Ruhmeshalle der Unzulänglichkeit

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Auf Eulen Schwingen
Sphinx
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Ruhmeshalle der Unzulänglichkeit

Beitragvon Auf Eulen Schwingen » 02.03.2018, 17:35

Ruhmeshalle der Unzulänglichkeit

Grauzonen

Der alte Mann saß in der Früh leicht verkatert am Schreibtisch. Ach ja, die halbe Flasche Wein von gestern Abend. Oder doch eine ganze? Er war halt nicht mehr der Jüngste. Gedächtnis, Kondition. All das. So öffnete er, um sich vom Kopfweh abzulenken, den Laptop, griff dann zu Kaffeetasse daneben. Auf dem Bildschirm erschien die Internetausgabe der Neuen Züricher Zeitung, seriös, staubtrocken, schweizerisch-penibel - Politik, Feuilleton, bis hin zum Sportteil. Nüchtern-ernüchternd. Er brauchte jetzt so was. Vorsichtig schlürfte er den heißen Kaffee und setzte aufmerksam geworden die Tasse ab, als er auf folgende Passage stieß:
….Grauzonen, in denen vermeintliche Gewissheiten mit einer Wucht erschüttert werden, dass man noch Jahre später darüber reden wird....

Es ging – der Folgetext verriet es bei kursorischer Lektüre - um ein Fußballspiel vom Tag zuvor.
Drei Tore in den letzten sieben Minuten. Der FC Barcelona agiert entfesselt. Ein 6:1, das Paris St.-Germain verzweifeln lässt, weil nun sein 4:0 im Heimspiel der Vergangenheit angehört. Von diesen sechs Toren, den drei und dann nochmals drei am 8. März 2017, wird man sicher noch den Kindern und Kindeskindern erzählen.

Johannes Wenzel schloss die Augen, es tauchte - zuerst in Umrissen, dann immer klarer – ein Schulhof auf, angefüllt mit Jungen und Mädchen. Gleich würde sie ablaufen, die kurze Szene. Am Anfang die Demütigung, dann der rauschhafte Wurf und schließlich jubelnder Triumph. Musik, Tanz, das große Drama, das Übermächtige, das schauervolle Tremendum, das Erhabene, das Unheimliche, all dies hatte man im Philosophiestudium beredet und beackert und seziert, in dieser Szene aber war es greifbar und lebendig. Davon musste man erzählen, unbedingt.

Damals vor langer Zeit im Januar 1959 hatte sich der Auftritt zugetragen vor dem Gymnasium in Miltenberg, einer unterfränkischen Kleinstadt. Von Stadtbaumeister Ludwig Frosch war das Gymnasium zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts geplant und erbaut worden, drei Flügel, drei Geschosse, mit Walmdächern, ein Dachreiterhäuschen. Im dampfigen Untergeschoss ein Schwimmbecken mit warmem Wasser. Unten am Main der Sportplatz. Eine kleine Welt für sich.

In der großen Pause standen Schüler in Gruppen beieinander, lachten und redeten, bissen in ihre Butterbrote oder erstanden Wurstsemmeln beim Hausmeister. Schüler gesetzteren Alters waren in Diskussionen vertieft und wanderten auf und ab oder standen gestikulierend in kleinen Gruppen.

Der Schüler Erwin Eicker aus dem Kilianeum, einem kirchlich-katholischen Internat mit Askese fordernden Präfekten („Wer hier eintritt, legt sich die Priesterbinde um die Stirn“), biss in eine Semmel mit Käsebelag und schimpfte über die freundlichen bis verzagten Schwestern in der Küche ("Ewig der Käs, immer Käs, Scheißkäs."). Alfred Mechler, ebenfalls Kilianist, wirkte glücklicher, er hatte ein Wurstbrot dabei und einen Winterapfel, seine Eltern aus dem Odenwalddorf Preunschen nahe bei Parzivals Burg Wildenberg hatten ihm eine Salami mitgebracht, das Obst stammte von den Küchenschwestern, den Käse im Brot hatte er durch die Wurst ersetzt.

Würfe

Der junge Wenzel, ein Stadtschüler von fünfzehn Jahren - nahe bei der Kilianei bewohnten seine Eltern den ersten Stock einer roten Sandsteinvilla - stand neben Erwin und Alfred, blinzelte über den Brillenrand in die funkelnde, blendende Wintersonne, hörte die Durchsage des Lautsprechers („Schneeballwerfen ist zu unterlassen …“) und dachte voll Wehmut an den Sommer. Wie schön war die wunderbare Ute Zehelein beim Sportfest in der Viermal-400-Meter-Staffel vorbeigestürmt an ihm, hatte Atem geholt am Ziel, wurde dort von allen heftig beklatscht. Zwei Jahre älter als er, ihm blieb nur Bewundern, Entzückung, Demut und Sehnsucht.

Wumm. Wie aus dem Nichts – explodierte plötzlich etwas Kaltes. Über Kopf, Hals und Brille verteilte sich eine Schneewolke. Schnee glitt vom Kragen den Hals und die Schulterblätter hinab, so kalt und feucht, dass er laut und wütend aufschrie. Im näheren Umfeld erhob sich gackerndes Lachen, murmelnder Spott und glucksendes Mitleid.

Der Werfer, etwa zwei Jahre älter als Wenzel und entsprechend stärker, war kein Raufbold, aber er hatte Wenzels Vater vor einem Jahr als Lehrer gehabt, fühlte sich immer noch ungerecht benotet und behandelte den Lehrersohn, wie es dem gehörte. Auf seinem Laufweg an Johannes vorbei und dann von ihm weg war er in einiger Entfernung stehen geblieben und genoss nun ruhig atmend das Bild, das Wenzel bot. Es war ja wohl keine Reaktion mehr zu erwarten. Und wenn doch ... was hatte er zu fürchten?

Nun drehte er sich um und schritt betont langsam zum Portal des Gymnasiums. Vor ihm die Menge teilte sich bereitwillig, einzelne Schüler wiesen die Unwissenden auf das schneebestäubte Opfer weiter hinten hin, das so erbärmlich geschrien hatte, sich gerade heftig schüttelte und dann an den Kopf tappte, wahrscheinlich die Brille vermissend. Sie war nicht mehr da.

