Das Leben erzählen oder Männlichkeit und Wahrheit - Eine Gedankenfolge zu Max Frisch

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April Wittlet
Kerberos
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Das Leben erzählen oder Männlichkeit und Wahrheit - Eine Gedankenfolge zu Max Frisch

Beitragvon April Wittlet » 14.11.2017, 04:44

"Mein Leben als Mann? Ich möchte wissen, was ich, schreibend unter Kunstzwang, erfahre über mein Leben als Mann" - Max Frisch - Montauk

In dieser Passage steckt der ganze Max Frisch. Allem, was dieser Autor am Leben erzählenswert findet, dem widmet er sich in seinem Werk vermittels des Aspekts der Männlichkeit. Ein Mann sein, das bedeutet bei Max Frisch, eine Heimat zu haben, und zu der hat sich der Mann zu positionieren. Männlichkeit verlangt eine politische, aber auch eine emotionale Haltung zur Heimat, in Frischs Fall der Schweiz. Und die Heimat hat eine Geschichte, das weiß der Mann, er muss sich auch zu seiner Epoche verhalten. Männlichkeit muss bei Frisch vor dem Hintergrund eines technischen Zeitalters Bestand haben und vor der Erinnerung an den Krieg. Der Mann hat sich als solcher vor der Frau zu behaupten, die Ehe wird bei Frisch zur Probe auf Männlichkeit. Das alles steckt in Frischs Leben als Mann, es ist ein Verhältnis des Individuums zur Welt. Im Verhältnis als Mann zur Gesellschaft, als Mann zur Geschichte sowie als Mann zur Frau konstituiert sich für Frisch erst die Identität, aber wie findet das Individuum einen Zugang zu dieser eigenen Identität?

Frisch versucht den Zugang über die Kunst zu finden, in der Literatur, im Erzählen. Das Leben als Mann zu erzählen wird zu einem Zugang zur Identität. Die Figuren in Frischs Prosa werfen auf der Suche nach diesem Zugang immer neue Fragen nach der Erzählbarkeit des Lebens auf und damit die Frage, wie festgelegt die Identität ist, wie gestaltbar. Eröffnet der Akt des Erzählens tatsächlich einen Zugang zur Identität oder erschafft er eine solche nicht vielmehr erst? Die fragende Bewegung in Frischs Werk, die auf die Erzählbarkeit des Lebens gerichtet ist, wird zunächst über die Figuren in seinen Romanen verhandelt. Wenn der Autor in späteren Jahren schließlich in einer Erzählung in eigenem Namen von männlichem Leben schreibt, führt er diese Bewegung nur konsequent fort.

1975 erscheint Montauk, ein Buch, in dem der Schriftsteller scheinbar unverblümt von seiner realen Affäre mit einer jungen Frau während eines New-York-Aufenthalts im Vorjahr erzählt. Der Erzählung dieses Ehebruchs stellt er ein Zitat von Michel de Montaigne voran, das den Leser auf das ungewöhnliche Maß an Aufrichtigkeit in diesem Buch einstimmen soll. „DIES IST EIN AUFRICHTIGES BUCH“, heißt es da, und: „ICH BIN ES, DEN ICH DARSTELLE“.

Dass neben dem Ehebruch auch die Beziehungen zu den anderen Frauen in Frischs Leben unverhohlen ausgebreitet werden, löste seinerzeit in Verbindung mit der behaupteten Aufrichtigkeit eine Kontroverse aus. Wie zuvor schon in den Tagebüchern aber relativiert der nicht übersehbare Kunstzwang in Frischs Schaffen alle Wirklichkeitstreue, es stellt sich also die Frage nach dem Maß an Wahrheit in Montauk. Wieviel Wahrheit ist überhaupt möglich in der Literatur und wieviel davon erlaubt?

Auch die vorausgegangenen Werke sind erkennbar autobiographisch geprägt, ohne große Mühe lassen sich die Gestaltungen früherer Figuren der Auseinandersetzung mit identifizierbaren Personen im Leben des Autors zuordnen. Steckt in Monatuk denn mehr Wahrheit als in den Vorgängerwerken? Ob so ein Mehr an Wahrheit möglich ist, das ist genau die Frage, die Frisch letztlich selber stellt, indem er den Versuch unternimmt, auf alle Fiktion zu verzichten.

Aber auch in diesem Werk stellt Frisch Fragen nicht etwa zu dem Zweck, sie zu beantworten, zumindest nicht endgültig. Der Autor kehrt hier ein weiteres Mal zu seinen längst bekannten, immer gleichen Fragen und Gedanken zurück und auch Montauk liefert nur eine weitere Spielart derselben antwortlosen Antworten der Vorgängerwerke. Die Probleme um Ehe und Ehebruch, Heimat und Fremde, Identität und Alterität werden auch hier nicht gelöst, vielmehr treten sie immer wieder unterschiedlich beleuchtet in immer neuen Schattierungen zutage.

