Stofftiere bringen Glück - Roman/Teil 2

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Pentzw
Kalliope
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Stofftiere bringen Glück - Roman/Teil 2

Beitragvon Pentzw » 28.02.2019, 22:32

Kapitel II – Stofftiere bringen Glück
I. Am Morgen der Entführung

Ich saß ziemlich belämmert da, sah alt aus und war ratlos. Wir saßen in der Küche beim Morgenfrühstück und ich überlegte verzweifelt, was ich meiner Freundin verklickern konnte. Was hatte ich heute nacht um drei Uhr am Fuße der Zimmertreppe von Gina, ihrer Mitbewohnerin, zu tun gehabt? Sie hat mich dort vorgefunden, wie ich mit meinen vier Gliedern auf dem Fußboden herumgekrabbelt bin.
Was hatte ich wohl in Ginas Zimmer verloren?
Der Umstand, dass meine Freundin ein Morgenmuffel war, kam mir zugute und räumte mir Zeit ein, eine Entschuldigung, eine Erklärung zu finden.
Dann brach auch noch die Hölle los, glücklicherweise.
Wie wir da so schweigend am Küchentisch saßen, meine Freundin und ich, kam Gina hereingestürzt und weinte und weinte. Dass Louis ein verbohrter Morgenmuffel ist, war mein Glück. Sie schaute nur verdutzt und verstand wohl nichts, aber ich biss und kaute in meiner Ratlosigkeit an der Unterlippe, um eine plausible Erklärung über und auf das herabstürzende Unwetter zu finden.
„Heute nacht ist jemand in mein Zimmer eingestiegen und... stellt euch das mal vor...“
Ich wusste, was jetzt käme. Nicht nur hatte ich ein missglücktes „Fensterln“ bei Gina veranstaltet, während sie in der Küche saß, sondern Spuren hinterlassen, eindeutige und unübersehbare. Unachtsamerweise hatte ich eines ihrer Stofftiere zerstört. Was blieb mir übrig, als es aus dem Fenster zu werfen?
Denn ich hatte das Stofftier, das ich versehentlich auf dem Bett beschädigt hatte, nachts durch das Fenster auf die Straße geworfen, um jegliche Spuren meines Eindringens zu verwischen und zu beseitigen.
Damit war ich jetzt voll vom Regen in die Traufe geraten. Es lag auf der Hand und wer eins und eins zusammenzählen konnte, vermochte sich seinen Reim darauf zu bilden, dass das Verschwinden des Stofftieres von Gina und mein Verhalten, auf dem Fuße der Wendeltreppe zu Ginas Zimmer auf allen Vieren zu krabbeln, auf einen Besuch in deren Zimmer hinwies.
Aus den Augenwinkeln sah ich aber keine Reaktion meiner Freundin, sie war noch jenseits dieser Welt.
Ginas Gezeter nach zu schließen - ach wie ich ihn über alles vermisse - musste ihr dieses Ding das Wichtigste auf der Welt sein. Das Getue Lieblingsstoff-Tier war natürlich pure Übertreibung, nur darauf zurückzuführen, dass es jetzt weg war.
„Mein Benno, mein Lieblingsstoff-Tier, mein Hund, ist verschwunden.“
„Was? Du sagst, dein Lieblingsstoff-Tier ist Dir ausgebüchst. Meinst du, es hat sich auf die Beine gemacht und ist einfach so losgezogen?“
Diese Frauen verstanden einfach keinen Spaß, sonst hätten sie mitgelacht.
Ich erntete einen missbilligenden Blick von Louis. Noch war er halbherzig erfolgt, noch ohne Kraft und Saft, damit noch nicht tödlich, rieb sie sich doch noch den Schlaf aus den Augen. Aber Gina griff doch meinen krepierten Witz auf.
„Mir ist nicht zum Lachen zumute. Da ist jemand in mein Zimmer eingedrungen und hat Benno entführt.“
„Mach mal einen Punkt. Ein Einbrecher hat es doch eher auf Wertgegenstände wie Schmuck, Bargeld und Kunstgegenstände abgesehen, aber nicht auf so ein Stofftier.“
„Vielleicht ist der Dieb zunächst wirklich mit dieser Absicht in Ginas Zimmer eingedrungen. Als er nichts fand, hat er aus Rache den Hund mitgenommen“, meinte Louis dazu. Da sie sich immer noch in ihrer Traumwelt aufhielt, rührte ich den Teig weiter an. „Oder als Souvenir?“
„Das finde ich etwas übertrieben.“
Frauen haben einfach keinen Sinn für Humor.
„Aber möglich ist es doch!“
„Ja, möglich ist fast alles auf dieser Welt. Aber nicht besonders wahrscheinlich.“
„Na, vielleicht hat er selber ein Kind zuhause und hat gedacht, wenn ich schon nicht auf Verwertbares, Geldmäßiges gestoßen bin, dann könnte vielleicht doch als Trost so ein Stofftier gute Dienste leisten und ich es meinem Mädchen oder Jungen geben. Wenn er das Stofftier mitnimmt, spart er sich den Kauf. Das wäre für einen solchen armen Schuft ein gefundenes Fressen.“.
„Der Fuchs und die saueren Trauben!“
„So ungefähr!“, meinte die Phantasiebegabte.
Gina verlor darüber jetzt völlig die Nerven.
“Ich rufe die Bullen an. Die soll den Fall aufklären.“ Sie wandte sich bereits um.
Das musste verhindert werden! Man stelle sich dies vor: „Ich muss eine Entführung melden. Mein Stofftier wurde geraubt.“ Was würde die Polizei denken? Sie würde sie sofort in die Geschlossene, Klapsmühle und in die Hupsala stecken. Jeder Psychiater würde feststellen müssen, Delirium tremens, Verfolgungswahn im Folge fortgeschrittenen Alkoholismus.
„Willst Du ihnen ernsthaft sagen: Jemand hat meinen Benno entführt?“
„Natürlich, stimmt ja auch.“
Sie war bereits an der Tür. Gina befand sich auch in einer Traumwelt. Aber sie wenigstens musste schnellstens auf den Boden der Realität zurückgeholt werden.
„Dann warte lieber Mal, bis die Entführer mit der Lösegeldforderung auf Dich zukommen.“ Was Besseres fiel mir nicht ein. Zum Glück nahm sie zunächst diese Aussage für bare Münze. Und gab ihr wieder den Rest.
„Mein Benno, ich fasse es nicht!“ Und sie brach wieder in Tränen aus. Dabei schlug sie die Hände über die Augenhöhlen. Das war doch krank, grenzwertig, kaum zu fassen. Ob wohl hier in den Räumen Kameras versteckt waren, die das jetzt in alle Welt hinaustrugen, gleich einem Schnulzenfilm im TV, nur in Echtzeit?
Mir kam die Lösung, eine Erleuchtung, ein Ausweg aus meinem lastenden Problem. „Aber jemand war da. Ich habe nämlich Geräusche gehört heute Nacht. Deshalb bin ich aufgestanden, die Treppe zu deinem Zimmer hochgekrabbelt und habe in deinem Zimmer nachgesehen.“
Damit hatte ich mein dubioses Verhalten des Nachts gerechtfertigt. Mir fiel ein Stein vom Herzen.
Ein Aha von Gina erfolgte. Louis grunzte etwas.
„Aber da war niemand drinnen. Vielmehr niemand mehr, wie’s aussah.“
Meine Freundin schaute mich so an, als ginge ihr ein Licht auf. Na, ich war mit dieser Erklärung aus dem Schneider. Mich hatte ein Eindringling in das Boudoir von Gina gelockt, als ich wieder herunterkam, hatte mich meine Freundin gesehen und entdeckt.
Das bewies, dass jemand in Ginas Raum gewesen ist.
Ich hatte eine einleuchtende Erklärung geliefert, weswegen ich aus Ginas Bereich gekommen war und mich Louis auf dem Boden liegend entdeckt hatte. Dass ich über Gina herfallen wollte, war damit kaschiert, vom Tisch, verschwundikus.
„Aber wie ist er wieder hinausgelangt?“
Oje, ich hatte die Fenster verschlossen und die Jalousie heruntergelassen.
„Nun, bestimmt so wie er hereingekommen ist. Durch die Haustür, die Treppe zum ersten Stock hinauf, eine weitere zu Ginas Zimmer hoch und das wieder retour. Mann, der hatte aber Glück gehabt, dass er nicht ertappt worden ist.“
Das schien meine beiden Freundinnen nicht gerade zu überzeugen. Na klar, wahrscheinlich war es nicht, dass jemand vergessen hatte, die Wohnungstür zuzuziehen und zu verriegeln, man brauchte sie nicht einmal abschließen.
Ich drückte erst einmal auf die Angstdrüse.
„Hast zudem Glück gehabt, dass Du in dem Moment in der Küche gesessen warst, als er einbrach, nicht Gina? Stell Dir vor, der wäre in Dein Zimmer hineingekommen, als Du im Bett gelegen wärst.“
Ginas Mund stand offen. „Nicht auszudenken!“
Eben, das müsste die Hitze der Sache dämpfen, den Druck ablassen, den Verdacht von mir ablenken durch die Freude darüber, die sie jetzt empfand, einer sehr, sehr gefährlichen Situation noch einmal entronnen zu sein.
„Aber gleich die Polizei anrufen, ist nicht gut. Warte noch ein bisschen...“
Gina hörte meist auf den Rat von Louis, aber diesesmal nicht, denn sie ging stracks zum Telefon nach oben und rief genau diejenigen, welche an. Sofort schossen mir die Schweißperlen auf die Stirn.
Ob ich Spuren im Bett von Gina hinterlassen habe?
Aber natürlich!
Bei den Methoden, die der Polizei mittlerweile zur Verfügung stehen, würde ich als Täter schnell und eindeutig entlarvt sein. Na ja, kein Schwerverbrechen, aber die Beziehung zu meiner Freundin wäre in den Wind geschossen, würde sie sich doch fragen, was ich im Bett Ginas zu suchen hatte und ihre Schlüsse ziehen, dumm war sie nicht.
Dann beruhigte ich mich wieder, als mein Verstand einsetzte.
Die Polizei wird Besseres zu tun haben, als für das Verschwinden eines Stofftieres so viel Aufmerksamkeit, Mittel und Wege einzusetzen, dass sie Spuren im Bett nachgehen würde, Haare, Schuppen, Samenstränge, weiß der Geier was. Sie wird ein Protokoll aufnehmen, wenn sie’s überhaupt tat und diesen Vorfall nicht ernst nehmen, mit der Achsel zucken, verschmitzt lächeln, sich perplex in die Augen schauen, wenn es als zwei Polypen waren, die sich mit diesem Fall beschäftigten und die Akte beiseite legen. Mann, die Polizei ist doch gegenwärtig voll überbeschäftigt, nach der Flüchtlingswelle und dem neuen bayerischen Polizeiaufgabengesetz.
Andererseits, wenn sie mir auf die Schliche käme, was würden sie denn für eine Strafe vorsehen?
Mein Adrenalinspiegel schnellte abrupt in die Höhe.
Ich versuchte meinen Verstand wieder einzuschalten und schlussfolgerte, der Versuch, ein entkommenes Stofftier einzufangen, wird ins Leere laufen...

II. Die Polizei muss geholt werden!

Gina kam mit dem Telefon in die Küche, hatte die Freisprechtaste eingeschaltet, so dass man den Wahlton laut hörte. Sie wollte offenbar Zeugen haben. Meine Freundin und ich schauten uns fragend an: „Was das noch geben wird?“
„Ja, hier Polizei!“
„Ja, hier Gina. Ich muss den Verlust eines Hundes melden.“
„Name. Seit wann? Aussehen...“
„Name Benno, seit heute Nacht, braun-grau.“
„Rasse.“
„Äh, Phantasierasse.“
„Wie bitte? Eine Mischung.“
„Kann man so sagen.“
„Von was!“
„Äh, das kann ich nicht sagen. Der Designer hat eine gute Phantasie gehabt und so ziemlich alles eingemischt.“
„Sind Sie betrunken?“
„Nur ein bisschen“, gab sie noch ehrlicherweise zu.
„Mann, verschwenden Sie nicht unsere Zeit...“
„Aber wirklich, Polizist. Erstens bin ich eine Frau, damit Sie das wissen. Und zweitens, mein Hund ist heutnacht aus meinem Bett gestohlen worden. Oder meinen Sie, der ist freiwillig davongelaufen?“
„Möglich ist alles!“
„Sie beleidigen mich! Ich liebe meinen Hund über alles und würde für ihn sogar verhungern! Der würde mich deshalb niemals verlassen, nicht freiwillig, Hundertprozent.“
„Also, okay Miss. Wir schicken nachmittags einen Beamten vorbei!”
„Das würde ich Ihnen auch geraten haben, äh.“
„Wie bitte! Wiederholen Sie noch einmal, was Sie eben gesagt haben!“
„Das beruhigt mich ungeheuer, dass sich die Polizei einschaltet, die Ermittlung durchführt. Jedenfalls bin ich schon erleichtert, dass Sie sich um meinen Hund kümmern!“
„Äh, selbstverständlich!“
Und Klacken.
Meine Freundin und ich schauten uns wieder in die Augen.
Ich erlaubte mir doch Kritik an der Polizei zu üben. „Die hätten sofort kommen müssen, finde ich!“ „Wer weiß, wie lange die Lebensdauer einer genetischen Spur wohl beträgt?“
Ich hoffte, Gina dachte dabei nicht gerade an Spermien.
„Hä?“ So musste ich leider mit der Wahrheit herausrücken.
„Na, Haare, Spermien, Pusteln...“ Weiter kam ich nicht, denn Gina wurde es hundeelend zumute bei der Vorstellung, ihr Kuscheltier sei vergewaltigt worden und sie bekam einen Weinkrampf. Das tat mir natürlich leid.
„Also, das hättest Du nicht erwähnen müssen...“
Sie hatte auf etwas, was ich gesagt habe, reagiert, was zunächst für sich positiv war und ein Zeichen, dass sie allmählich vom Traum auf den Boden der Tatsachen oder der Welt zurückkehrte, auch wenn es sich um eine Rüge handelte. Wurde auch allmählich Zeit.
Aber Gina war untröstlich und nicht mehr zu halten, kurzum drehte völlig durch.
„Jetzt reicht es mir. Wer kann es mir verdenken, bei dieser Art von Polizei, dass man da zum Alkoholiker wird...“
Ich ergänzte: „Besser bleibt.“
Gina schaute mich angesichts dieser neunmalklugen Bemerkung schief an, aber nur einen kurzen Moment, denn sie fing sich wieder schnell: „Genau, bleibt. Ich hol mir einen Flachmann.“ Meine Freundin war gerade dabei, Protest und Warnung einzulegen, aber es war zu spät. Gina wirbelte wie der weiße Wirbelwind aus dem Haus, setzte sich gekonnt wie ein Cowboy auf den Sattel ihres Fahrrades und strampelte wütend los, Richtung Kiosk, Richtung Tankstelle, Richtung Discounter, einer Schnapsbude, wo immer Alkohol angeboten wurde.
Ich atmete auf. Ich war gerettet.
Nur, wo war das Stofftier „Benno“, der Hund, hin verschwunden?
Nun aber setzte mich meine Freundin unter Druck. „Das können wir so nicht stehen lassen, Mann. Die Polizei muss sofort herkommen, irgendetwas unternehmen, zumindest sich den Tatort anschauen.“
„Ähm, ich weiß nicht!“
Aber sie war jetzt pikiert, weil ich zu weit gegangen war und schloss aus ihrer Anklage, dass die Polizei sofort zu kommen hatte. Das überraschte mich völlig.
„Und ich finde, D u solltest bei der Polizei anrufen!“
„Warum ich?“
„Zum einen, weil Du Gina aus dem Konzept gebracht hast.“
„Ich geb’s ja zu“, räumte ich ein.
Etwas zugeben und daraus Konsequenzen zu einem bestimmten Handeln zu ziehen, war bei unserer Art des Umgangs zwei paar Stiefel. Im Gegenteil! Ein vages Schuldeingeständnis zu machen, verminderte die Wahrscheinlichkeit, dass sich daraus Folgerungen ergaben, gar Konsequenz in Handlung manifestierte.
„Zum anderen, weil Du als Mann mehr Autorität verkörperst. Du kannst überzeugender auftreten, rüberkommen und darstellen, dass es für alle Be igten eine Gefahr bedeutet, wenn jemand in die Wohnung, das Zimmer einer schwachen Frau eingedrungen ist, auch wenn er letztlich nur ein Kuscheltier entwendet hat und niemand ernsthaft an Körper und Gegenständen zu Schaden gekommen ist. (Sie war wach, eindeutig.) Umso gefährlicher. Das kann ein Psychopath sein, ein total Verrückter, nicht nur ein Liebhaber Ginas, wie sie vielleicht glaubt. Mann, da muss die Polizei sofort vorbeischauen, Protokoll aufnehmen, etwas tun, wenn auch nur...“
„Ich versteh Dich!“, sagte ich, obwohl mir nicht wohl dabei war, den Behörden Druck zu machen. Und alles lag schon im Grünen Bereich. Soll die Polizei sofort kommen, sie würden schon keine Spuren von mir entdecken, nein, das glaubte ich nicht. Oder?
Ich befand mich in einer Zwickmühle. Weigerte ich mich, würde mein Verhalten in ein verdächtiges Licht geraten. So aber, wenn ich was tat, entlastete ich mich letztlich.
Das gab den Ausschlag! Beiße in den saueren Apfel, um von dir abzulenken.
Ich warf all meine Überzeugungskraft in die Waagschale und siehe da, ein Mann hat doch mehr Chancen bei der Polizei als eine Frau, oder eine, die nur Rotz und Wasser heult, so gesehen.
Jedenfalls erklärte der Polizeisprecher am Telefon seine Bereitschaft, mal doch gleich einen Beamten vorbeizuschicken. Vielleicht beabsichtigten sie auch etwas anderes, als nach dem Täter zu suchen? Dachten, vielleicht waren die nicht ganz sauber da in diesem alten Haus, wir kennen es ja, aber schauen wir einmal Haus vorbei, bei den Mitbewohnern deutet vieles darauf hin, dass die nicht ganz dicht, äh, irgendwie komisch waren - oder was hätten Sie gedacht, wenn Menschen behaupteten, ein Stoffhund wäre entführt worden, mitten aus einer Wohnung heraus, die sich im ersten Stock befand? Und die Besitzerin war nicht Frau Rothschild, Frau Schickedanz oder sonst eine Millionärin?
Gebärdete sich aber nichtsdestotrotz wie selbige, wenn nicht schlimmer.