Doch statt sich zu bücken und mit der Hand die Brille im Schnee zu suchen, stieß Wenzel den Arm nach vorn, entriss dem Kilianisten Alfred Mechler den großen, weichen Winterapfel, den jener gerade angebissen hatte, und holte weit zum Wurf aus. Hand, Arm, Apfel, alles wurde eins, die Frucht katapultierte nach oben und zog – zang zang zang - über den Köpfen der Zuschauer durch die gleisende Helle des Hofes.

Mehr

Der Täter hatte wohl irgendetwas geahnt, er wandte sich um, sah etwas heranfliegen, duckte sich weg, die Umstehenden, die Pausenbrote auf Brusthöhe, verstummten. Der Apfel aber hatte die Strecke durchmessen und prallte, obwohl sich der Delinquent bückte, auf seinen behaarten Schädel. Der weiche, angebissene Winterapfel barst, Johannes erblickte es mit Freude, in faserig-glitschige Teile, sie spritzten links und rechts vom Kopfe weg und fielen dann im Gegenlicht wie in Zeitlupe zu Boden.

Gelächter, Rufe des Staunens, beifälliges Klatschen für den spektakulären Wurf hallten über den Schulhof und von den Sandsteinmauern zurück. Der Gründerzeitbau des Gymnasiums verlor für zwei, drei Momente seine rote Schwere, der weiß verputzte Neubau daneben mit seiner Sonnenuhr und dem Fresco „Hora-ruit“ samt drei fliegenden Schwänen strahlte hell. Der erschöpften Sehnsucht, die über die Vernunft und die Alltagswirklichkeit hinaus nach dem Übernatürlichen fragt, antwortete plötzlich und für ein paar kurze Momente das magische Mehr.

Als nun der Getroffene, vom Publikum gebannt beobachtet, wütend zurückeilte, Wenzel anbrüllte und ihm einen heftigen Boxhieb vor die Brust versetzte, so dass er taumelte und keine Luft bekam, da empfand Johannes trotzdem keinen Schmerz. Es gab ja diesen perfekten Apfelwurf, seinen Apfelwurf. Und irgendeine Gottheit hatte doch wohl den Wurfarm geführt und die Flugkurve vorgezeichnet, die der rasende Apfel nutzte bis hin zu seinem Ziel? Ein mächtiger Gott und Artifex hatte die Frucht am Ende der Flugbahn auratisch platzen lassen und hatte dem Gründerzeitbau die drückende Schwere genommen. Und schrieb dieses göttliche, numinose Etwas nicht in dem Skript dieses Tages für alle Zeiten ein, dass der Schlagende geschlagen war trotz seines Boxhiebes?

Sepiabraunes Bild

Am Abend setzte sich Johannes Wenzel an den Computer in seinem Arbeitszimmer. Er hatte die gewohnte Flasche Wein fast ausgetrunken, hatte das letzte, halb gefüllte Glas mitgenommen und stieß mit dem jungen Johannes Wenzel an, wie fast jeden Abend, wenn man die Kindheit und die Jugendzeit wiederbelebte. „Pass mal auf“, sagte der junge Wenzel und verzog ein wenig den Mund, „ du und ich, wir haben diese Szene erlebt, die Schneekaskade, die Freude beim Apfel-Wurf, das Aufstrahlen der Schulfenster, das Leuchten im Hof ….“.

„Ja, eben, wenn alles passt und klingt und schwingt und leuchtet, dann erlebst du diese herrlichen Augenblicke, die jeder, der dabei war, nicht vergisst. Epiphanie, doch, das wag´ich zu sagen, ein emotionales Apriori, oftmals gefeiert in Musik und Tanz und Worten. Du willst es später unbedingt erzählen, einmal und immer wieder." Er holte Luft: "Das Unzugängliche, hier wird´s …“

„Jetzt halt mal die Luft an, Johannes. Dick aufgetragen, pralle Wörter und Sätze mit Bauchaufschwung, typisch Johannes Wenzel. Wo bleibt die Skepsis? Falls etwas Magisches aufscheint, kann man es nicht objektiv erkennen. Und selbst wenn man es erkennen kann, kann man es kaum jemand anderem überzeugend mitteilen. Und wenn man es doch versucht, dann wird es leicht komisch, vor allem bei deinem altväterlichen Stil.“

„Meine Schüler“, der alte Wenzel berührte kurz seine Schläfe, „meine Jungen und Mädchen haben vor einem Jahrzehnt in der Abiturzeitung am Ende einen Song platziert. Standing in the Hall of Fame. Eine Hymne, von einer Gruppe, nannte sich The Script. You can throw your hands up, you can beat the clock, you can move a mountain. You can break the rocks. You can be a master. Hier, schau es dir auf dem Bildschirm an, fette, pralle, rührende Lyrik. Heroischer Pop. Oder?" „Schau ich mir später gern genauer an. Sieh mal auf die Credits: Ist ein Rapper dabei, William Adams. Nennt sich will.i.am.“

Der junge Wenzel schwieg. Der alte Wenzel hörte sich in der Stille vor dem Bildschirm atmen und glitt in tätige Trance und Entrückung: Auf dem Computer suchte und fand er im Archiv ein Bild der alten Mainbrücke von Miltenberg. Als kleiner Junge hatte er sie zerstört gesehen. Zusammen mit seinem Vater, der ihn an der Hand hielt, war er damals zum Fluss gegangen. Ein grauer, regennasser Tag, Pontons, die im Wasser schwammen, sein Vater trug den breitkrempigen schwarzen Hut, der ihn wie einen Priester aussehen ließ. Wenn Mutter gute Laune hatte, sprach sie ihn mit Hochwürden an. Ein Bagger an der Arbeit, Vorarbeiten für den Wiederaufbau der alten, zerstörten Brücke. An einem Seilzug Wannen, mit denen man den feuchten, schweren Aushub wegtransportierte.

Ein zweites Bild wurde aus dem Archiv hochgeladen: Johannes mit fünfzehn Jahren, die Haare im Bürstenschnitt, die Brille, eher dick und einmal geklebt beim Optiker Lachnit, ein Schlupfhemd mit weitem Kragen vom Bekleidungshaus Öhmann. Unsicherheit, Verlegenheit, Trotz. Die Unzulänglichkeit der frühen Jahre.

Dann das dritte Bild: Der sandsteinrote Aufgang zum breiten Brückenturm über dem Main, im Mauerwerk eine Nische, fast der Ansatz zu einer Halle. In die Mauer auf Hüfthöhe eingefügt ein Wasserbecken, über dem Becken ein Löwe, der König der Tiere, der Herrscher über das Rudel, im Maul ein Rohr, spie Wasser. Ein Löwe, der Löwe fand sich auch im Gymnasiumtiefgeschoß, im kleinen Hallenbad. Über dem Schwimmbecken dort ragte sein Kopf aus der blauen Kachelwand, spuckte Wasser hinab auf die Schüler im Wasser.

