Jorgen

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Alexander
Medusa
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Jorgen

Beitragvon Alexander » 11.09.2002, 13:26

Hallo Zusammen!

Was lange währt, wird endlich (hoffentlich) gut ...

Jorgen stieg langsam den verschneiten Hügel hinauf, schnaubend wie ein Roß. Er war klein und von stämmiger Statur. Die dicke Lederrüstung hinderte ihn am Gehen. Sein bartloses Gesicht war schutzlos der Kälte ausgeliefert und die Füße schienen nicht mehr zu seinem Körper zu gehören, so taub waren sie. Der Frost hatte sich langsam aber unaufhaltsam in das dicke Leder vergraben und verstärkte sein Bemühen, den ohnehin schon kalten Füßen den kläglichen Rest ihrer Wärme zu entreißen. Schneeflocken tanzten vom Himmel hernieder und begaben sich zur Ruhe.
Das leise Klirren, wenn die einzelnen Schneeflocken auf ihresgleichen fielen, machte Jorgen Angst. Auf ihn wirkte es bedrohlich, wie das Jaulen eines Wolfes inmitten dieses unbamherzigen Winters. Er überlegte, wie lange es her war, da er seinen Vater im schlimmsten Schneetreiben, das sein Dorf je erlebt hatte, tot aufgefunden hatte. Waren es 10 oder 11 Winter gewesen? Er wußte es nicht mehr. Aber was er davon noch wußte war, dass es plötzlich ruhiger geworden war und der Sturm sich aufgelöst hatte. Vor ihm im Schnee lag sein alter Herr und war steif wie ein Brett. Er war ein Gefangener der Kälte, die ihn umklammert hielt. Jorgen war noch ein Kind gewesen und verstand nicht sofort, was er da sah. Erst, als er sich bei seinem Vater niederließ, den starren Körper zaghaft berührte und dem nachlassenden Pfeifen des Nordwindes lauschte, erst da verstand er den Lauf der Dinge:
Auf Leben folgte Tod.
Auf Tod folgte Starre.
Und auf Starre folgte Kälte.

Wie lange er dagesessen hatte, eine Hand auf des Vaters toten Körper, wußte er nicht mehr. Damals erkannte er das Wesen des Dämons, den er Kälte nannte. Dieser Dämon kroch über die Fingerspitzen die den Tod berührten, hinauf, setzte sich fest in den Knöcheln und lähmte alle Empfindungen. Jorgens Atem verließ ihn in dichten, weißen Wolken, und dann vernahm er plötzlich dieses klirrende Geräusch. Wie tausend Nadeln stachen sie ihm ins Ohr, verletzten ihn zutiefst. Hätte ihn der Gerber des Dorfes nicht gefunden, wäre er dort draußen bei seinem Vater gestorben. Und heute noch gab es Momente, in denen er sich wünschte, man hätte ihn nicht gefunden.
Kurz darauf war er von Zuhause geflohen, hinab in den Süden. In die Wärme! Er hatte von den Ländern des Sonnenscheins gehört und wollte so weit wie möglich vom Tod entfernt sein.
Er genoß das Leben an den Küsten Elssiu´s und segelte oft und gern über die tückischen Riffe, welche so manchen Schiffen den Untergang gekostet hatten. Er vergaß seinen Vater, seine Mutter und sein Dorf. Nie fand er eine Frau, für die er Gefühle der Zuneigung entwickelte und so kam es, dass er alleine, weit ab der Stadt Kostal ein Eremitendasein führte.
Manchmal, aber nur manchmal übermannten ihn Träume, die ihn wirklich ängstigten. Immer mußte er mit ansehen, wie sich der körperlose Dämon an seinen Vater heranschlich, grinsend und getarnt duch dieses Klirren, das in seinen Ohren zu einem Schreien anschwoll, seine warnenden Rufe erstickten. Sein Vater ging weiter, stapfte mutig durch den hohen Schnee, um dann mit einem leisen Stöhnen zusammenzusacken, gerade dann, als der Dämon mit hoch erhobenen Fängen nach ihm griff, ihm seine Seele an der Wurzel aus dem Körper riß und sie lachend verspeiste. Sofort erstarrte sein Vater und wurde vom Schnee verschlungen, als wäre er ein lebendiges Wesen. Und als wäre dies noch nicht genug, drehte sich der Dämon langsam um, starrte Jorgen direkt in die vor Schreck weit aufgerissenen Augen und sein Grinsen wurde breiter und breiter. Langsam kam er näher und erkannte, dass er sich nicht bewegen konnte. Die Fratze des Dämons wuchs an und im gleichen Maße begann Jorgen zu frieren.
Hilflos schüttelte sich sein Körper, fürchterliche Angst lähmte ihn. Der Dämon riß sein riesiges Maul auf und Jorgen spürte eisige Zähne in seine Wangen dringen. An dieser Stelle des Traumes wurde er immer schweißgebadet wach. Es gab Tage, da sehnte er sich nach seiner Familie und den alten Freunden. Er fragte sich immer wieder, was aus ihnen geworden war.