III. Ermittlungen

Es klingelte. Ich befand mich gerade in der Küche und öffnete die Flurtür. Vor mir stand ein Polizist in seiner ganzen Pracht und Herrlichkeit, wenn man so sagen kann.
„Sie kommen wegen des entführten Hundes?“
„Jawohl!“
„Einen Moment. Ich hole die Besitzerin.“ Die schwere Eingangsholztür wurde von mir zu einem Spalt zurückgeschoben, bevor ich mich umdrehte und die Treppe erklomm, um nach Gina zu suchen.
Als ich wieder die Treppe hinunterging, um in der Küche weiter zu werkeln, befremdete mich der Anblick des Polizisten, der sich schon unten im Flur befand und sich mit misstrauisch-kennerischen Blick umschaute, sich einen Eindruck von dem obskuren Anblick der Räumlichkeiten zu machen.
War es nicht Unhöflichkeit einzutreten, ohne darum Erlaubnis ersucht zu haben? Oder Erlaubnis erteiltt bekommen zu haben?
Man darf nicht vergessen, dass es sich hier um einen Polizisten handelt.
Aber deckte dieses Verhalten seinen quasi hohheitsrechtlichen Auftrag?
Seh es pragmatisch, dachte ich mir. Wahrscheinlich nutzte er einfach die tote Zeit, als ich nach Gina schaute, um sich einen Eindruck vom Tatort und sein weiteres Umfeld zu verschaffen.
Genau, nur so war sein Verhalten zu interpretieren, wohlwollend gesehen.
Außerdem war ich ohnehin hier nur zu Gast und ich befand mich nicht in meinen eigenen vier Wänden, nicht wahr?
„Hier muss er eingedrungen sein. Weil das Fenster in meinem Zimmer war ja verschlossen.“ Gina deutete auf die schwere Eingangstür aus Holz vom vorigen Jahrhundert, der fast historischen, museumswerten, alten Bauerntür, mit einem rostigen Mammutschloss mit Riegel versehen, das, wenn er zugeschoben war, nur mit Hilfe von Sprengstoff zu öffnen war.
„Wahrscheinlich war sie nicht verschlossen, ja! Und eine von uns, eine Mitbewohnerin hat vergessen, wie jeden Abend zu verriegeln. Weil wir machen das immer. Ich schwöre.“ Gina hob überflüssigerweise zwei Schwurfinger.
„Da sind drei junge, hübsche Frauen hinter dieser Tür und sie ist nicht verschlossen!“, sagte der Polizist, um dieses wahnsinnige, leichtsinnige Verhalten ins Feld zu führen. Seine Bemerkung war absolut ordnungsgemäß.
„Obwohl, ich glaube mich zu erinnern, dass ich sie an diesem Abend...“
Der Polizist ergänzte, wobei er die Stirn kräuselte: „Gestrigen Abend.“
„Genau, es war gestern. Also, dass ich sie gestern verschlossen habe.“
Das war alles sehr merkwürdig. Wie sehr konnte man sich auf diese Zeugenaussage verlassen? War sie wirklich zugesperrt, musste der Einbrecher durch die Fenster gekommen sein.
Dann aber...
Folgerichtig schlug er vor: „Kann ich einmal den Tatort inspizieren!“
„Sie meinen mein Zimmer, mein Schlaf- und Wohnzimmer. Äh!“
„Genau, der Ort, wo der Hund entführt worden ist.“ Normalerweise wird ein Hund entführt, fortgeführt, aber einer aus Stoff wurde natürlich entwendet, ganz widerstandslos wie er war.
Er hatte ja noch keine Ahnung von der Wahrheit.
„Aberrrr natürrrrlich! Folgen Sie mirrrr bitte, Herrrrr Polizist!“
Nun schnarrte Gina wieder wie eine Ente, ein Ton, den Schauspieler verfremdend aus ihrem Mundwerk ließen, um Kindern eine sprechende Ente vorzugaukeln. Ob der Polizist dabei auch an eine Ente dachte? Gina schien mittlerweile an der Sache, der Untersuchung, der Ermittlung, der Untersuchung des Tatortes richtig Spaß zu haben. Besonders ernst schien sie die Sache nicht mehr zu nehmen.
Sie ging die Treppe hinauf in den ersten Stock, gefolgt vom Polizisten in blauer, akkurater Uniform, sowie vor mir. Ich fand auch daran gefallen, aber eher so schummrig-schaurig-unheimliches. Wer weiß, ob sie mich entlarven würden? Interessant würde es andererseits werden, welche obskuren Tatmotive und Tathergänge sie sich ausmalten, um das Verschwinden des Stofftieres erklären zu können. Vor allem das Täterprofil würde höchstinteressant ausfallen. Wenn jemand von einer Frau deren Lieblings- und Schoßhündchen klaute, war er ein Perversling, Perverser, ein Stalker oder ein hoffnungslos Verschossener oder noch etwas Schlimmeres, Unausdenkliches, Noch-nie-Dagewesenes?
Ich fand mein aufdringliches Verhalten nicht verdächtig. Bei einem derartigen hochoffiziellen, hochwichtigem Vorfall war das durchaus angebracht, zielführend und legitim, dass ein Dritter wie ich dabei war. Eventuell könnte ich wichtige Hinweise liefern, wer weiß, welche Fragen auftauchten? Da ich der Täter war, fand ich, wäre es ganz sinnvoll, mich, wenn es brenzlig würde, im Falle der Untersuchungsbeamte verdächtigte und stieß auf mich, worauf er nicht stoßen sollte, da es zum wahren Täter führte, einzuschalten, um von dem genauen Tathergang abzulenken und die Fährte nach irgendwo sonstwohin als zu mir zu lenken.
Poster an der Wand: Weiße Schwäne drehten auf der Oberfläche eines Sees ihre Kreise, im Hintergrund des Horizonts überblickte ein großen Frauenantlitz dieses Szenario, mit weit aufgerissenen Augen auf diese Unschulds-Tiere blickend, wobei sich ihre sehr weiße Gesichthaut gegenüber dem sehr schrillen Lippenstift-Rot abhob und in ihrem psychedelischen Touch, Fluidum und Aura den Eindruck einer Kifferin, Morgenland-Fahrerin, Buddhistin, Asketin (Eindruck täuschend) hervorrief.
Diverser Klimbim aus dem Orient war hier und dort platziert: eine indisch-orientalische Elefanten-Plastik mit riesigem von Menschen besetzten Tragekorb, aber auch eine langhalsige Giraffe aus Afrika, unzählige abgebrannte Räucherstäbchen hier und dort – kurzum, etwas Unaufgeräumtes, wenig Ordnungsliebendes haftete dem Zimmer an.
Am Überwältigsten in diesem Raum waren aber die Berge von Stofftieren, die sich auf dem Doppelbett türmten oder in eine Zimmerecke geworfen und gestopft worden waren. Ich fragte mich da, ob sich der Aufwand und die Aufregung angesichts genügend anderer Knuddelobjekte wegen eines, zudem auch noch Hundes, lohnte? Aber das sag mal einer Stofftier-Besitzerin, einer Stofftier-Besessenen, einer Stofftier-Fetischistin!
Ich ließ es mir nicht nehmen, überall mitzuschauen und nehmend zu beobachten. Dabei versetzte ich mich in die Welt des Polizisten. Mir dünkte, er verzog die Nase, innerlich. Das war hier ein Kiffernest und er war wahrscheinlich ein Bierfan, ganz angepasst und einheimisch. Also, was dachte er wohl über Gina? Führte ihn nur kriminaltechnische Absicht hierher oder meinte er, er stieße hier in ein Wespennest?
„Wie sah denn ihr Hund aus?“, kam endlich die nahelegende Frage.
„Ah, weiß-braun, so ungefähr.“
„Hatte er lange oder kurze Haare, lange oder kurze Ohren.“
„Haare wie der Bär dort.“
Gina deutete auf ihren großen braunen Bären.
„Sie meinen so lange wie die Haare des Bären dort.“
„Auch, aber unbedingt auch so weiche, zottelige, kurzum fast gleiche Haare wie der Bär.“
„Nur mit dem Unterschied, dass sie nicht aus Stoff waren, nicht wahr!“ Das war wohl eine witzige Bemerkung, oder sollte es sein, da jedoch, wenn eine Aussage zu nahe an die Realität heranreicht wie diese, kein Witz mehr ist, krepierte dieser vermeintliche bereits im Ansatz. Aber das konnte der Witzereißer und -macher gar nicht wissen.
Gina beugte sich mit den Knien aufs Bett, streichelte ihren Bären und sagte zum Ermittler. „Nehmen Sie ruhig auch einmal Tuchfühlung, damit sie, wenn Sie meinen Benno finden, ihn nicht verwechseln und eindeutig identifizieren können.“
Er streichelte über das Fell, wobei es dem Polizisten schon etwas komisch ankam. Sein Mund verkleinerte, verzog und veränderte sich zu Schmäle und Dünnlippigkeit. Diese Frau mit ihrer schnarrenden Stimme – war er hier in ein Kinderhörspiel hineingezogen worden? Und schließlich musste man den Eindruck bekommen, der Hund war gar kein Hund, sondern so ein Tier wie der Bär. Und der war aus Stoff! Hm!
„Hoffentlich bürstet der gemeine Entführer meinen Benno auch jeden Tag. Hoffentlich hat er ein einigermaßen sauberen, staubfreien Platz für ihn. Mein Benno ist ein richtiger Staubfänger nämlich.“
In dem Polizisten musste allmählich doch ein erschreckender Verdacht aufkeimen, denn er fragte lächelnd und lachend, wiederum ein Witz, der keiner war: „Benno ist wohl auch so ein empfindliches Tierchen wie der Bär!“
„Sie haben es erfasst. Noch empfindlicher nämlich. Den Bär muss ich nur alle Woche einmal bürsten, aber Benno alle drei Tage.“
Dem Polizisten kam nun doch eine Ahnung. Bevor er überschnappte, ging er aufs Ganze: „Aha, ein Stoffhund.“
„Genau!“
„Ein Stofftier also!!!“ Jetzt hatte er endlich kapiert, was sich durch die erhöhte Lautstärke verdeutlichte.
„Genau Mann, Benno, mein Kuschel-Stoffhund. Lebensalter 8 Jahre, Rasse unbekannt, aber treu und anhänglich und...“
„Sie wissen hoffentlich, was es bedeutet und welche Konsequenzen das nach sich zieht, wenn man die Polizei auf den Arm nimmt.“
„Ja. Aber keine Angst, Herr Polizist, auf den Arm nehme ich nur, ich betone, nur meinen Benno.“
„Den Stoffhund!“, ergänzte der Polizist genervt.
„Sie haben es erfasst, Herr Polizist.“
Jetzt schnappte der Polizist hilfesuchend nach Luft.
„Also, gnädiges Fräulein, wenn Sie mich auf den Arm nehmen wollen...“
Dass dieser Mensch, da er sich als Autoritätsperson produzierte, verwirrt war und nun auf seinem hohen Podestg der Unantastbarkeit schwankte, verleitete Gina zu einem Ton, den sie selten anschlug, aber wagemutig wie sie jetzt war, was sie kaum je war, aber weil sie einem im Grunde Verhassten etwas zuleide tun konnte, wenn auch nur, ihn einen bisschen schwanken zu sehen auf seinem hohen Roß, sagte sie etwas, was mir im ersten Moment den Atem verschlug.
„Papperlappapp. Ich will Ihnen bestimmt keinen Bären aufbinden.“ Über diese gelungene Formulierung mussten Gina und ich lachen. Beim Polizisten kam sie nicht so gut an. Aber wahrscheinlich wegen des Papperlappapps.
„Also, jetzt mal im Ernst. Wir müssen also von einem Eindringling ausgehen, der in eine fremde Wohnung eingedrungen war und einen Stoffhund entwendet hat. Kein Geld, kein Schmuck, kein sonstiger Wertgegenstand.“
Einstimmig sagten Gina und ich: „Jawohl!“
Der Polizist musste erneut tief ein- und ausatmen.
„Und warum sollte dies jemand tun? Aus Gold war der Hund nicht, oder?“
„Nein.“
„Also, warum.“
„Das müssten Sie doch rausfinden, Herr Polizist.“
Wieder schnaufte er aus.
„Nun, vielleicht war es die Kurzschluss- oder Zwangshandlung eines verschmähten Liebhabers, der das Tier in fetischistischer Absicht und Neigung mitgenommen hat, nachdem er sein begehrtes Liebesobjekt nicht in ihrem Zimmer vorgefunden hat.“ Damit beabsichtigte ich, die Situation zu entschärfen, wie es insgeheim meine „Pflicht“ war angesichts dessen, dass ich die Schuld daran hatte, auch wenn es keiner wusste und so hatte ich versucht zu beschwichtigen.
„Denn ich war nachts ein paar Stunden in der Küche gesessen, weil manchmal...“, ergänzte Gina.
„Oder jemand wollte Gina nur einen Streich spielen. Sie ärgern, was weiß ich, welche unzähligen Motive es da schon gibt“, unterbrach ich sie, weil ich glaubte, dass die Ursachen ihrer Schlaflosigkeit wenig zur Lösung dieses Falles beitragen würde.
„Ein Lausbubenstreich sozusagen!“
„Möglich!“
„Ich wüsste auch schon jemanden, der für dieses Motiv in Frage kommt. In meiner Arbeit...“
Der Polizist schnaubte wie ein Ackergaul.
„Oder...“, ich erlaubte mir, eine weitere Fährte zu legen. „Einer der Anstreicher, der Maler, der Verputzer dort!“ Ich überschlug mich fast über die Begeisterung meiner Idee jetzt und zeigte zum Haus gegenüber, das die letzten Wochen gestrichen wurde. „Gina, war da nicht so ein Malergeselle, der immer wieder heimlich und offen zu Dir herübergeschaut hat?“
„Genau!“
„Und, ist er nicht sogar bis an unsere Häuserfassade herangekommen, um einen besseren Blick durchs Fenster in die Küche zu werfen?“
„Genau!“
Die Malerarbeiten wurden mit einem Hausgerüst bewerkstelligt.
„Dann konnte er zum Beispiel auch vom Gerüst dort rüber durchs Fenster zu uns hereingesprungen, äh, geklettert sein.“ Die Gasse, in der wir uns hier befinden, macht zwar seinem Namen Ehre, sprich ist schon eng, aber ein Sprung herüber war doch sehr, sehr gewagt. Aber man unterschätze die Handwerker nicht, die doch Wunder verbringen können, wie man auch so sagt, glaube ich.
Aber der Polizist schloss sich dennoch der ersteren bedenklichen, die kühne Vermutung, um nicht abstruse Vorstellung negierende an.
„Na, vielleicht hat er ganz einfach eine Leiter genommen, herübergeklappt und ist darüber hinweggeklettert in mein Zimmer herein.“ Dies war in seiner Schlichtheit hinwiederum verblüffend möglich, nicht wahr?
„Hm. Und das nachts, wie Sie sagten.“
„Ja, warum nicht?“
„Aber dort drüben ist ein Sisha-Bar, da stehen die Jugendlichen immer vor der Tür herum, reden, unterhalten sich und rauchen Zigaretten. Die müssten doch etwas wahrgenommen haben.“
„Aber es war ja Nacht.
„Ein Stalker, ein Belästiger, ein Aufdringling ist dieser, Herr Polizist!“, setzte ich begeistert hinzu.
„Also, das führt uns zu nichts.“
„Aber Herr Polizist, Sie müssen in alle Richtungen ermitteln!“ Dies ein Ausdruck, ich weiß es, der in solchen Fällen tagtäglich und zwangsläufig von der Polizei in den Medien verkündet wird. Nur diesem auch stand er zu. Aber was tut man nicht alles, um Menschen zu nerven? Zumal in meiner Lage?
Der Polizist, der jetzt die Geduld zu verlieren schien, unterbrach jegliche weitere Spekulationen und, um die Sache abzuschließen, sagte, dass er gleich im Präsidium ein Protokoll auffassen täte, ja, die Ermittlungen aufnehmen, vorantreiben, forcieren und auch, ein tiefer Seufzer entrang seiner Kehle, in jede erdenkliche Richtung, und bitte, Gina solle in einer Woche bei ihm im Präsidium nach dem Stand derselbigen nachzusuchen und deswegen unbedingt selbst in persona dort erscheinen. Das betonte er richtig. Ich atmete bei diesem vorläufigen Ende der Ermittlung, bei der ich merklich Erleichterung verspürte, tief aus, vor allem deswegen, dass diese nichts Greifbares ergeben hatte. Der Ermittler musste ergebnislos von dannen ziehen, hurra, Gina einmal so in einer Woche bei der Hauptwache vorbeischauen, prima. Für mich klang das eher so, daß der Polizist in weitere Untersuchungen keinen Sinn mehr sah und überhaupt keinen Finger mehr rühren würde. Wer kann es ihm verdenken?
Na denn, Gina, viel Spaß bei der Polizei nächste Woche!