Standing in the hall of fame
And the world's gonna know your name
'Cause you burn with the brightest flame

And the world's gonna know your name
And you'll be on the walls of the hall of fame.

Auf dem glimmenden Monitor schob Johannes die drei Bilder hin und her, neben- und ineinander, bis sie sich miteinander verbanden.
Freundlicher Schimmer von blauem Opal, darin sepiabraun das nunmehr fertige Bild: Der hochgestellte Brückenturm über dem Löwenbecken. Der Löwe über dem Becken. Der fünfzehnjährige Meister des Apfelwurfes. Der alte Johannes hob feierlich grüßend das Weinglas zum Bildschirm mit der sepiabraunen Collage. Drama, Erzählung, Lied, Bild. Was gab es Schöneres als sich in aller Unzulänglichkeit gespiegelt zu sehen?

http://up.picr.de/31981115qd.jpg

https://www.youtube.com/watch?v=NH7I79fLiSw
https://www.youtube.com/watch?v=zNU-k0QoyQs

:schmöckern:
willi wamser

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Re: Ruhmeshalle der Unzulänglichkeit

Beitragvon Auf Eulen Schwingen » 10.04.2018, 17:58

Habe das feedback von riemsche gelesen, bedenkenswert und anregend. Auch wenn riemesches Varianten nur bedacht wurden - eine überarbeitete Fassung rücke ich hier ein:

Ruhmeshalle der Unzulänglichkeit

http://up.picr.de/32016054ll.jpg

Grauzonen

Der alte Mann saß in der Früh leicht verkatert am Schreibtisch. Ach ja, die halbe Flasche Wein von gestern Abend. Oder doch eine ganze? Er war halt nicht mehr der Jüngste. Gedächtnis, Kondition. All das. Er öffnete, um sich vom Kopfweh abzulenken, den Laptop, griff dann zu Kaffeetasse daneben. Auf dem Bildschirm erschien die Internetausgabe der Neuen Züricher Zeitung. Politik, Feuilleton, Sportteil. Seriös, staubtrocken, schweizerisch-penibel, nüchtern. Sowas brauchte er jetzt. Vorsichtig schlürfte er den heißen Kaffee und setzte aufmerksam geworden die Tasse ab, als er auf folgende Passage stieß:

An manchen Tagen entzieht sich der Fußball gängigen Erklärungsmustern. Er verabschiedet sich für einen Augenblick aus dem Reich der Logik und wandert in jene Grauzone, in der vermeintliche Gewissheiten mit einer Wucht erschüttert werden, dass man noch Jahre später darüber reden wird.

Es ging – der Folgetext verriet es bei kursorischer Lektüre - um den FC Barcelona.

Ein solcher Abend war der Mittwoch im Stadion Camp Nou von Barcelona. Barça gewann gegen Paris St.-Germain 6:1, nach einem 0:4 im Hinspiel. Es ist das, was manche als Sensation und andere als Wunder bezeichnen werden; ein Ereignis, das den Fußballplatz wie ein magisches Kraftfeld erscheinen lässt, dessen Zauber aber nur die Reserven eines Team speist, das andere dagegen lähmt. Ein Match gegen alle Wahrscheinlichkeiten.

Match gegen alle Wahrscheinlichkeiten, Wunder, magisches Kraftfeld. Johannes Wenzel schloss die Augen, es tauchte - zuerst in Umrissen, dann immer klarer – ein Feld, ein Platz auf, angefüllt mit Jungen und Mädchen. Gleich würde sie ablaufen, die kurze Szene. Am Anfang die Demütigung, dann der rauschhafte Wurf und schließlich jubelnder Triumph. Musik, Tanz, das große Drama, das Übermächtige, das schauervolle Tremendum, das Erhabene, das Unheimliche. All dies hatte man im Studium beredet und beackert und seziert, in dieser Szene aber war es greifbar und lebendig. Davon musste man erzählen, unbedingt. Ein Mandat.

Damals im Januar 1959, als sich die Tage noch nicht dahinschleppten, hatte sich der Auftritt zugetragen vor dem Gymnasium in Miltenberg, einer unterfränkischen Kleinstadt. Von Stadtbaumeister Ludwig Frosch war das Gymnasium zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts errichtet worden, drei Flügel, drei Geschosse, mit Walmdächern, ein Dachreiterhäuschen. Im dampfigen Untergeschoss ein Schwimmbecken mit warmem Wasser und einem Löwen als Wasserspeier. Unten am Main der Sportplatz mit der Aschenbahn. Eine kleine Welt für sich.

In der großen Pause standen Schüler beieinander, lachten und redeten, kauten an ihren Butterbroten oder kauften Wurstsemmeln beim Hausmeister. Schüler gesetzteren Alters waren in Diskussionen vertieft und wanderten auf und ab. Der Schüler Erwin Eicker aus dem Kilianeum, einem kirchlich-katholischen Internat mit Askese fordernden Präfekten („Wer hier eintritt, legt sich die Priesterbinde um die Stirn“), biss in eine Semmel mit Käsebelag und schimpfte über die freundlichen bis verzagten Küchen-Schwestern ("Immer der Käs von dene, ewig der Käs, Scheißkäs. Scheißkilianeum") – sie verdienten solchen Tadel nicht.

Alfred Mechler, ebenfalls Kilianist, wirkte glücklicher, er hatte ein Wurstbrot dabei und einen großen Winterapfel, seine Eltern aus dem Odenwalddorf Preunschen nahe bei Parzivals Burg Wildenberg hatten ihm eine Salami mitgebracht, der Apfel kam von den Küchenschwestern, den Käse im Brot hatte er durch die Wurst ersetzt.

Würfe

Der junge Wenzel, ein Stadtschüler von fünfzehn Jahren - nahe bei der Kilianei bewohnten seine Eltern den ersten Stock einer roten Sandsteinvilla - stand neben Erwin und Alfred, blinzelte über den Brillenrand in die funkelnde, blendende Wintersonne, hörte die Durchsage des Lautsprechers („Schneeballwerfen ist zu unterlassen …“) und dachte voll Wehmut an den Sommer und das Sportfest im Juli. Die Viermal-400-Meter-Staffel. So wie sie lief, an ihm vorbeilief, petrarkisch um die Wette funkelnd mit den Sternen am Himmel, war sie unvergleichlich schön, sie hatte am Ziel tief geatmet, wurde von allen heftig beklatscht. Ute Zehelein. Zwei Jahre älter als er. Aach, ach, es blieb ihm nur Verzückung, Bewunderung, Sehnsucht. Träumerische Verschlossenheit.