Diese und andere Gedanken gingen ihm durch den Kopf, als er endlich am höchsten Punkt ankam. Von hier aus hatte er einen gute Aussicht. Vor ihm, zu seinen Füßen lag sein Heimatdorf. Er erkannte sofort, dass niemand mehr dort wohnte.


Anregungen und konstruktive Kritik werden gerne diskutiert! ;-)

Gruss,
Alexander

Moeros
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Re: Jorgen

Beitragvon Moeros » 11.09.2002, 17:57

Hallo Alexander,

Von der Atmosphäre her ist die Geschichte nicht schlecht.
Allerdings habe ich es noch nie klirren gehört, wenn Schneeflocken aufeinander fallen. Jorge muß wohl ein prima Gehör haben.
Außerdem dürfte er wohl erst maximal 24 Jahre alt sein. Als der Vater starb war er Kind und seitdem sind 10-11 Jahre vergangen. In der zweiten Hälfte des Textes hast Du einen Eremiten der nie eine Frau fand aus ihm gemacht. Mit 24 ist er doch eigentlich noch relativ jung und darf sich noch Hoffnungen auf eine Freundin machen.

gelbsucht
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Re: Jorgen

Beitragvon gelbsucht » 12.09.2002, 00:07

Hallo Alexander,

also Moeros hat schon zwei wichtige Hinweise gegeben, was die Logik des Textes angeht. Denen möchte ich mich auch anschließen.

Diese Personifizierung des Kälte-Todes hat mich spontan an etwas erinnert: kennst du zufällig den Film "Akira Kurosawas Träume" des gleichnamigen Regisseurs? Es gibt dort eine Episode, die "Der Schneesturm" heißt. Dort gerät eine Gruppe von Bergsteigern in einen Blizzard und sie versacken irgendwie im Schnee und kommen nicht vorwärts auf ihrem Weg zurück ins rettende Zeltlager. Und dann erscheint einem der Bergsteiger (von Kurosawa selbst dargestellt) eine Frau, eine blasse, kühle, wunderschöne Frau, die ihn liebkost und versucht ihn zu beruhigen. Erst ergibt er sich ihr, läßt sich von ihr in glitzernde Schleier einhüllen, die Bilder dazu sind warm und weich. Dazu beginnt eine Melodie, der Sturm tritt immer weiter akkustisch in den Hintergrund bis zur vollkommenen Stille. Im selben Moment aber, indem sich der Bergsteiger der Erscheinung, die ihn umlullt, erwehren will, verwandelt sie sich in etwas Gräßliches, drückt ihn mit aller Gewalt nieder und brüllt ihn an. Daran hat mich deine Geschichte spontan erinnert ... ich werde den Film nie vergessen und kann ihn auch nur jedem empfehlen.