Copyright Werner Pentz

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Die Polizei muss ermitteln

Beitragvon Pentzw » 21.03.2019, 21:50

IV. Ein Stofftier bringt Liebe

Was ist mit dem Stofftier geschehen?
Es ist nicht Pu, der Bär und Rammler, der Hase, sondern Benno, der Hund...
Wo halten sich meistens Hunde auf? Natürlich auf der Straße.
„Oh, was ist denn das für ein schönes Tier!“ Der kleine Junge beugt sich auf dem Fußgängerweg über das Stofftier, dessen Kopf an ihm herunterhängt. Er selbst hängt an der Hand seiner Mutter, die ihn versucht davon wegzuzerren. „Puh, komm, das ist dreckig.“ Schon hat sich der Junge von der klammernden Hand der Mutter befreit und hebt das mitleidserregende Tier auf. „Mutti, schau mal, das ist ein Hund!“ „Ja, wirklich! Aber der Kopf hängt ihm weg. „Mutti, ich nimm ihn mit nach Hause!“ „Aber das geht doch nicht!“
„Das geht schon. Ich kann ihm den Kopf annähen, dann ist er wieder ganz und neu!“, sagt der Opa, der mit einer ledernen, braunen, verschließenen Schürze auf der Schwelle seines Ladens steht. Über ihm prangt ein Schild: „Opa’s Änderungsschneiderei“, über die Fensterauslage steht quer: „Änderungen von Kleidungen aller Art – schnell, preiswert, sauber.“
„Ich bin Schneider, ich näh den Hund zusammen. Er wird wieder wie neu sein. Kein Problem!“
„Ja, Mutti, kann ich ihn dann haben und mit nach Hause nehmen?“
„Aber Junge, ich kauf Dir einen neuen. Dort unten ist ein Geschäft, da gibt es viele, viele Stofftiere. Da darfst Du Dir einen aussuchen, komm!“ Lieber ein sauberes, teueres, neues als dreckiges, gebrauchte, verschlissenes Stofftier, denkt die Mutter. In ihre Wohnung kommt kein fremder, gebrauchter Gegenstand wie so ein Schmuddeltier. Wer weiß, durch wie viele tausend Hände und Arme er schon gegangen ist.
Der Opa wendet sich mitleid- und verständnisheischend an die Mutter: „Wirklich, in einer Stunde habe ich ihn zusammengeflickt. Das ist nicht schwierig.“ „Aber ist doch schmutzig!“ „Ach richtig. Ich geb ihn meinem Argadasch, meinen Freund.“ Dabei zeigt er zum übernächsten Laden in dieser Häuserzeile, ein Waschsalon.
„Mein Freund, der Waschmann, wird den Hund waschen. Er steckt ihn in eine Waschtrommel. Glauben Sie mir, ich mach das schon. – Dann kommen Sie morgen und fertig ist das Tier. Wie neu!“
Die Mutter ist über so viel Großzügigkeit geschmeichelt. Eigentlich will sie dieses Stoffmonster unter keinen Umständen in ihrer Wohnung haben. Es aber zunächst in die Verantwortung des Opas zu geben, war jetzt erst einmal wichtig und ein strategischer Vorteil. Denn der Junge klammerte sich regelrecht an das Tier und wollte es überhaupt nicht mehr hergeben. Die Mutter ergriff das Wort: „Na gut! Also, mein Junge. Du hast gehört. Gib Hund Opa, morgen ist er frisch gewaschen und der Kopf wieder angenäht.“ Da Mutter und Opa derartig freundlich und liebenswürdig strahlen, kapiert der Junge, wiewohl die Worte und den Zusammenhang nicht ganz verstanden, dass es gut gemeint ist, sein Fund nur vorübergehend abgenommen wird und er es bald wieder in seinen Armen halten kann.
„Glaub mir, mein Junge. Morgen hast Du den Hund samt Kopf. Kopf ist wieder angenäht“, beschwichtigt ihn noch einmal der leutselige, kinderfreundliche Opa mit den vielen Leberflecken auf dem großen, kahlen Schädel.
„Nach dem Einkaufen kommen wir vorbei, morgen, zur selben Stunde etwa!“, verspricht die Mutter.
„Ja, machen sie das!“ Und der Opa strahlt dabei zuversichtlich, streichelt dem Buben liebevoll von seiner Schwelle herab über den Kopf. „Und du hast einen neuen Spielkameraden.“
Die Mutter nimmt den Jungen an der Hand und schickt sich an, schnell weiter zu gehen, um ihre Besorgungen zu erledigen, während das Anhängsel die Straße hinunter gen Marktplatz freudig hüpft. Opa geht sofort zum Nachbarsladen mit dem Hund, dessen Kopf an ein paar Fäden schlaff herunterhängt. Ein glücklicher Umstand, dass der Kopf extra auf den Rumpf aufgenäht worden ist.

Am nächsten Tag erscheinen Mutter und Kind aber nicht in Opas Laden. Mutter ist überhaupt nicht angetan davon, ein fremdes Stoffmonster in ihre sauber, ordentlich und tipptopp gehaltene Wohnung zu lassen, auch wenn es zuvor durch eine Waschmaschine gegangen ist. Wer weiß, welche Viecher, Insekten, Parasiten, Bazillen, Viren, Spinnen, Skorpione noch darinnen verborgen sein mochten, resistent, starr und nicht wegzukriegen?
Sie kann ihren Sohn noch einmal ablenken, da es an diesem Tag zum Geburtstagsfeiern geht. Der hat danach sein neues Spielzeug wirklich vergessen. Die Mutter gleichfalls. Jedenfalls erinnert sie ihn nicht an ihn. Leider macht sie am übernächsten Tag den Fehler, dass sie gedanken- und ahnungslos wieder mit dem Kleinen in der Stadt Schoppen geht und an „Opa’s“ Änderungsschneiderei vorbeikommt. Dieser steht strahlend übers ganze Gesicht auf der Schwelle seines kleinen Ladens, als hätte er auf die beiden schon sehnsüchtig gewartet. Seine Platte, die Glatze, der kahle Schädel mit den Unmengen Leberflecken wird vom Sonnenlicht bestrahlt.
Es wird ihnen feierlich der zusammengeflickte Hund überreicht, freudig entgegengenommen vom Jungen, die Augen weit aufgerissen und die der Mutter verdreht. „Was habe ich mir nur da ins Haus geholt, frage ich mich!“, murmelt sie dazu. Der Junge bedankt sich artig und freudig schmiegt er das Stofftier in seine Arme, drückt es sich so fest hinein, als wollte er es nie mehr wieder loslassen.
Dann überqueren sie die Straße, um den Döner-Laden gegenüber aufzusuchen. Der stolze Besitzer des Hundes legt ihn in eine Ecke ab, als er sich sein Essen aussucht, wozu er mit seiner Mutter zur Theke gehen muss.
Zwei Kerle sitzen anschließend neben ihnen, am Nachbarstisch.
Erschrocken sehen sie ein Polizeiauto vorfahren, denken an eine bestimmte Fäkalie und suchen verzweifelt nach einem geeigneten Versteck für ihre in Silberpapier verstauten Haschisch-Plättchen.
Da, der Hund reckt seinen Popos gegen sie. Einer erkennt seine Chance und steckt die Plättchen in den After, wonach er behutsam den Wuschelschwanz des Hundes darüber deckt.
Die zwei Polizeibeamten kommen herein, bestellen zwei Döner und nehmen neben den beiden Freaks Platz.
Der Junge bestaunt die Uniformierten, denn es geschieht nicht alle Tage, dass man solche leibhaftig vors Gesicht bekommt. Zudem ist der eine Polizist offenbar eine Frau. Polizisten sind doch Männer.
Die Mutter ereilt ein Anruf und drängt zum Aufbruch, so dass der Junge im Eifer des Geschehens sowie durch das Gebanntsein des faszinierenden Anblicks einer weiblichen Polizistin sein Pläsierchen vergisst.
Auch die Kiffer vergessen es. Allerdings weniger fasziniert vom Anblick der Polypen als aufgeschreckt, einerlei, beides sind Ursachen, zu vergessen, was sehr, sehr wichtig ist, für den Jungen sein Pläsierchen, für die Jugendlichen ihre Drogen.
Der Hund döst in seiner Ecke bis zum Abend, bis nach Mitternacht, als Gina zufällig auch in das Restaurant kommt und ihren entwendeten Hund entdeckt. Sie schaut den jungen Verkäufer erstaunt an, bis ihr ein Verdacht aufglimmt. Aber darauf angesprochen, tut er, als wüsste er nicht, woher der Hund stamme.
„Du hast meinen Hund gestohlen! Gib’s zu!“
„Hund?“
„Ja, bist in meine Wohnung eingedrungen, wolltest mich vergewaltigen, ausrauben, was weiß ich. Der Hund ist der Beweis.“
„Hund?!“
Gina begeht einen fatalen Fehler, die auf ihre Unwissenheit zurückzuführen ist. Vielleicht liegt es auch nur an ihrer Erregtheit. Sie deutet nicht auf das Stofftier, als sie zu diesem Ausländer, einem Türken heftig sich ereifernd das Wort richtet. Ihre Worte kann dieser schließlich nicht mit dem Stofftier in Verbindung bringen: „Hund!“
Hier kommt erschwerend hinzu, dass Hund in seinem Kulturkreis nicht positiv belegt ist. Er verwundert sich zunächst sehr, warum diese Frau sich so aufregt. Dazu riecht sie auch noch komisch. Und dann „Hund“. Was meint sie damit? Meint sie sich damit vielleicht? Sieht sie sich als Hund, weil sie so nach Schnaps und Alkohol riecht? Was will sie aber damit?
Ihm kommt ein Verdacht. Der ist aber schon stark.
Sieht sie sich als Hund, so meint sie, sie sei eine Hure. Meint sie, sie ist eine Hure, dann bietet sie sich jetzt gerade an, dass er sie vögeln, nageln und bumsen darf.
So doch nur kann er das sehen. Das Angebot ist ihm zu delikat. Er ist verheiratet, er hat Kinder, wenn jemand dahinterkommt, jemand sieht es, trägt es seiner Frau zu Ohren, dann ist alles zu spät – es steht einfach zu viel auf dem Spiel – er kann sie nicht ficken! Was wird sein Chef sagen? Wenn er dahinterkäme?
Oder doch? Im Nebenraum. Nachts, nach Feierabend, nach dem Zapfenstreich?
Wieder der Chef fällt ihn ein, der Inhaber. Dieser macht in letzter Zeit auf Multi-Kulti. Wäre nicht schlecht fürs Geschäft, hat er letzthin verlauten lassen, wenn ein Bulgare oder Rumäne angestellt werden würde. Die kosten nicht so viel. Und da diese Osteuropäer immer mehr häufiger hier auftauchen, würde er sich eine neue Kundschaft erschließen. Gefahr!
Trotzdem!
Der Döner-Verkäufer wird jetzt laut und weist ihr unmissverständlich die Tür.
„Kannst gehen. Hure!“
Sie ist entsetzt! Staunt einen langen Moment. Ist ganz entgeistert.
Erbost greift sie ihre Tasche und den Stoffhund unter ihre Arme und stürzt wie von der Tarantel gestochen aus diesem Dunstkreis von scharfen Zwiebeln, leckerem roten Kohl, beizendem Knoblauchgeruch und nicht minder eigenartig riechendem Fleisch, die den ganzen Raum anräuchern.