Wumm. Wie aus dem Nichts – explodierte plötzlich etwas Kaltes. Über Kopf, Hals und Brille verteilte sich eine Schneewolke. Schnee glitt vom Kragen den Hals und die Schulterblätter hinab, Schnee so kalt und feucht, dass er laut und wütend aufschrie. Im näheren Umfeld erhob sich gackerndes Lachen, murmelnder Spott und glucksendes Mitleid.

Der Werfer, etwa zwei Jahre älter als Wenzel und entsprechend stärker, war kein Raufbold, aber er hatte Wenzels Vater vor einem Jahr als Lehrer gehabt, fühlte sich immer noch ungerecht benotet und behandelte den Lehrersohn, wie es dem gehörte. Auf seinem Laufweg an Johannes vorbei und dann von ihm weg blieb er in einiger Entfernung stehen und genoss nun feixend das Bild, das Wenzel bot. Es war ja wohl keine Reaktion mehr zu erwarten. Und wenn doch ... was hatte er zu fürchten von diesem nassen Neuntklässler? Zufrieden drehte er sich um und schritt betont langsam zum Portal des Gymnasiums. Vor ihm die Menge teilte sich bereitwillig, einzelne Schüler wiesen die Unwissenden auf das schneebestäubte Opfer weiter hinten hin, das so erbärmlich geschrien hatte, sich gerade heftig schüttelte und dann an den Kopf tappte, wahrscheinlich die Brille vermissend. Sie war nicht mehr da.

Doch statt sich zu bücken und mit der Hand die Brille im Schnee zu suchen, stieß Wenzel den Arm nach vorn, entriss dem Kilianisten Alfred Mechler den großen, weichen Winterapfel, den jener gerade angebissen hatte, schrie „Du Arsch“ und holte weit zum Wurf aus. Hand, Arm, Apfel, alles wurde eins, die Frucht katapultierte nach oben und zog rotierend– zang zang zang - über die Köpfe der Zuschauer weg durch die gleisende Helle des Hofes.

Mehr

Die Umstehenden, die Pausenbrote auf Brusthöhe, verstummten. Der Täter wurde aufmerksam, wandte sich um, sah etwas heranfliegen, duckte sich blitzschnell. Genau in die Bewegung hinein prallte auf seinen Schädel der weiche, angebissene Winterapfel, barst in faserig-glitschige Teile, sie spritzten links und rechts vom Kopfe weg, fielen wie in Zeitlupe zu Boden. Es überlief Johannes ein Freudenschauer.

Gelächter, Rufe des Staunens, beifälliges Klatschen für den spektakulären Wurf hallten über den Schulhof und von den Sandsteinmauern zurück. Der Gründerzeitbau des Gymnasiums verlor für zwei, drei Momente seine rote Schwere, der weiß verputzte Neubau daneben mit seiner Sonnenuhr und dem Fresco „Hora-ruit“ samt drei fliegenden Schwänen strahlte auf. Sehnsüchtig sucht man wider alle Vernunft bis zur Erschöpfung nach dem Übernatürlichen. Plötzlich und für ein paar kurze Momente erscheint es, das magische Mehr.

Als nun der Getroffene, vom Publikum gebannt beobachtet, zornrot zurückeilte, Wenzel anbrüllte und ihm einen heftigen Boxhieb vor die Brust versetzte, da empfand Johannes keinen Schmerz, obwohl er einknickte und nach Luft rang. Es gab ja gegen alle Wahrscheinlichkeiten diesen perfekten Apfelwurf, seinen Apfelwurf. Und irgendeine Gottheit hatte doch wohl den Wurfarm geführt und die Flugkurve vorgezeichnet, die der rasende Apfel nutzte bis hin zu seinem Ziel? Ein mächtiger Gott und Artifex hatte die Frucht am Ende der Flugbahn auratisch platzen und den Gründerzeitbau levitieren lassen. Und schrieb dieses göttliche, numinose Etwas nicht in dem Skript dieses Tages für alle Zeiten ein, dass der Schlagende geschlagen war trotz seines Boxhiebes und des Schneewurfes?

Disput

Am Abend saß Johannes Wenzel im Wohnzimmer. Die gewohnte Flasche Wein fast leer. Im Lichtkreis der Stehlampe hörte er zwei Lieder von Udo Lindenberg („Plötzlich bin ich wieder der kleine Junge, ganz spitz auf Lakritz“, „Und ich schreib diesen Brief, an den Jungen, der ich vor dreißig Jahren war“). Als auch „Standing in the Hall of Fame“ zu Ende ging, erhob er sich, nahm mit dem letzten, halbgefüllten Glas vor dem Computer Platz.

Dort wartete der junge Johannes Wenzel, es war einfach schön, gemeinsam die Kindheit und Jugendzeit wiederzubeleben.

„Pass mal auf“, sagte der junge Wenzel und verzog ein wenig den Mund, „du und ich, wir haben zwar diese Szene erlebt, die Schneekaskade, die Freude beim Apfel-Wurf, das Aufstrahlen der Schulfenster, das Leuchten im Hof ….“

„Ja, eben, wenn alles passt und klingt und schwingt und leuchtet, dann erlebst du diese herrlichen Augenblicke, die jeder, der dabei war, nicht vergisst. Das ist Epiphanie, doch, das wag´ ich zu sagen, Epiphanie. Ein emotionales Apriori, oftmals gefeiert in Musik und Tanz und Worten der Kunst. Du willst es später unbedingt erzählen, einmal und immer wieder." Er holte Luft: "Das Unzugängliche, hier wird´s …“.

Sein Gesprächspartner unterbrach ihn: „Halt mal die Luft an. Jetzt mal ganz unter uns: FC Barcelona. Sechs Bälle in´s Tor. Magisches Kraftfeld. Die solide Schweizer Zeitung wird flippig. J Punkt, W Punkt, W Punkt, T Punkt, Schiller.“

"Hä?"