Was die Handlung deiner Geschichte angeht, bin ich persönlich etwas ratlos. Sie scheint mir etwas ins Leere zu laufen. Du zeichnest ein sehr einsames, menschenfeindliches Bild, ohne daß ich recht erkennen kann, was du damit sagen willst. Am ehesten: der Kampf zwischen Mensch und Natur? Dann dieser Einsiedler, dieser Eremit, der durch die Welt irrt, den der Tod seines Vaters nicht losläßt?

Was ich am interessantesten an deiner Geschichte finde, ist deine Sprache! Du hast einen sehr klaren Stil, der sich gut liest, auch wenn inhaltlich mit der Geschichte nicht ganz so viel anfangen kann.

MfG,
gelbsucht
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razorback
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Re: Jorgen

Beitragvon razorback » 12.09.2002, 01:49

Hallo Alexander!

Der Text hat ganz erstklassige Passagen, vor allem zu Anfang und am Schluss:

Jorgen stieg langsam den verschneiten Hügel hinauf, schnaubend wie ein Roß. Er war klein und von stämmiger Statur. Die dicke Lederrüstung hinderte ihn am Gehen. Sein bartloses Gesicht war schutzlos der Kälte ausgeliefert und die Füße schienen nicht mehr zu seinem Körper zu gehören, so taub waren sie. Der Frost hatte sich langsam aber unaufhaltsam in das dicke Leder vergraben und verstärkte sein Bemühen, den ohnehin schon kalten Füßen den kläglichen Rest ihrer Wärme zu entreißen.

Das ist auf den ersten Blick gar nicht so aussergewöhnlich. Auf den Zweiten aber ist das eine ganz wunderbar klare und nachfühlbare Beschreibung mit einfachsten Mitteln.

Diese und andere Gedanken gingen ihm durch den Kopf, als er endlich am höchsten Punkt ankam. Von hier aus hatte er einen gute Aussicht. Vor ihm, zu seinen Füßen lag sein Heimatdorf. Er erkannte sofort, dass niemand mehr dort wohnte.

Das selbe - unkompliziert, atmosphärisch, beeindruckend.

Nicht so brillant dagegen ist Dein Zurechtbiegen der Zeitenfolge:

Er wußte es nicht mehr. Aber was er davon noch wußte war, dass es plötzlich ruhiger geworden war und der Sturm sich aufgelöst hatte. Vor ihm im Schnee lag sein alter Herr und war steif wie ein Brett.

"Hatte sein alter Herr gelegen," müßte es heißen. Ich kenne das Problem mit den Rückblenden und versuche meist auch irgendwann, ins Präteritum zu gleiten. Aber ein wenig unauffälliger ;-) Dir passiert dieser abrupte Übergang häufiger.

Dann kippen Deine Bilder manchmal ins Übertriebene - und damit Komische:

Das leise Klirren, wenn die einzelnen Schneeflocken auf ihresgleichen fielen, machte Jorgen Angst. Auf ihn wirkte es bedrohlich, wie das Jaulen eines Wolfes inmitten dieses unbamherzigen Winters.

Klirren? Ihresgleichen?? Schneeflocken wie Wölfe?????? (Ach ja - und unbarmherzig). Da Du aber (siehe oben) mit Bildern und Atmosphären auch sehr gut umgehen kannst, wäre eine Überarbeitung vielleicht nicht schlecht.

Dann noch eine Frage:

Auf Leben folgte Tod.
Auf Tod folgte Starre.
Und auf Starre folgte Kälte.

Ja? Interessant. Bei mir käme die Kälte vor der Starre. Wie kommst Du zu der Reihenfolge.

Fazit: Ein guter, atmosphärischer Text, den ich an Deiner Stelle noch einmal überarbeiten würde.

Ist das ein Teil einer größeren Geschichte?
O You who turn the wheel and look to windward,
Consider Phlebas, who was once handsome and tall as You

Alexander
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Re: Jorgen

Beitragvon Alexander » 12.09.2002, 12:42

Hallo Zusammen!