Sie kommt ins Nachdenken.
Ihr kommt ein Verdacht, weil sie das Verhalten desselbigen nicht glauben, fassen kann, weil sie schon ein bisschen in ihn verliebt ist, auch nach diesem geschmacklosen Wortwechsel. Ist in ihr Gemach eingedrungen, wollte etwas von ihr und hat aus unerfüllter Liebe ihren Hund unter den Nagel gerissen.
Sie entdeckt ein paar Tage später das Haschisch. Sie schreit darüber auf: „Das ist aber süß!“
Welch schönes Überraschungsgeschenk von ihrem scheuen, klammheimlichen Liebhaber. Auch wenn er recht rüde zu ihr gewesen war, aber so sind die Türken oftmals, es liegt ihm im Grunde etwas an ihr. Hätte es noch eines Beweises bedurft, dann sprach der süße Duft des Marihuanas Bände, die eine eindeutige Sprache bedeuten.
„Das ist aber zu süß von ihm!“ Jetzt ist sie gerührt. Als sie sich von dem quasi Überraschungsei einen gewaltigen Joint gedreht hat, steigert sich die Rührung zur Gewissheit, dass er in sie verliebt war und er etwas von ihr will. Restlos überzeugt von einem neuen Liebhaber, der es auf sie abgesehen hat, lehnt sie sich in ihr Bett zurück und denkt: den muss man nur ein bisschen auf die Beine stellen, helfen, seine Liebe zu zeigen, dann wird das schon. Ihre Erfahrung lehrte sie, dass diese Türken nur angestupst werden mussten, denn sie wollten auch nur das eine, was sie auch wollte und sich erhoffte. Nämlich knallharten Sex.

V. Gründe, Gründe

Warum denkt Gina an knallharten Sex in diesem Zusammenhang?

Gina ist an einem jener Abende wieder einmal sehr, sehr betrunken,
„Aber morgen höre ich auf.“
Louis war mittlerweile diesem Reden sattsam überdrüssig.
„Du bist für Dich selbst verantwortlich. Du musst es wollen, sonst geht gar nichts.“
Ich staunte Bauklötze über diesen Tenor ihrer Rede, denn die Botschaft war so untypisch für Louis, dockte sie sich selbst nur allzu gerne an andere Menschen an, um Herr ihrer Probleme zu werden oder davon loszukommen und darin auch die Ursache derselben zu sehen.
„Ich bin umgeben von Trinkern. Wie soll ich da stark sein?“
Aber beide Frauen, es ist ein Wunder und eine Freude, können sich schnell versöhnen.
Nach diesem Sermon von Louis, von wegen, man muss selbst wollen, sich vom Alkohol zu befreien, als wäre nichts gewesen, setzten sich beide zusammen auf die Schwelle der Tür zur Gasse hinaus, um einträchtig eine Friedenspfeife zu rauchen.
Mich ließen sie allein zurück in der Küche und ich begann die Sachlage zu reflektieren.
Klar, warum Gina gerne moralische Ergüsse von religiösen Sendern über sich ergehen lässt. Entweder Horrorfilme, Thrillers und ultrabrutale Krimis zog sie sich vorm TV rein. Oder Predigten von ominösen Predigern. Diesesmal übernahm Louis diese Funktion, um der sich reumütig sich gebärdenden Sünderin Gina in der Küche die Leviten zu lesen, in denen sie sich selbstmitleidig suhlen und ergötzen konnte.
Und als wäre nichts geschehen, hatten sie sich einträchtig hinausgesetzt auf die Eingangstürschwelle. Nach der Bibellektüre war die Auswirkung gleich Null. Nicht lange saßen sie dort in Eintracht und Harmonie.
Bald kommt Louis zurück in die Küche gestochen, schlägt wütig das Geschirr-Schrank-Fenster heftig zu, so dass ich das Schlimmste ahne: „Nach der Zigarette ist Gina aufgestanden und über die Straße zur gegenüberliegenden Sisha-Bar gewankt. Abgesehen davon - die Straße ist sehr belebt, dass ich Todesängste ausgestanden habe - war ich zunächst perplex, dass auf ihre Reue hin keinerlei Taten folgen, denn jetzt bin ich nur noch wütend. Die verarscht mich.“
Das-Ins-Gebet-Nehmen von Gina ist für die Katze gewesen, denn von der Schwelle des Hausausgangs weg ist sie zu der neoleuchtenden „Goldenen XXL“, der nicht einzigen Sisha-Bar in der kleinen Stadt, zugelaufen, um sich dort restlos die Kante zu geben.
Louis schiebt einen Hals!

Wir trippelten in Louises Zimmer im ersten Stock hinauf, gedrückt, bedrückt und enttäuscht. Von dort aus konnte man auf die andere Straßenseite zur Sisha-Bar schauen: durch die Fenster blinkte der Geldspiel-Automat bunt und krebsartig leuchtete die chromverzinkte Bar in ihrem diversen Neonlicht. Davor flankierten zwei schwarz-goldene ägyptische hundeähnliche Statuen den Eingang, die zudem von feldbetten-, lehnstuhlartigen Stoff-Liegen aus der Rumpelkammer der 50-Jahre geschmückt waren, in denen sitzend oder liegend vor überdimensionalen Wasserpfeifen sich dampflok-schlot-dicke Qualmwolken vor den Gesichtern der Jugendlichen aufbauten. Praktisch. Würden sie einen Kreislaufkollaps bekommen, lägen sie bereits auf einer transportablen Tragbahre. Der Weg ins Nirwana war schon gebettet.
Ich saß allerdings mit dem Rücken zu diesem herrlichen Ausblick, aber Louis beobachtete jede Bewegung von Gina mit Argusaugen, indem sie immer wieder ihren Hals lang machte wie ein Schwan, sprang schließlich auf, als jene in den Eingang hineinschwankte, nachdem sie sich mit den Rauchern davor unterhalten hatte, lief zum Fenster, um ihre Beobachtung durch näheren Augenschein zu bestätigen und drehte sich zu mir um: „Soll ich sie holen?“
„Hm!“
„Hm, nein. Das ist nicht meine Aufgabe.“
Louis setzte sich wieder.
„Bin ich eigentlich ihr Aufpasser? – Ist sie nicht alt genug? – Die muss doch inzwischen wissen, was sie tut.“
Sie rührte sich nicht in ihrem Sessel.
„Stell Dir vor, da sitzt so ein junger Kerl in dieser Spelunke“, denkt Louis weiter laut nach. „Nichtsahnend, lebt in einer heiler Welt und intakten Familie womöglich mit einem völlig anderen Kulturkreis und plötzlich wird er von einer älteren Dame mit anzüglichen Komplimenten, Einladungen und Aufforderungen angemacht - so ein junger, armer Kerl, der ohnehin ein gespanntes Verhältnis zum anderen Geschlecht hat, mitgekriegt und vermittelt kriegt. Für den ist das doch ein Schock!“
„Wenn nicht ein Trauma...“, füge ich hinzu. Früher war das doch umgekehrt, daß erwachsene Männer junge Dinger belästigten, um sie zu verführen. Aber dank Frauenemanzipation, Zeitenwende, neuer Zeitgeist, wie immer, verhält es sich heutzutage anders. Ältere Frauen fallen über jüngere Heranwachsende her. - Zudem, wie steht es mit dem Schutzrecht von Minderheiten in unserer Gesellschaft? Wahrscheinlich gefährdet ihr Verhalten auch die Schutzbedürftigkeit eigentümlicher, vom Aussterben bedrohter Minderheiten unserer Massengesellschaft. Unausdenkbar!.“
„Einige Zeit ist schon her, da war auch einer.“
Ich werde hellhörig.
„Aber er war schon erwachsen, glaube ich. Schwer zu sagen.“
„Hm. Erzähl, erzähl...“
„ Stell Dir vor, sie hat ihn zu sich nach Hause gelockt. Und wenn das jetzt auch bei einem Jugendlichen dort drüben passiert, uff. Wie der damals die Flucht ergriffen hat, kannst du dir nicht vorstellen, gerade als die beiden die Wendeltreppe zu ihr hochkrabbeln wollten, gelockt von Ginas Sirenen-Sing-Sang: „Ali, komm, Ali komm nur“. Aber als er schlagartig mit einer anderen Frau im Flur konfrontiert worden ist, na ja. Der muß aus allen Wolken gefallen sein, gedacht, diese Abschlepp-Frau wohnt nicht alleine in einer Wohnung. Ist wahrscheinlich ein Harem, wo mindestens zwei Frauen in einen Haushalt leben. Hier haust bestimmt ein reicher Mann, wenn er sich zwei von der Sorte leisten kann. Wenn der Meister mich nun entdeckt und erwischt, schneidet er mir Gott weiß was ab!“
Louis lacht: „Wie der vor Angst und Schrecken geflohen ist, so schnell habe ich gar nicht geschaut...“
Ich lache mit.
Nun haben wir wenigsten ein Argument, Gina aus der Sishabar zu holen.
„Aber wenn die betrunken über die Strasse läuft und es erfasst sie ein Auto, was dann?“
Wir denken wahrscheinlich dasselbe, denn als ich das Fazit aus meinen Überlegungen ziehe: „Komm, hol sie dort heraus!“, antwortet sie wie aus der Pistole geschossen.
„Natürlich!“
Sie schiebt dazu sogar ihren Oberkörper nach vorne. Sie steht jedoch nicht auf.
Pause.
„Ich rauche erst einmal eine Zigarette“, sagt sie jetzt.
Das Ritual des Zigarettenrauchens fand stets statt, bevor sie etwas anpackte. Rauchte sie sich Mut an? Stärkte sie der Nikotinkonsum? - schwer zu sagen.
Nach ein paar Minuten verstärkte sich ihre Sorge so sehr, dass sie sich einen Ruck gab, aufstand und sich anschickte hinüberzugehen.
Ich lugte aus dem Fenster, nur um zu hören, ganz aus dem Fenster zu lehnen bot sich nicht an wegen des schon herbstlich-kühl Wetters.
An der Tür riefen Louis ein paar Mädchen zu: „Sie suchen bestimmt die Alte? Sie ist dahinten in der Kneipe.“ Dortdrinnen, wie sie mir später erzählte, sowie sie eintrat, wurde sie erst einmal von etlichen riesigen Fernsehbildschirmen in jeder Ecke des Raums geblendet, die unentwegt flimmerten und mit nicht minder großen Boxen flankiert waren, aus denen es überlautstark röhrte und dröhnte, daß die Wände erzitterten.
Sie stand einige Sekunden da wie eine Blinde, wie einer, dessen Brille, wenn er aus der Kühle in die Wärme kommt, mit einem düsteren grauen Schleier angeschlagen ist, bis sie sich mit allem, der Inneneinricchtung und dem unübersichtlichen mit Flimmern überstrahlen Raum vertraut gemacht hatte.
Wie sich bald herausstellte, sortierte sie die Sachlage so, dass das Beeindruckende gar nicht echt, nur gemalt oder aus Pappmachée imitiert war.
Der Raum sollte eine kühle Oase mit plätschernden Springbrunnen darstellen. Aber dennoch hingen an den Wänden orientalische Teppichbehänge. Natürlich auch die obligatorischen Deckenventilatoren, ja sogar eine Diskokugel. Als ob man sich nicht entscheiden konnte oder einfach alles haben wollte.
Bambus-Paravents, die Schutz für Intimitäten geben sollten, stellten Nischen dar. Fast meinte man in einer Oben-Ohne-Bar zu stehen.
Ein Barkeeper winkt ihr jetzt heftig zu und sie entdeckt endlich die Entflohene auf einem hohen Tresenstuhl, gefährlich schwankend, wie man sich leicht ausmalen kann.
Allerdings steht kein Getränk vor Gina auf dem Tresen – doch ein Glas Wasser, wahrscheinlich Leitungswasser. Das war wie ein Menetekel für Gina, bilde ich mir ein.
Der Barkeeper wirft sich kaum merklich in die Brust, sondern erzählt eher bescheiden, daß er sich, so interpretiert es Louis nun, kategorisch, stand- und heldenhaft geweigert hat, der bereits sternhageldichten Besucherin auch nur einen Tropfen Alkohol auszuschenken.
Gina war eben schon bekannt wie ein bunter Hund.
„Komm Gina, geh weiter. Die Leute schauen schon so komisch!“
Kein einfaches Unterfangen, Gina von hier wegzubewegen.
„Komisch! Mir doch egal, sollen sie. Mir wurscht.“
Und sie faucht die ein oder andere Gafferin sogar an, als wäre sie ein Tiger. Das verlorene Stofftier war aber doch ein Hund.
„Komm, die reden schon über dich!“
Und sie unterhakt sie, hievt sie so vom hohen Tresenstuhl herab, während sie dem strikten Alkohol-Ausschank-Verweigerer aufmunternd zuzwinkert.
„Was, was haben sie über mich gesagt?“
„Komm, lass uns erst einmal herauskommen aus, aus diesem…“ Tausend flirrende Beleuchtungen trüben das Sehvermögen, so daß sich Louis, Hände geschützt über den Augen wie ein Indianer, durch dieses Blitzgewitter, Hände nach vorne ausgestreckt, einen Weg bahnen muss.
Sowie sie aus der Sishabar sind, macht hier die edle Retterin in ihrer Über-Fürsorge einen schwerwiegenden, kaum wieder gutzumachenden, geschweige denn zurückzunehmenden Fehler: „Vorhin, wie ich hierhergekommen bin, um Dich zu suchen, haben mich die Jungen vor der Bar schon mit den Worten empfangen: Suchen Sie die Alte, die ist da drinnen!“
„Denen werde ich es aber zeigen!“, und Gina, in einer Rückwärtsbewegung, stößt auf die Gewalt Louises, die sie zurückhält, um diese nicht in ihr sicheres Verderben rennen zu lassen, womit nicht die Jugendlichen gemeint sind, sondern der zu dieser späten Abendzeit tödliche Verkehr wie bei Formel I. Mittlerweile haben sie schon die Straße zur anderen Seite von der Sisha-Bar hinübergewechselt.
„Komm, laß das, Gina! Siehst doch, es ist zu gefährlich, jetzt noch die Straße zu überqueren!“
„Hast recht!“, lallt sie und grummelt weiter: „Die werden noch Augen machen! Die werden staunen! Von wegen Alte! Ha!“
Was sie damit meint, stellt sich ein paar Tage später heraus und ihre Prophezeiung erfüllt sich tatsächlich, so dass, wenn die Jungendlichen dies erfahren hätten, wobei die ein oder anderen es bestimmt auch getan haben, schon dumm aus der Wäsche schauten angesichts ihrer diskriminierenden Titulierung: die Alte da!
Nur ein paar Tage später, nachts um 3 Uhr in der Frühe, klopfte Gina an die Tür der schlafenden Louis. Verschlafen lugte Louis zwischen einem Türspalt in den Gang, in der, glücklich und beseelt, sich eine himmlisch wiegende Gina stand oder vielmehr wankte, die wie eine Gottesbotschaft quasi das scheinbar Unmögliche wie damals der Erzengel Gabriel der Jungfrau Maria eine frohe Botschaft verkündete: „Ich bin gerade von einem jungen Türken gevögelt worden: So alt bin ich auch wieder nicht. Mensch, bin ich glücklich.“