"Also ohne Punkt und Komma. Johannes Wenzel Wilhelm Tell.“

„Schiller. Sehr witzig.“

„Witzig? Naja. Gymnasiale Pause, eine Idylle: plötzlich ein Angriff auf den Lehrersohn, un-, aber artgerecht. Blitzschnell gerächt und vergolten: der Apfel rotiert über den Schulhof und trifft den Täter, perfekte Revanche. Auf dem Forum: emotionale Eruptionen ubique, alles flippt aus. Und der alte Johannes Wenzel flippt noch jetzt aus.“

„Na und?“

„Numinosum! Apriori! Gott und Artifex! Fette, alte Wörter machen doch deine Sätze nur fett und alt, nicht gut.“

„Magerkost soll besser sein?“

“Und dein popkultureller Schauplatz mit den drei Schwänen!“

„Ach Gottchen!“

„Ja. Bemühter, gefährlicher Höhenflug. Es droht Bauchlandung aus komischer Fallhöhe.“

„Du übertreibst.“

„Ich korrigiere: Bruchlandung sogar. Hör mal zu. Falls etwas Magisches aufscheint, kann man es nicht objektiv erkennen. Und selbst wenn man es erkennen könnte, kann man es kaum jemand anderem überzeugend mitteilen. Und wenn man es doch versucht, dann wird es eben, nun ja, komisch, vor allem in deiner altväterlichen Ausdrucksweise.“

„Meine Schüler“, der alte Wenzel straffte sich, „meine Jungen und Mädchen haben vor einem Jahrzehnt in der Abiturfeier am Ende einen Song platziert. Standing in the Hall of Fame. Eine Hymne, von einer Gruppe, nannte sich The Script.

You can throw your hands up, you can beat the clock, you can move a mountain. You can break the rocks. You can be a master.


Hier, schau es dir auf dem Bildschirm an, fette, pralle, rührende Lyrik. Kein alter Wein in neuen Schläuchen. Heroischer Pop in jungen Lungen.“

„Sag ich später was zu. Sieh mal auf die Credits: Ist ein William dabei, William Adams. Nennt sich will.i.am.“

„Komisch, gestelzt, pathetisch? Was da gesungen wird, wie da gesungen wird, glaub´ mir, das gehört zu den anthropologischen Konstanten, das findest du in allen Lebensphasen, zu allen Zeiten. Man darf das. Ich darf das. Wir dürfen das.“

Sepiabraunes Bild

Der junge Wenzel schwieg. Der alte Wenzel saß vor dem Bildschirm aus Flüssigkristall und hörte sich atmen. Er glitt weg, in tätige Trance und Entrückung:

Im Computerarchiv fand sich ein Bild des Brückentors am Main. Der Löwenkopf dort! Als kleiner Junge hatte er die Brücke hinter dem Tor zerstört gesehen. Zusammen mit seinem Vater, der ihn an der Hand hielt, war er damals zum Fluss gegangen. Ein grauer, regennasser Tag, Pontons, die im Wasser schwammen. Sein Vater trug den breitkrempigen schwarzen Hut wie ihn manchmal Priester trugen. Wenn Mutter gute Laune hatte, sprach sie ihn mit Hochwürden an. Ein Bagger an der Arbeit, Vorarbeiten für den Wiederaufbau der alten, zerstörten Brücke. An einem Seilzug Wannen, mit denen man den feuchten, schweren Aushub wegtransportierte. Bevor sie heimgingen, verneigten sich Vater und Sohn vor dem Löwenkopf über dem Becken.

Ein zweites Bild hochladen: Johannes mit fünfzehn Jahren, die Haare im Mecki-Bürstenschnitt, ein „Stiftenkopf“. Die Brille, dünne Gläser, dicke Fassung, einmal geklebt beim Optiker Lachnit, 0,5 Dioptrien. Ein Schlupfhemd mit weitem Kragen vom Kaufhaus für Herren- und Knabenbekleidung Oehmann. Unsicherheit, Verlegenheit, Trotz, Fragilität und Zartheit: Das war sie, die komische Erhabenheit der jungen Jahre.

Dann das dritte Bild, komplexer im Motiv: Hohes Mauerwerk unter dem breitbeinigen Brückenturm am Main, im Mauerwerk eine Nische, fast der Ansatz zu einer Halle. In ihr – kaum zu erkennen - ein Wasserbecken und dann: der Löwe. König der Tiere, Beherrscher des Rudels, im Maul ein Rohr spie er das Wasser. Auch im kleinen Hallenbad unter dem Gymnasium fand er sich. Der Löwenkopf ragte dort aus der blauen Kachelwand, spuckte Wasser hinab auf die Schüler im blau-grünen Wasser, in der sechsten Stunde am Freitag auf die Jungen. Und auf die Mädchen in der vierten Stunde am Samstag.

Standing in the hall of fame
And the world's gonna know your name
'Cause you burn with the brightest flame

And the world's gonna know your name
And you'll be on the walls of the hall of fame.


Blau glimmender Monitor. Johannes färbte die Bilder braun ein, dann schob er sie hin und her, neben- und ineinander, bis sie eins wurden. Eine dreigliedrige Collage, eine sepiafarbene Hommage an die Vergangenheit: Sehr groß das Becken mit dem Löwenkopf flankiert von zwei Bildern. Links der breitbeinige Brückenturm und – ganz klein – noch einmal das Löwenbecken. Auf der rechten Seite Johannes, fünfzehn Jahre, Stiftenkopf, Brille. The Famous Master of a Famous Apple Throw.

Er lächelte, hob feierlich grüßend das Weinglas zum Bildschirm. Drama, Erzählung, Lied, Collage, ironisch gefärbtes Helldunkel, Raum und Zeit, der Spagat von Erhabenheit und Komik. Was gab es Schöneres als sich so in aller Unzulänglichkeit gespiegelt zu sehen?


http://up.picr.de/31958434ou.jpg Collage

https://www.youtube.com/watch?v=NH7I79fLiSw Hall of Fame,Song-Text
https://www.youtube.com/watch?v=zNU-k0QoyQs Hall of Fame, Song-Tanz


willi wamser

http://up.picr.de/32204110oz.jpg

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Re: Ruhmeshalle der Unzulänglichkeit

Beitragvon Auf Eulen Schwingen » 11.04.2018, 14:59

Dritte Version

http://up.picr.de/32016054ll.jpg

Ruhmeshalle der Unzulänglichkeit

Grauzonen

Der alte Mann saß in der Früh leicht verkatert am Schreibtisch. Ach ja, die halbe Flasche Wein von gestern Abend. Oder doch eine ganze? Er war halt nicht mehr der Jüngste. Gedächtnis, Kondition. All das. Er öffnete, um sich vom Kopfweh abzulenken, den Laptop, griff dann zu Kaffeetasse daneben. Auf dem Bildschirm erschien die Internetausgabe der Neuen Züricher Zeitung. Politik, Feuilleton, Sportteil. Seriös, staubtrocken, schweizerisch-penibel, nüchtern. Sowas brauchte er jetzt. Vorsichtig schlürfte er den heißen Kaffee und setzte - auf folgende Passage aufmerksam geworden -die Tasse ab.