Die große Frage nach der Erzählbarkeit des Lebens ist ihrerseits nur eine Schattierung der Frage nach der Verstehbarkeit des Lebens. Und so ist Montauk trotz der Kontroverse ein zwingend notwendiges Werk für Frisch, denn wozu sonst schreibt er, wenn nicht um eines Verstehens des Lebens willen? Dazu arbeitet er die Nuancen heraus, schafft feine Differenzierungen und welchen Lebens sollte er sich dazu bedienen als des eigenen, subjektiv erfahrenen Lebens als Mann?

Frisch mikroskopiert anhand seines eigenen Lebens exemplarisch das allgemein Menschliche und macht dabei auf die Permanenz entscheidender Probleme im Leben aufmerksam, die gerade deshalb nie verschwinden, weil es keine Lösungen für sie gibt außer kurzlebigen, unterkomplexen, ungenügenden. Die Spannungen in Frischs erfahrenem Leben sind die eines jeden reflektierenden Menschen. Anstatt sie auflösen und damit beseitigen zu wollen, gilt es also, einen Umgang mit ihnen zu finden, eine Haltung zu ihnen. Darin bestehen Frischs antwortlose Antworten, die im Einzelnen auf die immer gleichen Fragen immer wieder anders ausfallen, von Werk zu Werk und innerhalb der Werke. Steckt in den Antworten, die Montauk gibt, nun mehr Wahrheit als in denen des Stiller oder Mein Name sei Gantenbein? Wann ist eine Antwort auf eine drängende Frage des Lebens wahr?

Niemand ist davor gefeit, sich sich nach Jahren angesichts derselben Probleme bei denselben Erkenntnissen zu ertappen und das als Rückschlag zu empfinden. Dann wieder sieht sich jeder einmal Problemen ausgesetzt, zu denen er schon einmal glaubte, eine Lösung gefunden zu haben. In Montauk ist Frisch bestürzt: "dass ich vor zwei oder vor fünf Jahren genau zu derselben Einsicht gekommen bin – nur habe ich sie dann wieder vergessen, weil es mir nicht gelungen ist, nach meiner Einsicht zu leben".

Die Wahrheit von Frischs Antworten auf die Fragen des Lebens bemisst sich an ihrer Lebbarkeit, das ist die Integrierbarkeit einer Erkenntnis in das tätige, wirkende Leben. Wahrheit zeichnet sich durch ihre Verwirklichung aus. Um nun also zu etwas zu kommen, das verwirklicht werden kann, macht Frisch sich zur Aufgabe, verschiedene mögliche Antworten zu erforschen, und sein Mittel dazu ist das Erzählen. Deshalb muss Frisch in seiner Prosa immer wieder dieselben Fragen aufrollen, dieselben Probleme immer wieder durchspielen, um die immer wieder anderen Antworten auszuprobieren, bis er immer wieder scheitert. Dann wird weiter ausdifferenziert und in einem neuen Ansatz nochmal dasselbe erzählt.

Einerseits ist das Erzählen ein Mittel der Differenzierung des Gegebenen, also der Beobachtung durch Unterscheidung. Andererseits eignet sich die Erzählung aber auch dazu, neues auszuprobieren, einzelne Momente auf Sinnmöglichkeit abzuklopfen, sie zu verknüpfen und Zusammenhang herzustellen. So ist das Erzählen ein Akt der Schöpfung, bei dem das Leben gleichermaßen Rohstoff wie Produkt ist. Hier können Haltungen zur Probe eingenommen wie auch neue gefunden werden, die sich erst im Akt des Erzählens ergeben. Erzählen kann eine Antwort auf die Fragen des Lebens bieten, es kann lebbare Wahrheit schaffen. Aber gibt es dafür nicht auch einen Preis zu bezahlen?

Das Leben erzählen, mögliche Zusammenhänge schaffen, Szenarien durchspielen – darin versteckt sich auch Zerstörungskraft. Verunmöglicht ein erzählter Zusammenhang nicht das freie Spiel zwischen einzelnen Elementen? All das Mysteriöse eines vagen und nicht festgestellten Lebens, erstarrt das in der Erzählung nicht zu kaltem Stein? Fixiert in der unveränderbaren Erzählung, ein für alle Mal in Form gegossen, nicht mehr im Wandel, ist das nicht tot?

Davor warnt auch Frischs Instinkt. Er veräußert ihn in Montauk in seinem Verlangen, seiner natürlichen Lust auf das Hier und Jetzt: "Er möchte bloß Gegenwart". Die Erzählung ist gewissermaßen das Gegenteil des Erlebnisses, in ihr hat das Leben ein Wesen, das man nicht leben kann.