Inzwischen hatte der Döner-Verkäufer seinem Chef von der besoffenen deutschen Tussi und deren peinlichen, geschmacklosen Auftreten des Nachts erzählt.
Sie sind gerade beim Ausladen neuer Fleischware, tragen es von dem alten VW-Bus heraus in das Hinterzimmer des Dönerladens hinein. „Wer ist es?“ „Na, du weißt schon, die da um die Ecke wohnt, mit...“ In der Kleinstadt kennt man sich. Der Chef nickt. Hier im Hinterzimmer lagern alle Waren, einschließlich der Kühltruhen fürs Fleisch. Aus denen dringt Eisdampf, nicht nur wenn man den Deckel aufmacht und sie die Fleischkegel dahinein werfen – keine angenehme Arbeit.
Der Besitzer verzieht das Gesicht bis zu den Ohren und stößt aus: „Fick Sie, die braucht das!“
Da war das Signal, hier in diesem Raum fiel das Losungswort, die Einwilligung des Döner-Inhabers, an diesem Ort, dem Nebenzimmer des Ladens, in dem sich schließlich auch diese Order, dieses bedeutsame Geschehen und diese Prophezeiung erfüllt, indem sich das Rad des Schicksals, des Kismets, des Kaders dreht.
Zwar zweifelt der junge Dönerverkäufer zunächst noch, ob sie wiederkommen würde, schließlich hatte er sie gelinde gesagt nicht gerade wie eine Dame behandelt, auf deren Begegnung man gesteigerten Wert legt…
Aber er braucht nicht lange warten.
Bereits einige Tage später schmachtet Gina in eine Ecke gekuscht unauffällig, unscheinbar und ganz graue Maus vor sich hin, wobei sie mit aufmerksam erregten Augen das galante Treiben des schicken Fleisch-Kegel-Schneiders verfolgt.
Er schweigt erst einmal, um den Schock ihres klammheimlichen, plötzlichen Erscheinens verwinden zu können. Würde ein Donnerwetter erfolgen? Er getraut sich nicht einmal, sie nach ihren Wünschen bezüglich Essens und Trinkens zu fragen. Gina plagen indessen andere Gelüste.
Es ist nicht mehr lange bis zur Sperrstunde, schon eine Stunde nach Mitternacht.
Als niemand mehr im Laden ist, springt Gina mit einemmal auf, baut sich vor ihm groß auf und stellt ihn zur Rede, der nicht weiß und versteht, sind es Anschuldigungen oder Liebeserklärungen, eigenartig, er tippt zunächst auf letzteres.
Er findet Zuflucht in verschämtes Grinsen und zweideutiges Lächeln als den besten Weg in dieser Situation.
Gina ist sich somit ihrer Sache sicher. Angesichts dieses offensichtlichen, nonverbalen, eindeutigen Schuldeingeständnisses presst sie sich unmittelbar an ihn, rückt ihren Körper zu seinem hin und umfängt ihn. Der junge Mann nützt die Gelegenheit, macht sich frei, verrammelt und schließt schnellstens den Laden und zerrt sie, wenn Gina nicht gewollt hätte, in den Nebenraum, in die Rumpelkammer, dort, wo alle Waren gelagert werden und aus dem lecken Kühltruhen weißer Eisdampf dringt. Auf einem alten, breiten Bauerntisch macht er sich über die stark betrunkene und freudig erregte Gina her, dass es sich gewaschen hat.
Ein junger, stämmiger, bärtiger, dichtbehaarter Türke vögelt eine weiße, engelsgleiche, faltige, leger-gekleidete alte Tussi in der dönergeschäftshintigen Ablage-, Abstell- und Aufbewahrungskammer, in der um, von der Decke herab an einem Haken festgebunden, fette Fleischfliegen um vergammelnde Fleischspieße schwirren. Ginas breiter Hintern wird auf riesige, flache, knusprige Fladenbrote geworfen, geklatscht, gedrückt, wenn diese auch größtenteils in Folien verpackt sind, die sich jedoch bei diesem Gerutsche, Gerumple, Gezerre teilweise öffnen, herausdringen und zerbröselt werden.
Weiter umgarnen die beiden leidenschaftlich und heftig sich Liebenden wie Lametta den Weihnachtsbaum Gemüsebeutel, die in den Farben der jeweiligen Gemüsesorten, gelb, weiß, rot, violett und pink leuchten und an ihren Schnüren hin- und herpendeln und die Luft durchziehen und würzen mit Düften, die jeglichem orientalischen Basar alle Ehre erweisen würden.
Umgeben von Geschnetzeltem aus Rind, Huhn, Truthahn und umwölkt von jenem quasi besonderen muffelnden Weihwasserduft liegt ein Lamm Gottes auf einem okkulten, archaischen, rustikalen Altar, ein samtig-weißes, blond-gefärbtes und engelsgleiches Opfertier und wird nach Strich und Faden gevögelt von einem dichtbehaarten Belzeebub auf Teufel komm raus!

Für Gina stand die Frage auf dem Spiel: bin ich noch jung, so jung, dass ich einen knackigen, jungen Mann in meine Kiste zu zerren noch imstande bin?
Für den Türken stand quasi seine berufliche Existenz auf dem Prüfstand. Kann ich mit der Zeit gehen, andernfalls würde er über kurz oder lang aus dem Geschäft fliegen und gedrängt, denn die Konkurrenz schläft nicht und seht schon vor den Toren!

VI. Ein Gesprächgesuch und Herbstdissonanzen

Am übernächsten Tag aber schon, ernüchtert oder im nüchternen Zustand, je nach dem, wie man es sehen mag, war der Jubel dem Jammer gewichen: „Ich fühle mich so elend!“
Sie stützte sich mit beiden Händen auf die Waschbecken ab, weil ihr der Körper schwer geworden war und wobei sie in einmal in ein bleiches Gesicht, dann in flirrende Schemen, kurzum eine zittrige Visage blickte, in dem Scham, Liebe und die Gemengelage obskurem Verschnitts dutzendweiser Gefühle fröhlich Urständ feierten.
Sie war so von ihm bemächtigt, da sie in der kleinen Stadt an jeder Ecke das Bartgesicht des edlen Vöglers, starken Rammlers und irren Sex-Derwischen wahrnahm und es half auch nichts, dass sie es vermied, die Hauptverkehrsstraße zu passieren, wo sie hätte an dem heruntergekommenen Dönerladen vorbeidefilieren müssen, aus dessen Schaufensterauslage inzwischen bereits eine ganze Meute sexhungriger body-gestylter Ausländer welcher Herkunft auch immer gierten und stierten.
Sie hätte es nicht ertragen können – den „Geliebten“ erblicken zu müssen.
So fuhr sie statt der breiten, hell erleuchteten Einkaufsstraße durch die verwinkelten, engen, kantig-sperrigen Kleinstadtstraßen – für eine oft angeheiterte Fahrradfahrerin eine nahezu zirkusreife Nummer.