Erst mal ein dickes, fettes "Danke" an Euch, dass Ihr Euch die Mühe gemacht habt, den Text zu lesen und ihn zu "zerlegen" (ist positiv gemeint!).
Ich bin freudig überrascht, hatte ich doch nicht so schnell mit soviel Echo gerechnet.

@Moeros
Du hast recht. Logikfehler meinerseits. Natürlich müßte Jorgen älter sein. Und die Geschichte mit den "klirrenden" Schneeflocken ist echt übertrieben. Beim Schreiben kam sie mir allerdings nicht so vor. (Ein altes Problem - man sollte doch lieber einige Zeit verstreichen lassen und den Text nochmals lesen, bevor man ihn öffentlich macht.)
Es freut mich, dass Dir die Atmosphäre der Geschichte gefallen hat.

@gelbsucht
"Akira Kurosawas Träume" kenne ich nicht, aber Du hast mich neugierig gemacht.

Was die Handlung deiner Geschichte angeht, bin ich persönlich etwas ratlos. Sie scheint mir etwas ins Leere zu laufen. Du zeichnest ein sehr einsames, menschenfeindliches Bild, ohne daß ich recht erkennen kann, was du damit sagen willst. Am ehesten: der Kampf zwischen Mensch und Natur? Dann dieser Einsiedler, dieser Eremit, der durch die Welt irrt, den der Tod seines Vaters nicht losläßt?


Und da wären wir schon am Kernproblem: Ich habe diesen Text aus einem größerem Projekt herausgegriffen.
Es ist mehr eine Charakterskizze als eingeständiger Text. Ich wollte Jorgens Gefühle, Gedanken und Erinnerungen für mich auf Papier bringen. Den Text ins "O livro" zu stellen hatte ich schon vor, aber nicht bedacht, dass es etwas aus dem Zusammenhang gerissen wird. (Womit wir bei der Beantwortung von razorbacks letzter Frage wären.)
Es freut mich, dass Euch meine Sprache gefällt. Jetzt muß ich nur noch an der Stimmigkeit der Geschichte arbeiten. ;-)

@razorback
Ich kenne das Problem mit den Rückblenden und versuche meist auch irgendwann, ins Präteritum zu gleiten. Aber ein wenig unauffälliger. Dir passiert dieser abrupte Übergang häufiger.

Stimmt. Das ist ein Problem von mir. Ich habe noch nicht soviel Erfahrung mit Rückblenden und fühle mich auf diesem Gebiet noch nicht sicher. Ich werde dran arbeiten. ;-)

Die unfreiwillige Komik habe ich schon bei Moeros angesprochen. Stimmt natürlich auch, dass es komisch rüberkommt. Manchmal hebe ich mit meinen Bildern etwas ab. Das wurde mir schon des Öfteren gesagt. Gut, dass mich jemand auf den Teppich holt. Ich muß lernen, mich da richtig einzuschätzen.

Auf Leben folgte Tod.
Auf Tod folgte Starre.
Und auf Starre folgte Kälte.

Es ist weniger der Körper gemeint, als die Beobachtung desjenigen, der den Toten findet. Die Erkenntnis des Todes, die Unfähigkeit, das zu verarbeiten und nachfolgend das "Wieder-zu-sich-kommen", bei dem man erst wieder die äußeren Einflüsse wahrnimmt; wie z.B. die Kälte.
Jetzt beim Formulieren der Erklärung wird mir klar, dass man unwillkürlich an Totenstarre denken muß und dann die Reihenfolge natürlich nicht stimmt. Ich hätte im Text näher auf meine Gedanken eingehen müssen, um dies genauer darzustellen.

Was das "unbamherzig" anbelangt: da ist mir doch tatsächlich ein Tippfehler unterlaufen! Und schlimmer: beim Korrekturlesen hat er sich erfolgreich vor mir versteckt! :-D

Ich bedanke mich nochmals bei Euch für die konstruktive Kritik und die Anregungen.
Und natürlich freue ich mich über Euer Lob! :-)

Gruss,
Alexander


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