keinem Menschen gesprochen. Aber an dem Tag als ich dich zum ersten Mal sah, da begann ich auf Rettung zu hoffen.“
„Lennard, wo hast du mich gesehen?“ Was er sagte machte mich neugierig und ich wollte jetzt die ganze Geschichte hören. Während er vorsichtig über meinen Handrücken strich, hielt er die Augen geschlossen. „Das ist schon eine Weile her und du wirst dich an unsere erste Begegnung sicher nicht erinnern. Du warst noch klein, vielleicht drei Jahre alt. Im Garten deiner Großeltern......“
Erschrocken zog ich meine Hand weg und flüsterte: „Woher...weißt du das alles von mir?“
Ich war so verwirrt von all dem und mir schossen unglaublich viele Bilder durch den Kopf. Tausende von Erinnerungen drängten hervor und dann war da auch der Schatten den ich damals über mir wahrgenommen hatte. Ein riesiger Vogel, dessen Existenz mir damals niemand abgenom- men hatte, wenn ich davon erzählte. Irgendwann hatte ich diese Bilder einfach verdrängt und ganz tief in mir verschlossen. Das war unendlich lange her und es fühlte sich seltsam an jetzt daran zu denken. Wenn es stimmte, was er gesagt hatte, was hatte Lennard dann in dieser langen Zeit getan?
Seine Augen machten deutlich, dass er wusste was ich mich fragte. „Ich habe darauf gewartet, dass du bereit bist für eine neue Begegnung.“ flüsterte er.

Ich nahm meinen Mut zusammen und erwiderte den intensiven Blick meinerseits. „Wer hat dir das angetan?“
Lennard umschloss seinen Körper mit den Armen, doch er konnte nicht verhindern, dass ich sah wie sehr er zitterte. „Mein Bruder, mein Fleisch und Blut hat das getan. Weil er Claire begehrte hat er sich mit dunkler Magie eingelassen. Er erzählte überall, ich wäre von einem wilden Tier zerfleischt worden. Und nach einer Zeit entschieden Claires Eltern, sie habe genug getrauert und solle ihn heiraten. Ihr blieb keine Wahl.“
Er atmete angestrengt und schlug die Hände vor das Gesicht.
„Ich war auf dem Friedhof, als sie mich begruben. Ich hab Claire in ihrem Brautkleid gesehen, als sie unglücklich und verloren neben meinem Bruder zum Altar ging und zur Lüge gezwungen war.
Ich wollte schreien, wollte mich rächen und ich wollte sterben. Doch nichts von all dem konnte ich tun. Carol, ich konnte nicht einmal weinen, denn Vögel können keine Tränen vergießen.“

Mir war egal, für wie gefährlich er sich hielt. Ich umarmte ihn einfach, weil mir unendlich leid tat was man ihm angetan hatte und auch, weil ich ihn mochte. Sehr sogar. In der letzten Zeit hatte ich mich so nutzlos gefühlt, denn alles in meinem Leben hatte sich verändert. Kein Stein meines Lebenshauses war auf dem anderen geblieben und ich hatte vermutlich sogar die Richtung verloren.
Zuerst versuchte er mich von sich zu schieben. „Bitte lass das, ich habe Angst dich zu verletzen.“
flüsterte er beinahe flehend, doch dann zogen seine Arme mich fest an seinen Körper. Wir lagen ganz eng beieinander und genossen die Nähe. Mein Kopf ruhte auf seiner Brust und ich lauschte dem kräftigen Schlag seines Herzens, eines menschlichen Herzens.
LENNARDS RÜCKKEHR

Irgendwann war ich allein erwacht. Ich habe gewartet, stundenlang, tagelang. Und in diesem Moment blieb die Zeit stehen. Jede Tätigkeit, selbst das Denken fiel mir schwer und die Banalitäten
wie Essen und Trinken verloren ihre Bedeutung. Hätte er mir doch nur gesagt, dass er gehen muss.
Vermutlich hätte ich es verstanden, doch so konnte ich nur auf dumme Gedanken kommen.
Zuerst stand ich stundenlang am Küchenfenster und starrte durch das Fernglas. Aber der Baum blieb leer, oder wurde bestenfalls von ein paar Krähen angeflogen, die lauthals miteinander stritten.
Als ich immer schwächer wurde zog ich mir den Küchenstuhl an das Fenster und stützte die Arme
auf das Fensterbrett. Die kleinen Vögel im Futterhäuschen störten sich nicht an meiner Anwesenheit und verspeisten die letzten Körner die noch vom vergangenen Winter liegengeblieben waren.
Wie die Zeit vergeht, heute hat der Herbst begonnen.
Ich erinnerte mich an die vergangenen Monate die ich mit Lennard verbracht hatte. Das was sich zwischen uns entwickelt hatte war keine körperlich ausgerichtete Beziehung, es war überhaupt keine 'Beziehung'. Am ehesten war es wohl Magie. Meine Zuwendung war es die den Fluch, der auf ihm lastete, brechen konnte. Und ich konnte mich durch Lennard nützlich fühlen, etwas das mir verloren gegangen war.
Eigentlich brauchte mich niemand mehr und ich war irgendwie auch froh darüber, meine Aufgaben in der Familie erfüllt zu haben. Aber wenn ich geahnt hätte, dass ein neuer Abschnitt bedeutete
abgestempelt zu sein als nutzlos, dann hätte ich ….....ich weiß nicht.
Es gibt so vieles, dass auf dieser Welt nicht gut läuft und manchmal wird das Leben zu einer Gratwanderung, die man nur knapp überlebt.
Ich hatte mich an seine Nähe gewöhnt, an seine tröstenden Hände die über meinen Kopf strichen.
Er konnte so behutsam sein und ich hatte geglaubt er wäre mein Freund.
Warum musste es jetzt auch noch anfangen zu regnen? Ich hockte am Fenster und versuchte durch den dichten Vorhang der Tropfen etwas zu sehen, aber das war unmöglich. Aneinander gereiht wie dicke Perlen lief der Regen an der Scheibe nach unten und mir war gar nicht sofort aufgefallen, dass
den Rest dieses Schleiers meine eigenen Tränen ausmachten. Unwillig wischte ich mit dem Hand- rücken über mein Gesicht und verkündete meiner leeren Wohnung meine Kampfansage. „ Ich werd mich nicht länger hängen lassen. Meine Zeit kann ich verpennen wenn ich im Sarg liege. Aber noch bin ich nicht bereit dazu.“
Plötzlich hatte ich ein seltsames Gefühl. Es war wie ein Kribbeln, dass sich über meinen Rücken ausbreitete und etwas wie eine Gänsehaut entstehen ließ. Ich wollte mich nicht umdrehen, vielleicht weil ich fürchtete mir nur einzubilden das er es sein könnte. Aber dann sagte er: „Carol.“ Ich wollte gar nicht, dass er redete und drehte mich nun doch um. Lächelnd legte ich meinen Zeigefinger auf seine Lippen und flüsterte: „Sag nichts, bitte.“ Ich wollte einfach nur seine Nähe spüren, die Wärme eines anderen lebenden Wesens. Es war nicht mehr von Bedeutung, dass er einfach verschwunden war. Behutsam legten er seine Arme um mich und flüsterte an meinem Ohr. „Ich hatte befürchtet
du …...“ er stockte. „Du hast gedacht ich hab mich verliebt, oder?“ erwiderte ich und musste dabei lächeln. „Lennard, ich bin keine Zwölf mehr.“

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