In der Nacht war sie mit dem psychedelischen Song von Pink Floyd: “I wish You were here” eingeschlafen. Sie flog auf dem Mond, umrundete ihn und setzte auf der erdabgewandten, dunklen Hemisphäre ab. Sie befand sich in der Rumpelkammer, in der es dunkel und düster war. In diesem düsteren Fleischlager hatte es Eis- und Nebelbildung, die aus dem undichten Fleischkühler drang.
Eine schwarze Katze schlich hier herum, durch das laute, abrupte Gepoltere des hektischen Sexualverkehrs lief diese plötzlich – wie ein Blitz! - schnell aus dem Raum.
Aber am Morgen war Schluss mit Träumen, da wurde zur Sache gegangen, zum Marsch geblasen, indem sie den unsterblichen Bob Marley and the Wailers auflegte mit: „Get up, stand up! Fight for Your right!”
Dieser Song putschte die ehemalige Jamaika-Reisende auf. Sie kriegte schon die Krise, es war nur ein starkes Gefühl, irgendeine Anwandlung, ein dumpfes Drängen verspürte sie, egal mit welcher Absicht, nur mit ihm reden, mit ihm, der sie... naja.
Sie schlief wieder ein und befand sich im undurchdringlichen Dschungel der Tropen, wo es feucht wie in der Sauna war. Es war alles so dicht bewachsen mit Grünzeug, dass man sich nur mit einer Machete einen Weg bahnen konnte. Boa in Ausmaßen wie Bäume hingen wie Lianen von den Ästen herab. Ein furchtbares lautes, schrilles Gekreische, Gejauchze, Gebrülle erklang und erschall aus den Baumkronen, am übelsten taten sich Paviane hervor, Makaken, Meerkatzen, Schimpansen, alle erdenklichen affenartige Wesen, die mit ihren Gestikulationen, Gebärden, Gebaren sie schier zu veräppeln, zu foppen und herauszufordern schienen. „Geht weg, verschwindet!“, schrie sie hysterisch und wie aus dem Nichts tauchten bunte Papageien in ihr Blickfeld, die ätzend zurückschrieen. „Geh weg, verschwinde!“ Das war zuviel, sie war dem Wahnsinn nahe, hielt sich die Ohren zu, bekam weiche Knie und ließ sich schließlich auf der Stelle fallen. Sie sah durch ein geöffnetes Auge einen flirrenden roten Hügel wie eine Düne auf sich zukommen, sie, die auf dem Boden lag, ohnmächtig, beklommen und steif. Allmählich begann sie in dem Hügel Einzelheiten zu unterscheiden und wahrzunehmen: tausende, krabbelnde, gierige Ameisen.
„Get up. Stand up. Fight for Your right!“ Und das Stakkato der Raggaemusik lässt sie erheben, einen kleinen, klitzekleinen, mutmachenden Schluck aus dem bereits angebrochenen Flachmann nehmen, sich anziehen, die Wendeltreppe hinuntergleiten, das Fahrrad aus dem Gang durch die Haustür ins Freie schieben, aufsetzen und losfahren.
Der Scheinwerfer des Fahrradlichtes tänzelte an den Hauswänden hin und her, rauf und runter, dass es eine Wucht war. Da und dort hatten die Haustüren überdies Lämpchen in den Rahmenecken hängen, selbstverständlich glitzerten welche hinter den Fenster hervor, wie süß! Weihnachten stand vor der Tür. Das Fest der Liebe. Und sie? Oje! Sollte sie leer ausgehen? Wieder einmal. Wie seit dreizehn Jahren schon. Damit musste Schluß sein. Jeder hat ein Recht auf Liebe. „Get.. Genau, kämpfe für dein Recht, Gina!“
Gina hat ihren Fahrradkorb hinten aufgespannt, der mit einem rot-weiß-kleinkarierten Tuch überspannt ist, ein Weidenkorb von Altmuttern, nur fehlte die Weinflasche von Großmutter. Dafür war es ein Flachmann aus dem Discounter, aus dem sie sich schließlich mit einem kleinen Schlücken Mut antrinkt auf der Schwelle vorm Eingang zum Paradies, zur Hölle, zum Fleischerladen.
[Gina, die Sozialpädagogik studiert hat, wenn auch ohne Abschluss, sucht das Gespräch, muss es suchen oder es sucht sie, wie man will, weil man/frau bekanntermaßen in diesem Beruf das Schwätzen lernt, über Probleme reden, über vermeintliche Probleme quasseln, über Nichtprobleme. Punktum. (Schreibt der Autor, der dies selbst studiert hat.) Gina kann eigentlich nichts anderes als reden, reden ohne Konsequenz, ohne einer Handlung und Tat infolge, weswegen sie trinkt. Oder umgekehrt ist es die des Trinkens!?]
Sie lässt sich nieder in eine der abgeschabten, braunen Leder-Sitzen, nicht unähnlich denen von Hinterbänken in kleinen Busen, in der äußersten diagonalen Ecke des kleinen Dönerlokals, wo einst ihr Insignum, das Zeichen, das Mahnmal der Liebe ruhte, der Stoffhund, nun zu ruhigerer Geschäftszeit und wartet eine günstige Gelegenheit ab, mit dem Geliebten ins Gespräch zu kommen. Das geht doch so nicht, dass man das jetzt auf sich beruhen lässt, nachdem, was da passiert ist, da gibt es doch natürlich Redebedarf! – aber, wie sich bald herausstellt, leider nur von ihrer Seite aus.
.„Ich muss mit Dir reden... Ähm, also, diese Nacht... Ich war total betrunken, aber... Nun, du bist verheiratet, ich weiß das ja... Aber wir können die Sache so nicht stehen lassen.“
SACHE STEHEN LASSEN!
Von welcher Sache spricht sie überhaupt, die nicht stehen bleiben darf und weggeräumt werden muss? Er sieht keinen Gegenstand, der dafür in Frage kommt, mit anderen Worten, er erkennt keinen Sinn in ihren Worten. Was wunder auch, von dem. was er inhaltlich nicht versteht, kommt hinzu, dass sie stammelt, lispelt und nuschelt bei dem Versuch, krampfhaft die richtigen Ausdrücke zu finden, welche für ihn ein Buch mit sieben Siegeln darstellen. Die Worte kommen aus der Welt der Tatsachen und wer kann damit schon etwas Handfestes anfangen: „Ein stückweit sind wir zu weit gegangen.“
STÜCKWEIT – welches Stück, Gegenstand, Ding meint sie denn?
Immerhin denkt er doch ein bisschen darüber nach.
Soll ich diese Frau zu meiner zweiten machen, theoretisch möglich, per Gesetz seiner Religion, der er sich verpflichtet fühlen kann, wenn er will. Er denkt an seinen Cousin in Syrien, der es immerhin zu zwei Frauen und 16 Kindern gebracht hat – der Stolz des ganzen Clans! Oder soll er es schlicht bei seinem guten Ruf unter den Jüngeren der Gemeinde belassen, mit seinem Treffer im fremden Revier gewildert zu haben und mit der Aussicht, dass dies erst der Anfang gewesen ist– ich habe deutsche Frau gefickt, klingt gut.
In das weiße, verschwommene Gesicht Ginas fährt aber jäh ein schrecklich-schlimmer Blitz zwischen das Glück der beiden, hier Glück ob ihrer Hoffnungsträchtigkeit, er glücklich ob einer goldenen Zukunft.
Gina lächelt verschämt bei ihrem Ansuchen und der glückseligen Erinnerung über den nächtlichen Quicki und Holterdipolter-Fick im Nebenzimmer und sie zeigt dabei ihre Zähne, ihre weißen Hackerchen, wobei dieser Ausdruck nur insofern zutrifft, als sie keine gleichmäßig aufgereihten, vollständigen Zähne mehr hat, zwar noch die großen Schneidezähne vorne, aber einige Backenzähne sind bereits herausgefallen, so dass zwei schwarze Lücken in ihrem offenen Mund klaffen. Wenn sie lacht und ihr betont kehliges Grunzen ausstößt, flankiert von diesem Schwarz, erscheint sie als entweder faszinierendes oder abstoßendes Original, Unikum und Hexe. Der Angesprochene schreckt zurück und denkt nun entschieden: nee, nö, nein, nein - das ist doch nichts. „Wenn meine Freunde, Bekannten und Anverwandten zum Fleischbeschau kämen, würde mein Ansehen, Ruhm und Renomée doch zu tief in den Keller rutschen angesichts dieser Braut.“
Außerdem versteht er sowieso kaum mehr als Bahnhof. Und so ist ihm dieses Gespräch zu „blöd“, wenn es auch vom Ginas sozialarbeiterischen Standpunkt aus auf einem hohen Niveau, von einem anderen in einem höheren Blödsinn geführt wird, umkehrt proportional ist es dem Türken noch „blöder“, wie die Deutschen sagen würden, wenn sie ungehalten werden und über etwas nicht mehr reden wollen: „Das ist mir zu blöd!“. Beim Denken bleibt es glücklicherweise auch, denn nun, Gina, du kannst froh darüber sein, öffnet sich störend und unterbrechend die Tür und hereintritt ein Kunde, um sich vor den leeren Tresen des Fast-Food-Ladens aufzubauen.
Gerade noch kann der Verkäufer der Kundin im sonst leeren Laden zuraunen, ungeachtet dessen, ob es sich bei dem Neuling um einen Deutschen oder Türken handelt: „Ich nicht verstehen, nem anladim. Mach Dich vom Acker!“
Genia will aber nicht locker lassen, erreicht aber den Geliebten nicht mehr, welcher ihr inzwischen den Rücken zugekehrt und sich dem Fleischkegel zugewendet hat, um daran in einer Verlegenheitsgestik herumzuschnetzeln, das vom heißen Backblech krude gewordene Fleisch abzuschaben – ein Signal, das heißen will: für mich ist die Sache erledigt.
Aber noch lange nicht für Gina.
Sie hakt nach. Sie spricht laut, sehr laut: „Du, mir ist die Sache zu wichtig, als dass...“
Zwar wendet sich der Türke wieder um, aber er versteht überhaupt nichts mehr – was Sache? Sinn- und zusammenhangloses Gelaber ist das. Mochte er sich zudem hilflos und ohnmächtig gegenüber der Deutsch Sprechenden fühlen, sein halbherziges Stammeln lässt ihn die Nerven verlieren und schlussendlich in seinen buschigen Bart hineinraunen: „Ich nicht weiß Deutsch!“
Das stellt das Signal dazu dar, dass endlich der Käufer, bislang noch überlegend und höflicherweise das Gespräch anderer Leute nicht unterbrechen wollend, seine Bestellung aufgibt, um dieses unwürdige, beschämende und ausweglose Schauspiel, diese einseitige Gespräch, diese Einbahnstraße menschlicher Kommunikation zu blockieren, zu unterbrechen, zu beenden, sprich zu erlösen, das immerhin eine Dauer erreicht hat, dass es dem dümmsten, geduldigsten und langatmigsten Gesprächspartner überdrüssig wird und mitunter auch die teilweise nüchterne Gina kapiert, dass hier Ende der Durchsage war.
Je länger sie über den Ausgang oder Fortgang oder Irrgang dieser notwendigen Aussprache der einseitigen Art nachdenkt, desto mehr Blut schießt ihr in den Kopf und treibt sie voran. Den Flachmann stellt sie in ihrer Verzweiflung einfach auf den Tisch, sieht, was sie getan hat, ergreift ihn sofort wieder und steckt ihn in den Weidenkorb zurück und nimmt sich ihre Habseligkeiten zur Brust, um aus dem Raum zu stechen.
Außen kippt sie sich den Rest des Flachmannes hinter die Binsen, aber bis zum letzten Tropfen. Die leere Flasche wirft sie mit einer Geste der Verächtlichkeit in den Rinnstein vor dem Lokal.
Dann besteigt sie ihr Fahrrad in abenteuerlich artistischer Weise, muss aber sofort wieder absteigen, da sie zu sehr schwankt und Angst kriegt, auf die Nase zu fallen. So schiebt sie es kurzerhand. Aber weit kommt sie nicht.
Denn sie bekommt Durst, sehr großen Durst. Zurückzugehen und sich vor diesem Schnösel schwankend aufzubauen und um Bier zu betteln, gönnt sie dem nicht.
Also, dort der Italiener.
Dieser wittert sofort seine Chance. Warum? Der Geruch, die schwankende Erscheinung, die etwas heruntergekommene Gestalt?
„Bonjourno, Guten Tag, junge Frau. Wein wollen Sie? Wir aber nur guten haben.“
Gina fühlt sich natürlich und sofort herausgefordert.
„Natürlich will ich nur einen guten, was glauben Sie denn?“
„Va Bene, sehr gut, dann hol ich mal einen, Senorita!“
„Machen Sie das!“, antwortet Gina großspurig, angestachelt und herausgelockt.
„Ist der Senorita genehm?“
Er umfasst liebevoll mit seinen Händen einen billigen Hauswein, streichelt die Flasche, als wäre es ein Babypo, der einen Preis hat, der diesem würdig ist.
„Ich nehme ihn!“, sagt Gina, geht damit in die Falle, fragt sie doch nicht nach dem gespickten Preis.
„Soll ich ihn der Senorita einpacken?“
„Nicht nötig!“ Das klang so, als „den sauf ich sowieso gleich!“
Gleichzeitig öffnet sie ihre Geldbörse auch schon.
„20 Euro!“
Sie schluckt, kann jetzt aber nicht mehr zurück. Noch wütender, ohne sich etwas anmerken zu lassen, blättert sie ihren letzten blauen Schein hin, nimmt schnell den Wein wie ein kleines Baby zwischen Arme und Bauch, als wollte sie es schnell in Sicherheit bringen, wobei es eigentlich sie ist, die sich verstecken und verbergen will.
Sie fühlt sich natürlich zurecht gefleddert, ausgebeutet und gezinkt! Aber was soll’s! Jetzt kam’s auch darauf nicht mehr an. Hastig setzt sie ihren Weg fort, den Wein feinsäuberlich zwischen den Lebensmitteln im Weidenkorb gesteckt, damit er auch wirklich keinen Schaden erleidet, was einfach zu bitterlich und schade gewesen wäre.
Na, mal los! Ab in die warme Stube und dann sich die Kante geben. Uff! Sie ist nunmehr, zu allem Übel, einerseits unerwiderte Liebe, andererseits geprellte blöde Tussi, den Tränen nahe, sehr nahe. Los!
Es ist Anfang Herbst und abends bereits düster. Der Wind, obwohl nur leicht, aber nicht sanft, fühlt sich schnöde auf der Gesichtshaut Ginas an, die kurz vorm Tränenausbruch steht.
Das wäre ein guter Grund, sich richtig gegen zu lassen, was?!
Auf dem Trottoir liegt klebrig nasses, schweres Laub, über das man leicht ausrutschen könnte – ein weiterer Grund, um zu weinen. Sie sieht kaum füng Meter weit und die gelben Lampen sind von Nebelwolken umhüllt und bilden von weitem ein schummrig-spüliges Abwaschlicht. Die Luftfeuchtigkeit lässt das Atmen schwerfallen und die Kälte dringt durch die die Kleider. „Es wirrd Zeit, in den rrettenden Hafen einzulaufen!“, sagt sie sich im Ententon, schon wieder leicht vergnügt. Der Alkohol wirkt eben, gäbe es denn nicht, na Prost Mahlzeit!
Im Rinnstein staut sich zwischen dem feuchten Laub das Wasser, aber nicht ausrutschen, um da hineinzutatschen. Schon sieht sie von weitem die Ecke zu ihrer Seitenstraße, die von einem großen, einen Meter hohen Stein markiert wird. Wozu man den ehemals aufgestellt hat? Wahrscheinlich waren sie zum Binden von Schuhsohlen gedacht.
Beim Anblick dieses Ecksteins kommen ihr andere Bilder, solche von Hunden hoch, die sie in Jamaika gesehen hat, wo man diese Spezies gehäuft auf den Straße herumstreunen sieht. Hunde würden, wenn sie an diesen Druidenstein vorbeikämen, zwanghaft darauf pissen müssen, das steht fest.
Sie liebte Katzen, sie hasste Hunde.
Zum Glück würde ihr das nicht passieren, in diesem Land hier einem solchen Köter jetzt zu später düsterer Stunde über den Weg zu laufen, es gibt sie kaum, herrenlose Köter. Hunde in Jamaika, friedfertig, hier zulande weniger. „Kein Wunderrr!“. Bei diesem Wetter wurde jede Kreatur widerborstig und übellaunig, musste so sein und sie seufzte: „Ach!, wenn ich doch nur in den Tropen wäre, in Jamaika!“
Schneller schob sie das Rad.
Eine Hitze durchfuhr ihre Adern, Kontrastprogramm zur kühlen Außenwelt – sie fühlte sich so warm eingelullt jetzt wie eine amphibische Schnecke im labyrinthischen Schneckenhaus – was gab es Besseres als solche Momente? Oh, jetzt ließ der Alkohol ihre Fingerspitzen kribbeln – voilá.
Sie schob schwankend ihr Fahrrad über und durch den Schneematsch. Es hat geschneit, aber es war nicht kalt genug, so dass der Schnee sofort geschmolzen wäre. Sie ist zu betrunken, um Fahrrad zu fahren.
Außerdem, nur noch diese eine Ecke war zu nehmen, dort, wo dieser lustige große, abgerundete, einen quadratkubikmetergroße Stein steht, ein Relikt vergangener Zeit, 50ziger, 40ziger Jahre, wer weiß das schon, ein lustiges Unikum, welches sie jetzt galant umrunden will.
Dann ab ins warme Nest.
Sie kommt aber diesem Zauberstein zu nahe, wobei der klitschige, säuerliche Urin des Steines, der daherum auf den Trottoir eine gelbe Rosette bildet, zu ihrem Verhängnis wird.
Ein Glück, dass sie nicht gegen die rechtwinkligen Kante der spitzen Hausecke fällt.
Das Rad schlittert dabei über den gebogenen, abgerundeten Stein hinweg und rollt, rutscht und hutscht zurück, so dass es sie von den Beinen hebt und sie auf das Trottoir niederfällt, wobei das Fahrrad auf die Fahrbahn segelt, sie jedoch hinfliegt auf ihren Hintern, laut schreit sie auf und so sitzend am Ende ihr die Tränen kommen und sie – von weitem – sich wie ein herrenloser Hund vor sich hinschüttelt, hin- und herschaukelnd wie ein vernachlässigtes Kind, dann versuchend, auf die Beine zu kommen, wobei sie ein paar Mal ausrutscht, gleichviel ob vom Urin oder Alkohol, sie landet immer wieder auf ihren Hintern. Niemand achtet auf sie, zu dieser fortgeschrittenen Stunde sind die Straßen ziemlich leergefegt, zumal unter der Woche, so wird sie niemand beobachten, wie diese quasi herrenlose Hündin auf allen Vieren krabbelt und versucht, in die aufrechte Haltung, auf zwei stehende Füße und den aufrecht Gang zu kommen, wie es menschlich wäre.


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Stofftiere bringt Liebe

Beitragvon Pentzw » 21.03.2019, 21:51

VII. Ginas Heimsuchung

Gina will sich rächen.
Zuerst sondiert sie beim schnellen Vorübergehen durch die Anlage die Besucherzahl im Innern des Ladens. Ist der günstigste Ort dort drinnen frei, wo sie sich optimal positionieren kann - für den hinterhältigen Plan?
Sie muss ein paar Mal hin und herlaufen!
Warum?
Erstens, weil sie erst richtig kapiert, warum sie hier erst an der Anlage vorbeigeht, nämlich, um die Lage zu erkunden.
Nämlich was erkundet sie?
Aha, wo am besten zu stehen ist, um, nun zum Schlimmsten zu kommen, ihren gemeinen, hundsgemeinen, um nicht zu sagen perfiden Plan umzusetzen.
Diesen hat sie sich in einsamen Stunden sehr genau überlegt, ausgemalt und genossen, wie er so klappt, wenn man es sich vorstellt, daß es klappt.
Sie läuft wieder an der Anlage vorbei, hundsteufel!
Warum?
Sie gesteht sich ein, sie fühlt sich so sauunwohl, weil ihr ein so räuberisches, diebische, hinterhältiges Unterfangen vorschwebt, daß sie sich schlecht, sehr schlecht fühlt.
Wer ist sie denn?
Ist sie das?
Wirklich!
Sie seufzt schwer, bevor sie sich überwinden kann, die Schwelle zum Dönerladen zu überschreiten: „Man ist einfach eine zu gute Seele für diese Welt!"
Sie geht quer durch den Raum bis zur Stirnseite, setzt sich an den Rand der Eckcoach, bestellt niedergeschlagenen Augens ein Bier und einen veganen Döner, als ihr Geliebter zur Bestellung herantritt und sie entgegennimmt. Dann spürt sie den großen Bildschirm hinten und knapp unter ihr, dreht sich um, schaut, besser schielt schräg hinauf, erkennt so etwas wie einen Popstar in weit ausholender Geste, die Hände einladend dem Publikum gereicht, wie versteinert – kein Wunder, der Empfang ruckelt zwischendurch immer, was aber Gina nicht wissen kann – dann sieht sie die Diva wieder herumzappeln wie eine Puppe, gestört von elektrischen Interferenzen – spürt dadurch noch mehr Wirrwarr und Durcheinander in ihrem Kopf, denkt, daß sie vielleicht nicht nüchtern genug ist, um ihren Plan kaltblütig durchzufühen. Natürlich konnte es in der Absicht des Filmemachers liegen, hier das Bild einen Moment zum Stillstand zu bringen. Ob so oder so, das Ergebnis war bei Gina nur dies, daß sich ihr der Sinn gehörig verwirrte.
Kommt aber zu Bewußtsein, denkt, ach was, jetzt oder nie!
Sie flüchtet an den Tresen, indem sie sich Halt, Wärme und Sicherheit suchend an diesen wift, indem sie sich mit ihren Händen an der überhängenden Platte festkrallt und nimmt huldvoll ihr Mahl, sozusagen die Henkersmahlzeit entgegen und es herrscht Schweigen und Last in der Luft und um sie herum. Kaum daß sie den Blick von Essen wenden kann, halb hypnotisiert, halb in Gedanken wo völlig anders, beginnt sie dann mit der Verzehrung, sehr, sehr langsam. Sie malmt, schmatzt und schlürft so laut wie möglich – dann, aber nein, ruhig, gleichmütig, demutsvoll, schicksalsergeben wie einer der wiederkäuenden Kühe auf Wiesen und Feldern.
Genau so aß sie ihren Veganen. Nicht wagte sie ihren Kopf bewegen, weder nach links noch rechts wenden, den Blick nach links oder rechts lenken, nein, nur auf den „Fleischberg“ vor ihr war ihr Augenmerk fixiert. Ruhig muss sie doch wirken, nicht auffällig, verschwindend gering und unauffällig wie eine graue Maus! So zieht sie alle ihre Fasern des Körpers nach innen, wie eine Schnecke, bevor sie sich in ihrem Haus verkriecht und zurückzieht.
Endlich sich nicht beobachtet fühlend, legt sie ihren Geldbeutel auf den Boden und überdeckt ihn mit einem Fuß. In dem Moment, wo sie sicher ist, nicht gesehen zu werden, auch da ihr sie Verschmähender und Liebhaber zum Fleischspieß gewendet ist, schiebt sie ihren Geldbeutel an die kleine Seite des Tresens entlang so weit hinten wie nur möglich.
Hastig schlingt sie daraufhin ihre Speise hinunter, bezahlt sofort und schreitet zur Straße hinaus.
Dort tut sie so, als ob sie nach ihrer Geldbörse suche, betastet ihren Körper nach eventuellen Stellen, schaut in ihre Tasche, dreht sich schnell herum und geht in den Laden zurück.
Eigentlich war das eine völlig nutzlose Handlung, niemand beobachtete sie – aber sicherheitshalber tut man dies, um sich ein Alibi verschaffen, Glaubwürdigkeit vermitteln und den Anschein von Harmlosigkeit erwecken zu wollen.
Sie nimmt noch einmal ihren ganzen Mut zusammen und plärrt nun in den kleinen Raum hinein: „Gebt mir meine Kohle wieder! Wer hat mir meinen Geldbeutel geklaut?“
Entsetzte Gesichtern wenden sich ihr zu. Forsch wie Schneider Meck-Meck mit der langen Schere schreit sie ihrem widerspenstigen Liebhaber die Worte ins Gesicht: „Wo ist mein Geldbeutel? Weißt Du das?“
Dieser weist ihre Frage mit einem stummen Nein ab, indem er leicht den Kopf schüttelt. Er ahnt, irgendetwas stimmt hier nicht.
Daraufhin blickt Gina auf den Boden, wendet übertrieben den Kopf hin und her, als suche sie tatsächlich und bewegt sich zum Fernseher, schaut unter den Tisch, dann Eckbank. Dann dreht sie sich nach rechts, geht zum Durchlass des Tresens, bückt sich, kommt zum Vorschein mit einem Geldbeutel und hält ihn gut sichtbar in die Höhe.
„Warum ist er hier hinter dem Tresen?“. brüllt sich ihre Stimme überschlagend und funkelt den Dönermann furchteinflössende Blicke zu. Daß diese ankommen, ist an dem gleichgültigen Zucken der Axeln und den Worten von jenem zu erkennen: „Weiß ich nicht!“
„Wie kommt er hinter Deinem Tresen?“
„Was weiß ich denn?“ und zuckt wieder nur, um die Anschuldigung abzuwehren und kapiert zudem immer mehr, wohin die Chose geht und wendet sich geschäftig seinem braun-roten Kegel zu. „Mehr brauche ich wohl nicht zu sagen!“, schreit Gina noch laut. „In diesem Laden sieht mich keiner mehr!“ Sie rennt wütend hinaus, verliert ihren Rucksack zwischen Tür und Angel, wendet sich wütend um und der Tür zu, um sie weit in den Raum hineinzustoßen, hebt in einer genauso forschen Art ihre Habseligkeit auf und stürmt schreiend hinaus: "Niemehr sieht man mich hier! Nie mehr!“
Die Gäste blicken sich befremdet in die Augen und schauen recht merkwürdig, so daß der Dönnermann sich befleißigt fühlt, den schlechten Eindruck wegzuwischen, indem er den Ruf des Ladens ganz professionell rettet. Er tut so, als ob es nur nervig gewesen wäre, was sich da gerade abgespielt hat an einer Schmierenaufführung mit schlechter, mißerabler Schauspielerin aus schummrigen Gassen der Kleinstadt hier. Er macht die Geste des Trinkens, so daß alle wissen, aha, es hat sich nur um eine fremde Besoffene gehandelt.
Wenn dennoch ein Rest Ungläubigkeit bei dem ein oder anderen übriggeblieben gewesen ist, wischte nun der Dönnermann dies mit einer Stellung vom Tisch, die beeindruckend war, indem er sich mit seinem breiten Brustkorb weit über die Theke lehnte und in einer Was-willst-da-machen-Geste die Hände ausbreitete. Wenn dies nicht schon klar gewesen war, dann unterstrich die nächste Geste dies Sachverhalt noch einmal, denn in der gleichen Intention lässt er seine Arme auf die Thekenplattform fallen.
Alles weitere wäre überflüssig gewesen: die Nase angeekelt zu verziehen und die Augen zu verdrehen, als fiele er gleich in Ohnmacht. Das Kapitel wird endgültig abgeschloßen, als er sich schließlich nur noch breit grinsend und summend sich zu seiner Arbeit wendet, um weiter fortzufahren mit dem Geschnitzele des braun-schwarzen Fleischkegels.