Dem Menschen wurde schon vor Frischs Zeit ein gewisser Neid auf das Tier attestiert, das immerfort in unbeschwerter Gegenwart lebt, inmitten des Moments als des Trägers aller Möglichkeiten. Danach verlangt es auch Frisch, wenn für ihn die Erinnerung, die ihn der Absolutheit des Moments entfremdet, stets mit einem wehmütigen Schmerz verbunden ist. Es stört ihn, dass immer Erinnerungen da sind. Max Frisch ist eben kein Tier, er ist ganz und gar Mensch. Und mehr noch, er zeigt dem Leser, um wieviel intensiver gerade der Mensch die Gegenwart erfahren kann, eben weil jeder Moment ihm beladen mit seiner Vergangenheit gegeben ist. Erst vor der Fülle an Erfahrungen anderer, ähnlicher oder unähnlicher Momente wird der erlebte Moment in seiner ganzen Einzigartigkeit erfassbar. Die Farben der Erfahrung reichern das Kolorit des Erlebens an, der Moment wird satter durch sie, kontrastreicher und tiefer.

"Er ist froh um jede Gegenwart […] Er will keine Memoiren. Er will den Augenblick." Der Moment, den ein Mensch wie Max Frisch erlebt, ist überhaupt nur über die dazu im Missverhältnis stehenden Memoiren zu erzählen. Das Entscheidende am Moment gibt Frisch gerade in dem wieder, das er nicht davon erzählt. Es steckt in dem, was in der Anwesenheit der Memoiren zwangsläufig abwesend ist. Die Wahrheit wird hier in eine Art negativen Erzählens gekleidet, sie wird durch Verschweigen in die Wirksamkeit der Sprache gebracht.

Auf diese Art nimmt uns der Autor mit zum Menschen Max Frisch, über das Nichterzählen des Lebens. Es ist ihm nicht möglich über das Leben zu schreiben, ohne über sein eigenes Leben zu schreiben. In diesem Wissen erzählt Frisch von Anfang an sein Leben, in jedem seiner Werke, immer auf der Suche nach der eigenen Wahrheit. Das ist der Grund, aus dem er auf die immer gleichen Fragen stößt.

Der Reiz dieser zyklischen Angriffe auf die Bastion der großen Fragen liegt nicht zuletzt in der Lust, die von Frischs Art des negativen Erzählens ausgeht, denn die kunstvolle Verhüllung, das Indirekte und das inszenierte Verstecken entfalten die ganze Kraft der Erotik. Die kraftvollen Spiele aufzugeben und ohne diese Verhüllungsmanöver zu einem unverhüllten Ich zu kommen, das bleibt schon dem Stiller versagt und Frisch ist weit davon entfernt, in Montauk den Irrweg seiner früheren Figur nachzuwandern.

Schreibend unter Kunstzwang, das heißt Frisch fühlt sich zur Kunst gezwungen, aber die Kunst unterwirft ihn ihrerseits auch einem Zwang. Ganz wie übrigens Montaigne, den er in Montauk für die Selbstfindung unter Kunstzwang Pate stehen lässt, spielt Frisch auch mit den Grenzen der Kunst zwischen Zwang und Freiheit sein erotisches Spiel. Die Wirklichkeitstreue, die einer Kontroverse wert wäre, gibt es eigentlich erst da, wo er die Wirklichkeit unerzählt lässt. Das ist die große Herausforderung für Frisch, wenn er sich in der Literatur seine Identität zugänglich machen will: Er muss sein Leben erzählen, ohne es dabei in einer tödlichen Starre zu konservieren. In Montauk wird das verhüllende Spiel nicht aufgegeben, denn Frisch weiß zu diesem Zeitpunkt bereits zu gut, dass es die Spiele sind, die die Welt in ihrem Innersten, wo nicht zusammen, da doch in Bewegung, heißt: am Leben halten.

Und so lässt uns Frisch nachsehen, wie er sieht, nachdenken, wie er denkt. Wer Frisch aufmerksam liest, wird ahnen, was Wahrheit ist, ohne dabei je eine konkrete Wahrheit zu finden. Das gelingt ihm, ohne sich selbst preiszugeben, ohne die Wahrheit zu verraten – und doch: Es ist der ganze Max Frisch, mit seiner ganzen Wahrheit, der in der Erzählung Montauk steckt. Schreiben unter Kunstzwang, also Literatur schaffen, das heißt für Frisch, öffentlich die Frage zu stellen: Bin ich ein Mann?



April Wittlet

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Re: Das Leben erzählen oder Männlichkeit und Wahrheit - Eine Gedankenfolge zu Max Frisch

Beitragvon riemsche » 16.11.2017, 23:12

find s erfrischend feminin? angehaucht und in klar verständlich form vermittelt
zudem ist s ein gewisser anreiz sich inhaltlich mit m bücherschrank zu befassen

hab deine gedanken aufmerksam und in folge mit wachsendem interesse gelesen
mich in d 70er gebeamt mit m suchbegriff gespielt und stiess zufällig auf das hier
http://www.zeit.de/1975/39/love-story-und-mehr

hatte zu der zeit mit m flüssigfrühstück beim präsenzdienst so meine problemchen
fand die hängolin.paranoia zum schiessen_ s wär einem auch ohne d lust vergangen


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