An manchen Tagen entzieht sich der Fußball gängigen Erklärungsmustern. Er verabschiedet sich für einen Augenblick aus dem Reich der Logik und wandert in jene Grauzone, in der vermeintliche Gewissheiten mit einer Wucht erschüttert werden, dass man noch Jahre später darüber reden wird.

Es ging – der Folgetext verriet es bei kursorischer Lektüre - um den FC Barcelona.

Ein solcher Abend war der Mittwoch im Stadion Camp Nou von Barcelona. Barça gewann gegen Paris St.-Germain 6:1, nach einem 0:4 im Hinspiel. Es ist das, was manche als Sensation und andere als Wunder bezeichnen werden; ein Ereignis, das den Fußballplatz wie ein magisches Kraftfeld erscheinen lässt, dessen Zauber aber nur die Reserven eines Team speist, das andere dagegen lähmt. Ein Match gegen alle Wahrscheinlichkeiten.

Match gegen alle Wahrscheinlichkeiten, Wunder, magisches Kraftfeld. Johannes Wenzel schloss die Augen, sah - zuerst in Umrissen, dann immer klarer – den Schulhof, Jungen und Mädchen. Gleich würde sie ablaufen, die kurze Szene. Am Anfang die Demütigung, dann im Rausch der Wurf und schließlich Jubel, Triumph, Musik, Tanz, das große Drama, das Übermächtige, das Zittern machende Tremendum, das Erhabene, das Unheimliche. All dies hatte man im Studium beredet und beackert und seziert, in dieser Szene war es greifbar und lebendig. Davon musste man erzählen, unbedingt. Ein Mandat.

Vor langer Zeit, damals im Januar 1959, als sich die Tage noch nicht dahinschleppten, hatte sich der Auftritt zugetragen vor dem Gymnasium in Miltenberg, einer unterfränkischen Kleinstadt. Von Stadtbaumeister Ludwig Frosch war das Gymnasium zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts errichtet worden, drei Flügel, drei Geschosse, mit Walmdächern, ein Dachreiterhäuschen. Im dampfenden Untergeschoss ein Schwimmbecken mit warmem Wasser und einem Löwen als Wasserspeier. Unten am Main der Sportplatz mit der Aschenbahn. Eine kleine Welt für sich.

In der großen Pause standen Schüler beieinander, lachten und redeten, bissen in ihre Butterbrote oder kauften Wurstsemmeln beim Hausmeister. Schüler reiferen Alters waren in Diskussionen vertieft und wanderten auf und ab oder standen gestikulierend in kleinen Gruppen beisammen. Der Schüler Erwin Eicker aus dem Kilianeum, einem kirchlich-katholischen Internat mit Askese fordernden Präfekten („Wer hier eintritt, legt sich die Priesterbinde um die Stirn“), biss in eine Käsesemmel und schimpfte über die freundlichen bis verzagten Küchen-Schwestern ("Immer der Käs von dene, ewig der Käs, Scheißkäs. Scheißkilianeum") – sie verdienten solchen Tadel nicht.

Alfred Mechler, ebenfalls Kilianist, wirkte glücklicher, er hatte ein Wurstbrot dabei und einen großen Winterapfel, seine Eltern aus dem Odenwalddorf Preunschen nahe bei Parzivals Burg Wildenberg hatten ihm eine Salami mitgebracht, das Obst kam von den Küchenschwestern – wenn die wüssten – Wurst im Brot statt Käse.

Würfe

Der junge Wenzel, ein Stadtschüler von fünfzehn Jahren - nahe bei der Kilianei bewohnten seine Eltern den ersten Stock einer roten Sandsteinvilla - stand neben Erwin und Alfred, blinzelte über den Brillenrand in die funkelnde, blendende Wintersonne, hörte die Durchsage des Lautsprechers („Schneeballwerfen ist zu unterlassen …“) und dachte voll Wehmut an den Sommer und das Sportfest im Juli. Die Viermal-400-Meter-Staffel. So wie sie lief, an ihm vorbeilief, petrarkisch um die Wette funkelnd mit den Sternen am Himmel, war sie unvergleichlich schön, sie hatte am Ziel tief geatmet, wurde von allen heftig beklatscht. Ute Zehelein. Zwei Jahre älter als er. Aach, ach, es blieb ihm nur Verzückung, Bewunderung, Sehnsucht. Träumerische Verschlossenheit.

Wumm. Wie aus dem Nichts – eiskalte Explosion. Kopf, Hals und Brille in der detonierenden Wolke glitt Schnee in den Kragen, über die Haut den Hals und den Rücken hinab, so frostig feucht, dass er wütend aufschrie. Im Umfeld gackerndes Lachen, murmelnder Spott und glucksendes Mitleid.

Der Werfer, etwa zwei Jahre älter als Wenzel und entsprechend stärker, war kein Raufbold, aber er hatte Wenzels Vater vor einem Jahr als Lehrer gehabt, fühlte sich immer noch ungerecht benotet und behandelte den Lehrersohn, wie es dem gehörte. Sein Laufweg führte an Johannes vorbei, dann von ihm weg. Nunmehr – bereits in einiger Entfernung – blieb er stehen und genoss ruhig atmend das Bild, das Wenzel bot. Es war ja wohl keine Reaktion mehr zu erwarten. Und wenn doch ... was hatte er zu fürchten von diesem nassen Neuntklässler?
Nun drehte er sich um und schritt betont langsam zum Portal des Gymnasiums. Vor ihm die Menge teilte sich bereitwillig, einzelne Schüler wiesen Unwissende auf das beschneite Opfer weiter hinten hin, das so erbärmlich geschrien hatte, sich gerade heftig schüttelte und dann an den Kopf tappte, wahrscheinlich die Brille vermissend. Sie war nicht mehr da.