Sie war schon stundenlang die Straße auf- und abgegangen und wusste nicht warum. Als sie ihn abends aus dem Dönerladen kommen sah, ging ihr das Licht auf, warum sie dies getan hatte - nämlich auf i h n zu warten.
Sie sah ihn mit einem einzigen Schritt über die zwei Stufenschwellen des Dönerladens auf den Bürgersteig heraustreten, fröhlich, zielstrebig und über die Straße hüpfend wie ein Kängaru. Ein athletischer schöner Typ. Aber mit einem miesen Charakter!
Er verschwand hinter der Ecke. Behutsam näherte sie sich dieser, schrak zurück, nachdem sie einen Blick in eine grell-beleuchtete Ladenauslage geworfen hat und kauert sich in die nächste Ecke. Sie hatte einen Friseurladen entdeckt, der, obwohl bereits nach 19 Uhr, stark besucht wurde, man meinte, das Geschäft begann gerade um diese Zeit. Um diese Uhrzeit?! Nach sieben Uhr abends waren alle Einzelhandelsläden geschlossen. Also mussten die Beschäftigten dieser Läden sich dort frisieren, was sie dort taten.
Ein steuerfreier Frisörladen! Keiner durfte um diese Zeit beschäftigt sein im Geschäftsbereich.
Aha, jetzt hatte sie etwas gegen ihn.
Aber auch zu blöd, dachte sie gleich, wegen so etwas versuchen, ihn zu treffen. Da waren Hunderte mit beteiligt. Da würde sie in eine Wespennest stoßen, nein. Und treffen würde es ohnehin nur den Ladenbesitzer, nicht diesen schnöden Geliebten.
Sie spitzt wieder ihre Nase um die Ecke.
Sie merkt, daß die Fensterscheiben der Auslage vibrieren. Merkwürdig. Sie langt mit den Finger an das Glas, um sicher zu gehen. Tatsächlich, die dicken Scheiben zittern. Mann, dahinten muss es ganz schön laut zugehen. Tatsächlich, die haben an jeder Ecke an der Decke dicke Boxen hängen, deren Membrane sich wie Blasebalgen aufplustern, sich blähen wie die Hälse von roggenden Fröschen und bis zum Ausschlag ausfahren, als würden sie jeden Moment explodieren. Sie geht näher heran und jetzt hört sie den Lärm auch. Musik. Ganz schön laut, bedenkt man, die Scheibe musste aus Panzerglas bestehen – die können sich doch kaum unterhalten bei diesem Geräuschpegel. Ach ja, deswegen tanzt der Friseur hin und her, wohl wegen der Musik, als sei er der Animateur einer Kellerdiskothek?
Wo aber war der Geliebte?
Aha, dort sitzt er in der Ecke, vielmehr lümmelt sich in einer ausgetretenen Liege, die Beine so weit nach oben, daß sein Gesicht fast nicht zu erkennen ist, weshalb sie ihn auch nicht gleich erkannt und wahrgenommen hat. Er hält eine riesiggroße Lektüre, solch eine Mode-Design-Broschüre in der Hand, die ihn gleichfalls verdeckt hat, jetzt aber von ihm abgelegt wird und er aufstehen kann.
Vor einem Art Schleudersitz-Stuhl steht einer der Frisörangestellten, sonder herausgeputzt wie der schrillste Gockel im Hühnerstall und weist ihn mit einer Nimm-Platz-Kumpel-Geste an, sich hierherzusetzen. Das Objekt ihrer Begierde tänzelt sich zu diesem hin und sowie es kaum sitzt, die Hüfte nach oben und wieder nach hinten gerückt, den Sitz auf diese Weise so richtig in Beschlag und Besitz genommen mit seinem Allerwertesten, tanzt bereits der andere von ihm weg hin zur Stereoanlage, um an ihr zu drehen.
Das Vibrieren der Scheibe hört auf. Er muss die Musik ausgeschaltet haben. Warum, würde sie gleich merken.
Er ergreift eine Schere, einen Kamm und ein Deodorant und mit ersterem Instrument, Waffe oder Werkzeug schnippelt er verheißungsvoll in der Luft, während er zu ihrem Liebhaber hintrippelt, der jetzt aber ostentative, komische Verrenkungen mit Hüfte vollführt, die nichts mit dem Sich-Gemütlichmachen-beim-Setzen zu tun haben, sondern, sondern.
Genau, er tuts so als ob, ob...
Gina fällt schier der Unterkiefer heab.
Denn Gina bekommt das Gefühl, den vagen Eindruck, ja die feste Gewiss-, und Sicherheit, daß sich das Gesrpäch um sie und ihm und ihrer letzten Begegnung, ihrem nächtlichen Zusammensein, dem unaufhaltsamen, finalen Aufeinandergehen, wie immer verklausalisiert, handelte.
Der erzählt von seiner Eroberung, ganz klar; von ihr, wie er sie des Nachts auf dem alten Bauerntisch von hinten genommen hat – dieses Sch...
Dann wird sein Kopf in eine große Schüssel gebeugt, Wasser aus einer Karaffe darüber geschüttet und sein Schädel mit den dicken Haaren geschruppt, gewalkt und gewaschen. Der Friseur bewegt sich weiterhin tänzelnd.
Jawohl, wasch ihm nur richtig die Haare!
Trotzdem, welch eine eitle Prozedur!
Sie ist richtiggehend abgestoßen von diesem Prozedere und als sich der Geliebte zurücklehnt, scheint er wieder zu reden.
Was der nur zu reden hat?
Er labert in einem fort, lacht und grinst frech dabei.
Soo ein eitler Gockel und Geselle!
Damit wird sie Zeuge ihrer Beschämung, der Beweisführung ihrer Schande, wie sie es nun wahrzunehmen und zu empfinden beginnt. Welch eine Schmach! – indem sie mit ansehen muss, wie das sich liebevolle, leidenschaftliche und innige Sichpaaren in alle Welt hinausposaunt, zum Gespött, im Nachhinein gehohnebibelt und verulkt wird - das war zu viel!
Die mussten, genau, wie sie so redeten, immer wieder lachen, wohl lauthals - und dann sich sogar mit den Händen auf die Beine schlagen – das konnte nur bedeuten – so, das Fass ist übergelaufen.
Sie warf sich zurück, begann zu heulen, mit den Füßen aufzustoßen und schnell wegzurennen.
Kam aber wieder sogleich zurück.
Als ob ihr der Schmerz nicht genug wäre!
Sie spitzte noch einmal in diesen Handwerks-Raum der Eitelkeiten.
Mittlerweile war sein Haar wie bei einer Schnepfe duttartig nach oben aufgetürmt und wurde dann mit einem seltsamen Werkzeug in gockelartigen Rechtecken, sternförmigen Spitzen und zersausten Ausläufern gebrannt, gekleistert und gekämmt, wozu literweiße Gel, Schmiere und Fett verwendet wurde. Drumherum, an den Kopfseiten, machte der Frisör mit einer Haarschneidemaschine insoweit tabala rasa, daß nur noch die kleinsten Haarspitzen abstanden. Damit kam dessen langes, golden-glänzendes Ohrgehänge und ein silberne, dicke Schlangen-, Sichel- und noch sonstige Ketten um den Hals und die nackte Brust zum Vorschein. Schier verschwanden die Anhängsel hinter den dichten, schwarzen Brusthaaren.
Welch ein eitler Fratze!
Sein Bauch war in dieser Hockhaltung überdimensional nach vorne gewölbt. Als er sich von seinem ledernen Drehstuhl erhob, zog er ihn sofort ein, ließ ihn sich wieder entspannen, so daß er erneut wie eine dicke Beule nach außen flappte und schon zog er ihn wieder ein. Dabei lachte er feist. Der Frisör gleichfalls!
Was es da zu Lachen gab?
Das war nun seine Standarthaltung: Baucheinzug.
Obwohl er eine riesige Wanze hatte!
Verständlich bei diesem eitlen Geck!
Dieser Anblick verursachte ihr ein Kribbeln im Bauch, ein Zeichen ihrer Abscheu, eine körperliche Reaktion, die sich bis zur Unerträglichkeit, nahezu bis zur brechenden Übelkeit steigerte.
Auf solch einen aufgeplusterten Hahn war sie reingefallen!
Daran schuld war nur der düsterne Dönerladen und die fortgeschrittene Nachtstunde gewesen, daß sie nicht der Wahrheit ins Auge gesehen hatte.
Wie blind sie doch gewesen war!
Ihr Herz hämmerte im hektischem, monotonen Technostakkato.
Kein Wunder, daß er so einen dichten Bart trug.
Sein wahres Gesicht versteckte er darunter, genau!
Der Frisör nahm jetzt eine Schere zur Hand und schnippelte an seinen Ohren herum. Dem mussten die Haare aus den Ohren wachsen, weil jener daran herumdokterte, - und -schnitt. Zu ihrem Glück und ihrer zitternden, wankenden, flatternden Befindlichkeit, blieben ihr jedoch Einzelheiten erspart und entzogen sich ihrem Augenmerk.
Dann sah sie, wie er in eine andere Ecke des großen Raumes schritt und sich auf einen Plastikstuhl an einem schlanken Tisch setzte. Aus einem Hinterzimmer kam lächelnd, einen grellroten, dick gefalteten Vorhang zurückziehend, als trete sie auf eine Theaterbühne, eine Frau mit Mundschutz, die sich ihm gegenüber setzte. Sie zog eine Spritze aus einer Folie, tunkte sie in einen ovalen Behälter und zog daraus eine Flüssigkeit in ihren Zylinder. Mit dieser Kanülle näherte sie sich Ginas Geliebten oder Ungeheuer. Denn aus diesem war mittlerweile ein Monster, ein Perverser, ein Wesen aus einer anderen, dunklen Welt geworden.
Was sie nun zu sehen bekam, vollendete ihren Horror.
Die Schickse vor ihm näherte sie mit dieser Spritze den Lippen, in denen sie von links und rechts oben dann von links und rechts unten und schließlich genau in die zwei Mitten eine Injektion hineinstieß.
Mann, der ließ sich die Lippen aufplustern - mit irgendeiner chemischen Substanz, sprich Gift.
Und sie war Halbveganerin!
Hatte diese Giftwülste geküsst, zumindest versucht zu küssen, denn er hatte sich immer wieder geschickt entzogen.
Die Erniedrigung und der Haß war zum Bersten stark.
Sie fuhr zurück, lehnte sich wieder in an die Mauer, kuschelte sich in die Ecke und überdeckte ihr Gesicht mit den Händen. Sie hätte sich am liebsten mit den Knien auf den Boden sinken lassen, wenn es nicht zu kalt gewesen wäre – und außerdem, der war’s gar nicht wert!
Sie verspürte nun ein unbedingtes Bedürfnis nach Alkohol, nach starken, nach stärkstem!
So ein Flachmann wäre das beste! Oder gleich zwei. Alkohol macht frei!
Sie rannte los.