Doch statt sich zu bücken und mit der Hand die Brille im Schnee zu suchen, stieß Wenzel den Arm nach vorn, entriss dem Kilianisten Alfred Mechler den großen, weichen Winterapfel, den jener gerade angebissen hatte, schrie „Du Arsch“ und holte weit zum Wurf aus. Arm Hand Apfel wurden eins, dann katapultierte die Frucht rotierend nach oben und zog – zang zang zang - über den Köpfen der Zuschauer in gleißender Helle durch den Hof.

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Die Umstehenden, die Pausenbrote auf Brusthöhe, verstummten. Der Täter wurde aufmerksam, wandte sich um, sah etwas heranfliegen, duckte sich blitzschnell. Genau in die Bewegung hinein prallte auf seinen Schädel der weiche, angebissene Winterapfel, barst in faserig-glitschige Teile, sie spritzten links und rechts vom Kopfe weg, fielen wie in Zeitlupe zu Boden. Es überlief Johannes ein Freudenschauer.

Gelächter, Rufe des Staunens, beifälliges Klatschen für den spektakulären Wurf hallten über den Schulhof und von den Sandsteinmauern zurück. Der Gründerzeitbau des Gymnasiums verlor für zwei, drei Momente seine rote Schwere, der weiß verputzte Neubau daneben mit seiner Sonnenuhr und dem Fresco „Hora-ruit“ samt drei fliegenden Schwänen strahlte auf. Sehnsüchtig sucht man wider alle Vernunft bis zur Erschöpfung nach dem Übernatürlichen. Plötzlich und für ein paar kurze Momente erscheint es, das magische Mehr.

Als nun der Getroffene, vom Publikum gebannt beobachtet, zornrot zurückeilte, Wenzel anbrüllte und ihm einen heftigen Boxhieb vor die Brust versetzte, da empfand Johannes keinen Schmerz, obwohl er einknickte und nach Luft rang. Es gab ja gegen alle Wahrscheinlichkeiten diesen perfekten Apfelwurf, seinen Apfelwurf. Und irgendeine Gottheit hatte doch wohl den Wurfarm geführt und die Flugkurve vorgezeichnet, die der rasende Apfel nutzte bis hin zu seinem Ziel? Ein mächtiger Gott und Artifex hatte die Frucht am Ende der Flugbahn auratisch platzen und den Gründerzeitbau levitieren lassen. Und schrieb dieses göttliche, numinose Etwas nicht in dem Skript dieses Tages für alle Zeiten ein, dass der Schlagende geschlagen war trotz seines Boxhiebes und des Schneewurfes?

Disput

Am Abend saß Johannes Wenzel im Wohnzimmer. Die gewohnte Flasche Wein fast leer. Im Lichtkreis der Stehlampe hörte er zwei Lieder von Udo Lindenberg („Plötzlich bin ich wieder der kleine Junge, ganz spitz auf Lakritz“, „Und ich schreib diesen Brief, an den Jungen, der ich vor dreißig Jahren war“). Als auch „Standing in the Hall of Fame“ zu Ende ging, erhob er sich, nahm mit dem letzten, halbgefüllten Glas vor dem Computer Platz.

Dort wartete der junge Johannes Wenzel, es war einfach schön, gemeinsam die Kindheit und Jugendzeit wiederzubeleben.

„Pass mal auf“, sagte der junge Wenzel und verzog ein wenig den Mund, „du und ich, wir haben zwar diese Szene erlebt, die Schneekaskade, die Freude beim Apfel-Wurf, das Aufstrahlen der Schulfenster, das Leuchten im Hof ….“

„Ja, eben, wenn alles passt und klingt und schwingt und leuchtet, dann erlebst du diese herrlichen Augenblicke, die jeder, der dabei war, nicht vergisst. Das ist Epiphanie, doch, das wag´ ich zu sagen, Epiphanie. Ein emotionales Apriori, oftmals gefeiert in Musik und Tanz und Worten der Kunst. Du willst es später unbedingt erzählen, einmal und immer wieder." Er holte Luft: "Das Unzugängliche, hier wird´s …“.

Sein Gesprächspartner unterbrach ihn: „Halt mal die Luft an. Jetzt mal ganz unter uns: FC Barcelona. Sechs Bälle in´s Tor. Magisches Kraftfeld. Die solide Schweizer Zeitung wird flippig. J Punkt, W Punkt, W Punkt, T Punkt, Schiller.“

"Hä?"

"Also ohne Punkt und Komma. Johannes Wenzel Wilhelm Tell.“

„Schiller. Sehr witzig.“

„Witzig? Naja. Gymnasiale Pause, eine Idylle: plötzlich ein Angriff auf den Lehrersohn, un-, aber artgerecht. Blitzschnell gerächt und vergolten: der Apfel rotiert über den Schulhof und trifft den Täter, perfekte Revanche. Auf dem Forum: emotionale Eruptionen ubique, alles flippt aus. Und der alte Johannes Wenzel flippt noch jetzt aus.“

„Na und?“

„Numinosum! Apriori! Gott und Artifex! Fette, alte Wörter machen doch deine Sätze nur fett und alt, nicht gut.“

„Magerkost soll besser sein?“

“Und dein popkultureller Schauplatz mit den drei Schwänen!“

„Ach Gottchen!“

„Ja. Bemühter, gefährlicher Höhenflug. Es droht Bauchlandung aus komischer Fallhöhe.“

„Du übertreibst.“

„Ich korrigiere: Bruchlandung sogar. Hör mal zu. Falls etwas Magisches aufscheint, kann man es nicht objektiv erkennen. Und selbst wenn man es erkennen könnte, kann man es kaum jemand anderem überzeugend mitteilen. Und wenn man es doch versucht, dann wird es eben, nun ja, komisch, vor allem in deiner altväterlichen Ausdrucksweise.“

„Meine Schüler“, der alte Wenzel straffte sich, „meine Jungen und Mädchen haben vor einem Jahrzehnt in der Abiturfeier am Ende einen Song platziert. Standing in the Hall of Fame. Eine Hymne, von einer Gruppe, nannte sich The Script.

You can throw your hands up, you can beat the clock, you can move a mountain. You can break the rocks. You can be a master.


Hier, schau es dir auf dem Bildschirm an, fette, pralle, rührende Lyrik. Kein alter Wein in neuen Schläuchen. Heroischer Pop in jungen Lungen.“

„Sag ich später was zu. Sieh mal auf die Credits: Ist ein William dabei, William Adams. Nennt sich will.i.am.“

„Komisch, gestelzt, pathetisch? Was da gesungen wird, wie da gesungen wird, glaub´ mir, das gehört zu den anthropologischen Konstanten, das findest du in allen Lebensphasen, zu allen Zeiten. Man darf das. Ich darf das. Wir dürfen das.“

Sepiabraunes Bild

Der junge Wenzel schwieg. Der alte Wenzel saß vor dem Bildschirm aus Flüssigkristall und hörte sich atmen. Er glitt weg, in tätige Trance und Entrückung:

Im Computerarchiv fand sich ein Bild des Brückentors am Main. Der Löwenkopf dort! Als kleiner Junge hatte er die Brücke hinter dem Tor zerstört gesehen. Zusammen mit seinem Vater, der ihn an der Hand hielt, war er damals zum Fluss gegangen. Ein grauer, regennasser Tag, Pontons, die im Wasser schwammen. Sein Vater trug den breitkrempigen schwarzen Hut wie ihn manchmal Priester trugen. Wenn Mutter gute Laune hatte, sprach sie ihn mit Hochwürden an. Ein Bagger an der Arbeit, Vorarbeiten für den Wiederaufbau der alten, zerstörten Brücke. An einem Seilzug Wannen, mit denen man den feuchten, schweren Aushub wegtransportierte. Bevor sie heimgingen, verneigten sich Vater und Sohn vor dem Löwenkopf über dem Becken.

Ein zweites Bild hochladen: Johannes mit fünfzehn Jahren, die Haare im Mecki-Bürstenschnitt, ein „Stiftenkopf“. Die Brille, dünne Gläser, dicke Fassung, einmal geklebt beim Optiker Lachnit, 0,5 Dioptrien. Ein Schlupfhemd mit weitem Kragen vom Kaufhaus für Herren- und Knabenbekleidung Oehmann. Unsicherheit, Verlegenheit, Trotz, Fragilität und Zartheit: Das war sie, die komische Erhabenheit der jungen Jahre.

Dann das dritte Bild, komplexer im Motiv: Hohes Mauerwerk unter dem breitbeinigen Brückenturm am Main, im Mauerwerk eine Nische, fast der Ansatz zu einer Halle. In ihr – kaum zu erkennen - ein Wasserbecken und dann: der Löwe. König der Tiere, Beherrscher des Rudels, im Maul ein Rohr spie er das Wasser. Auch im kleinen Hallenbad unter dem Gymnasium fand er sich. Der Löwenkopf ragte dort aus der blauen Kachelwand, spuckte Wasser hinab auf die Schüler im blau-grünen Wasser, in der sechsten Stunde am Freitag auf die Jungen. Und auf die Mädchen in der vierten Stunde am Samstag.

Standing in the hall of fame
And the world's gonna know your name
'Cause you burn with the brightest flame

And the world's gonna know your name
And you'll be on the walls of the hall of fame.


Blau glimmender Monitor. Johannes färbte die Bilder braun ein, dann schob er sie hin und her, neben- und ineinander, bis sie eins wurden. Eine dreigliedrige Collage, eine sepiafarbene Hommage an die Vergangenheit: Sehr groß das Becken mit dem Löwenkopf flankiert von zwei Bildern. Links der breitbeinige Brückenturm und – ganz klein – noch einmal das Löwenbecken. Auf der rechten Seite Johannes, fünfzehn Jahre, Stiftenkopf, Brille. The Famous Master of a Famous Apple Throw.

Er lächelte, hob feierlich grüßend das Weinglas zum Bildschirm. Drama, Erzählung, Lied, Collage, ironisch gefärbtes Helldunkel, Raum und Zeit, der Spagat von Erhabenheit und Komik. Was gab es Schöneres als sich so in aller Unzulänglichkeit gespiegelt zu sehen?


http://up.picr.de/31958434ou.jpg Collage

https://www.youtube.com/watch?v=NH7I79fLiSw Hall of Fame,Song-Text
https://www.youtube.com/watch?v=zNU-k0QoyQs Hall of Fame, Song-Tanz


willi wamser

[jpg]http://up.picr.de/31958434ou.jpg[/jpg]

https://www.youtube.com/watch?v=NH7I79fLiSw
https://www.youtube.com/watch?v=zNU-k0QoyQs

william w

http://up.picr.de/32204110oz.jpg

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Änderungen gegenüber der ersten Fassung, riemsche Anregungen
Ein bisserl Werkstatt, Nachbesserungsversuche


Plot, Makrostruktur

Stärkere Verknüpfung des NZZ-kommentars mit der unwillkürlichen Erinnerung an das Schulhofereignis:
Match gegen alle Wahrscheinlichkeiten, Wunder, magisches Kraftfeld.

Logikverbesserung im Plot hinsichtlich Brille, Sehstärke und erfolgreichem Zielwurf

Deutliche Behandlung von Ambivalenzen: Oszillieren von Größenphantasie, profaner Magie des Schulhofs, unfreiwilliger Komik und reduzierter, aber unverächtlicher Erhabenheit

Mikrostruktur:

Hier sind riemsche Varianten hilfreich, Danke.

Die Eigenheit der flexionslosen Attribuierung ist eher riemsches Erkennungs-Merkmal.

Der etwas altväterliche Ton des Prätextes korrespondiert mit dem Alter des Protagonisten und seiner impliziten über erlebte Rede erzeugten Perspektive, so fungiert auch der Hinweis auf den Computerbildschirm, wo sich die Geschichte zu befinden scheint, und nicht zuletzt auch symptomatisch das Zwie- und Selbstgespräch zwischen Alt- und Jungwenzel vor dem Bildschirm, im Disput.

Trotzdem ist der Text unbedingt offen für riemsche Dynamisierungen. So ist etwa die Jungenperspektive in „- wenn die wüssten - Wurst im Brot statt Käse“ eingefangen, ohne einen Bruch mit dem Umfeldtext.

Ähnlich die Unmittelbarkeit in der Explosionsstelle:
Wumm. Wie aus dem Nichts – eiskalt Explosion. Kopf, Hals und Brille in der detonierenden Wolke glitt Schnee in den Kragen, des Weiteren seinen verlängerten Rücken hinab, so frostig feucht, dass er wütend aufschrie.

Dann auch Abbau des oft bürodeutschen Stiles in Partizipausdrücken oder der syntaktischen Überpräzision bei Beschreibungen.

Danke sehr

willi wamser


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