VIII. Polizeiliebe

Sie kommt schließlich der Aufforderung des Polizisten nach, sich das Protokoll, das er auffassen wollte und den vermeintlichen Tathergang des entwendeten Stofftieres zu rekonstruieren, zumindest jedoch ihre Aussagen diesbezüglich, anzuschauen, nach und erscheint im Polizeirevier.
Dazu fährt sie mit ihrem Fahrrad hin. Zwischenzeitlich holt sie sich ein Brot vom Bäcker und als sieaus dem Laden tritt, stellt sich ihr mitten auf dem Bürgersteig, ihrem Weg und zur kurzen Strecke des an dem Bäckerhaus angelehnten Fahrrades, ein dunkler, bärtiger Fremder in den Weg.
Diesen Zwischenfall wird sie gleich danach dem Polizisten wie folgt berichten, darstellen und schildern: „Plötzlich hat sich ein taubstummer Türke oder so quer auf der Straße vor mir aufgebaut und auf einen Zettel Papier gestupst. Ich verstand es so, daß ich es lesen solle und da war draufgestanden, man solle den Stummen und Tauben doch helfen. Also habe ich meinen Geldbeutel geöffnet, um ihn ein paar Euro zu geben. Aber da war kein Kleingeld drinnen, nur ein Zehner hat hervorgelugt. Ich kann leider nichts geben, habe ich mein Bedauern ausgedrückt. Aber der taubstumme Türke oder wer immer er war, hat frech in meinen Geldbeutel gefingert und den Zehner herausstipizt.“
Und Gina weint und weint dabei.
Dem Polizist, allein mit dieser Heulsuse im Präsidium sitzend, die diensthabenden Kollegen sind auf Streife, weiden sich die Augen, weil er ihnen nicht traut, nicht glaubt, was er sieht. „Da schau einmal guck!“, denkt er. „Das ist die letzthin bei meinem Hausbesuch rotzfreche Göre gewesen, deren Stofftier gestohlen worden sein soll - sowieso ein Betrug wahrscheinlich, wer klaut schon ein Stofftier? Die hat mit ihrem anderen Mitbewohner oder wer immer dies gewesen sein mag, irgend ein Lover von diesen Frauen, die in dieser misteriösen Wohngemeinschaft hausten, mit mir nicht schlecht Jo-Jo gespielt, sich auf meine Kosten amüsiert und mich wie einen Anfänger auf den Arm genommen. Mensch, welch vernünftiger Mensch hat schon von einer Kuschel-Tier-Entführung gehört, glaubt an so etwas und nimmt dies für bare Münze?“
„Ei, ei!“, denkt der Herr Polizist erfreut und erstaunt: „Was ist diese vorlaute, damals recht selbstbewusst und rotzfrech Aufgetretene heute denn für ein Weichei, die mir da den Arbeitstisch vollflennt? Jetzt hat sie wohl nicht mehr ihren Adjutanten zur Seite, was, jetzt entblößt sie sich, wie sie wirklich ist. Ein hilfloses Weibsbild!“
„Dabei habe ich bis zum Monatsersten kaum noch Geld“, und Gina flennt untröstlich.
Louis wird sie später trösten, wenn sie nach Hause kommt, indem sie sagt: „Du bist du. Du bist barmherzig, daran musst du immer denken!“
„Findest du?“
„Unbedingt. Daran musst du immer denken. Du bist eine gute Seele. So eine gute Seele findet man unter Tausend Menschen höchstens einmal!“
„Ja!“, ist Gina gerührt. „Meinst Du?“
Dem Polizisten allerdings stehen da andere Dinge vor Augen als den Trostspender, den Seelentröster, den hilfreichen Samariter zu spielen, nicht in dem Sinne, wie es ihre dicke Freundin machen wird, wie es vielleicht auch opportun wäre und nur zu menschlich.
Nein, der Polizist erkennt in Gina endlich wieder einmal eine Tussi, die in sein Beuteschema passt.
Dummerweise kommen da gerade seine Kollegen von der Streife zurück.
Er lässt Gina unterschreiben und meint, daß noch einiges zu klären sei und er die Sache weiterverfolgen werde und bis bald dann.

Gina zetert, weil ihr schlecht und schwindlig geworden ist, womöglich kreislaufbedingt, hervorgerufen von der kälteren Außentemperatur und der körperlichen Anstrengung des Fahrradschiebens und nun der Wärme der Innentemperatur des Hauses, der Küche, in die sie gerade tritt.
An der Haustürschwelle hat sie sich noch das Eis und den Schnee von den dünnen, chinesischen Turnschuhen gestreift, wobei allerdings einige Schneeflocken denn doch vom grauweißgestreiften Kapuzenanorak in die Küche fliegen, in der wir sitzen.
Schöne Bescherung, ich kreische auf wie eine Hysterikerin, weil ich etwas unerwartet abbekommen habe.
Davon hat Gina nichts mitbekommen, denn stumm fischt sie aus der Seitentasche des weiten schwarz-weißgestreiften Kapuzenanoraks, der viel zu dünn für diese Herbstzeit ist, einen veganen Döner und legt ihn auf den Küchentisch (übrigens überflüssig zu sagen, dass dieser nicht aus dem Laden des untreuen Türken stammt), und wendet sich zu ihrem Kühlschrank, um dort Eingekauftes einzulegen.
„Sicherheitskräfte wurden von randalierenden ausländischen Jugendlichen, wahrscheinlich aus Afghanistan, attackiert. Ein Beamter liegt im Krankenhaus mit einer Schädelfraktur, nachdem er, von den alarmierenden Anwohnern wegen Ruhestörung herbeigeholt worden war, zu Boden geschubst und dort mit Füßen traktiert worden war“, plärrt jetzt der zu laut eingestellte Radio.
„Diese verdammten Nigger!“, grölt Gina dazu, bevor sie wieder die gute Stube verlässt, ihren Anorak an der Garderobe und ihren Döner in ihr Zimmer abzulegen. „Was?“ Bin ich etwas von entsetzt. Eine ausländerfeindliche Gina? Unmöglich! So etwas hätte ich ihr niemals zugetraut. Bei ihrer Biographie!?
Aber Gina denkt, was ich noch nicht weiß, an ihren Polizisten, der das Opfer einer solchen Attacke hätte sein können, den sie vielleicht noch nicht liebt, aber Hoffnung in ihr entzündet hat. In Wirklichkeit kann sie gar nicht gegen Schwarze sein. Als Rastafa-Frau hat sie etliche Male mit schwarzhäutigen Gleichgesinnten gepoppt, geschlafen und sich gepaart, wobei sie, wie sie behauptet, so unglaubwürdig es klingen mag, sie noch nie mit jemanden in die Kiste oder auf die Parkbank gestiegen wäre, ohne bekifft, betrunken oder berauscht gewesen zu sein.
Gestern war ihr wieder der Polizist, der damals nach der vermeintlichen Entführung des Stofftieres ins Haus gekommen war, auf der Straße begegnet, in seinem Dienstauto und heute, vorhin ist sie erneut bei ihm gewesen, nachdem der aus seiner Blauen Minna ausgestiegen war, sowie er sie gesehen hatte, wohl nicht aus Galanterie, denn aus dem heruntergelassenen Türfenster zu reden hat ja nicht gerade etwas besonders Höfliches an sich, sondern weil ein Kollege dabei gewesen war, der außen vor bleiben, nicht mitkriegen und ahnungslos bleiben sollte, von dem was nun ablaufen würde.
So stellte er sich mit dem Rücken zum Kollegen, als er klammheimlich, langsam und ostentativ ein Handy in die weite Tragetasche Ginas verschwinden ließ - mit den barmherzigen Worten, dass jedem an der Existenzgrenze Kämpfenden unweigerlich die Tränen in die Augen geschossen wären: „Mädchen, bist ja arm dran. Nach diesem tollen Gerät kräht kein Hahn mehr. Das kannst es behalten. Und wenn Du nächste Woche in meine Dienststelle kommst, kriegst’ noch weitere Geschenke, da wirst Augen machen.“
Gina’s Gesicht, eine Mimik aus Überraschung und Misstrauen im Ausdruck, vermittelte Zurückhaltung.
Darauf konnte er sich nicht einlassen, das war ihm zu unsicher, zu zögerlich.
Da die beste Methode der Einflußnahme, Menschenführung und Pädagogik noch immer der des Zuckerbrots und Peitsche ist, schlägt er einen neuen Ton an, ganz sachlich und kalt, sprich furchteinflößend: „Du musst nächste Woche vormittags kommen! Hörst Du! Vormittags, nur vormittags nächste Woche! Wir müssen noch das Protokoll wegen des Stofftieres durchgehen, das ich verfasst habe. Du musst es genau durchlesen, dann unterschreiben, dass ich alles richtig aufgeschrieben habe.“
Noch immer zögerte Gina, zumal in diesem Ton mitschwang: „Du bist ein bisschen ein Blöderchen, was! Du brauchst es, daß man dich vorwärtsstupst, damit du dich vom Platz rührst!“
Der Polizist merkt es, rudert wieder zurück und gibt dem Affen ein Zuckerstückchen.
„Du willst doch sicherlich wieder Dein Stofftier, wie heißt es wieder?“
„Benno!“
„Genauso, Benno. Es lag mir gerade auf der Zunge. Diesen Namen kann man schier nicht vergessen, so äh, eindringlich, so schön, so...“, mehr fällt ihm nicht ein und er lacht sein feistes Lachen. „Ja, also Benno, den willst Du wiederhaben, nicht wahr?“
„Natürlich! Und ob!“
Gina wird plötzlich munter durch die Aussicht, ihr Lieblingsstofftier wieder in ihren Armen halten zu können.
„Na, siehst Du, Madl!“, und er klopft ihr kameradschaftlich auf die Schultern, so dass Gina Mühe hat, diesen Schlag parieren zu können und nicht umzufallen. Glücklicherweise stützt sie das Fahrrad ab.
Auf den Lippen des Polizisten bildet sich ein leichtes Grinsen ob der schwankenden Haltung, dem Schwindel und der Gleichgewichtsstörung seines Opfers und er ruft ihr noch einmal nach: „Nicht vergessen, Vormittags, nächste Woche“, als er sich schon umdreht gedreht hat und den geöffneten Schlag des Dienstfahrzeugs in Händen hält, bevor er darin verschwindet, wobei er, als er in den Beifahrersitz einsteigt, gleichzeitig richtungsweisend und zielführend mit einen Zeigefinger nach vorne weist, als wäre es dringend und er wisse genau, wohin die Reise gehe. Einerseits ist es Imponiergehabe, andererseits Ausdruck seiner Freude über nächstes abzuschießendes Wild.

Darauf hat sich Gina eingelassen, denn sie ist daraufhin zu diesem Polizisten gegangen, so dass der sie nach Strich und Faden beschenkt hat und sie nun verliebt ist, wenn auch mit Zweifeln behaftet.
Trotz beginnender Liebe zu jenem Polizisten hätte sie mehr Anlass, gegen diese zu sein.
Auf der Flucht vor der Drogenfahndung war ihr Lebensgefährte Kevin, als Gegenstand und Subjekt der Verfolgung wegen Konsums von Marihuana und anderem mehr, über eine Mauer geklettert, an einem Nato-Draht hängen geblieben und hat sich im unglücklichen Umstand selber erhängt, erwürgt und zu Tode gestürzt.
Aber!
Aufgeheizt brodelt jetzt der Wodka und das Bier in ihren Adern darüber, dass sie von diesem Polizisten im Verhör am Busen und Po angegrabscht worden ist, als sie sich ins Präsidium wegen des Stofftieres begeben hatte, angelockt durch vermeintliche Geschenke wie Handy, Kleidung und vieles mehr.
„Das geht doch nicht, dass der mir gleich an die Wäsche geht!“, stammelt und brummelt sie hilflos und aufgebracht und stark betrunken, so dass sie sich erschöpft auf einen Küchenstuhl niederlässt, der bedrohlich schwankt, als würde sie sogleich herunterfallen und abstürzen.
„Genau! So schnell schießen die Preußen auch wieder nicht“, entgegnet Louis.
„Ich habe ihm telefonisch gesagt, er solle das Handy zurücknehmen, es sich bei mir abholen oder ich bringe es ihm ins Präsidium vorbei. Jedenfalls geht das so nicht.“ Sie ist dieser abhängigen Situation des Staatsgewaltigen gegenüber völlig hilflos ausgesetzt. Sie hat also die Absicht des Polizisten, ihr ein Handy geschenkt zu haben, durchschaut, zumindest ist sie argwöhnisch geworden, nachdem sie sich in die Höhle des Löwen begeben hatte, in der sich schwer angeknappert, gekrallt und gebissen worden ist. Ganz deppert vom Alkohol ist sie noch nicht!
„Wie konntest Du bloß glauben, da entstünde etwas, wenn Du ins Geschäftbüro von dem gehst? Er hätte Dich beispielsweise ins Restaurant oder so etwas Ähnlichem einladen sollen, aber nicht zu ihm ins Revier. Das hätte Dir gleich verdächtig vorkommen und sagen müssen, dass da nichts Gescheites entstehen könne“, resümiert Louis.
„Naja, vielleicht ja doch, habe ich mir eingebildet. Man weiß ja nicht. Möglicherweise ist er ja ganz nett, habe ich gedacht.“
Sie wiederholt sich in der Folgezeit öfter in ihrem sternhagelvollen Zustand und hoffnungslosen Verzweiflung und dem Bewußtsein, wohl mißbraucht zu werden.
Zwischendrein sucht sie nach dem Döner in der Küche, den sie bereits oben in ihrem Zimmer abgelegt hat. Dadurch wirkt sie zerfahren, weil hin- und hergerissen, hier in der Küche oder oben im Zimmer zu suchen.
„Ist das vielleicht derselbe Polizist, der letzthin Wilhelmine, du weißt, die Behinderte im Rollstuhl, besucht hat? Sie hat erzählt, dass ein Polizist oder ein in einer Polizeiuniform Verkleideter zu ihr in die Wohnung gekommen sei und sie wegen irgendeiner Ermittlungssache hinsichtlich einem nur fernen Bekannten ausgefragt habe. Dabei sei dieser Uniformierte übergriffig geworden, ihr ständig an die Wäsche gegangen, hat sie erzählt. Aber sie hat nicht geglaubt, dass das wirklich ein waschechter Polizist gewesen ist.“
„Ja, klingt nicht so, als ob es einer gewesen wäre“, sage ich, denke aber angesichts Ginas Erzählung das Gegenteil. Das ist bestimmt der Gleiche gewesen. Mann, ein Polizist, der abhängige Zivilpersonen sexuell belästigt. Na Prost, Gemeinde!
Louis sagt schnell hinter dem Rücken von Genia zu mir gerichtet: „Vielleicht steht er auf gewisse Praktiken sexueller Art im Verhörraum.“ Dabei entblößt sie den Oberkiefer.
Ich grinse zurück: „Das kann schon sein.“ Ich knöpfe mir den obersten Knopf meines Hemdes auf, ist mir doch sehr heiß geworden.
In der Tat, Gina kommt jetzt erst mit „das geht doch nicht, das geht doch nicht!“, reichlich spät, nachdem sie sich schon ins Spinnennetz hat locken lassen.
Als sie auf die Wache gekommen ist, hat der Polizist nicht nur weiter versucht, sie zu beschenken und sie hat zuerst gemeint, der bedüttel sie, weil er etwas für sie empfindet, vielleicht sogar so viel wie Liebe. Aber spätestens mit der Fragerei und Anstupserei, ist es selbst ihr klar geworden, worauf der letztlich bloß rauswollte: „Jetzt erzähl mal, Mädl! Wen kennst Du, der Drogen nimmt? Du musst mir alles erzählen, den kleinsten Verdacht. Aber das wird nicht notwendig sein. In deinen Kreisen kreist nur so der Joint, was. Ha ha!“ Dabei griff er ihr an den Busen und maß ihn ab, wie man Körpergröße, Gewicht und Augenfarbe taxierte. Allerdings gehörten dieses Maßnehmen mitnichten zu seinen Pflichten.
„Beachtlich!“, raunte er.
Er war durchaus beeindruckt von diesen Maßen. Dieses Tun genoss er wohl in vollen Zügen, mehr als nur sein kaltschneuziges Schnüffeln im Umfeld Ginas.
Er wog den Busen in seiner Hand, soweit es ging. Der Busen übertraf jedoch die Spannweite seiner Pratzen.
„Bestimmt 4 Pfund Fleisch!“, ein feistes Lachen zerteilte sein Gesicht in zwei Hälften.
Dann strich er sanft über ihre Nippeln, kreiste um sie und piekste sie mit zwei Fingern, so daß Gina leicht aufschrie, sich zurücklehnte und ihre Brüste hinter dem weiten Anorak verbarg.
Blöder kaum konnte ein Mann sich ausdrücken und benehmen. Die gewählte Formulierung aus dem Metzgerhandwerk ging Gina denn doch zu sehr gegen den Strich. Sicherlich, wenn der Herr Beamte nicht so viele Vorurteilte gehabt hätte und etwas vorsichtiger vorgegangen wäre, wäre die Falle zugeschnappt und Gina hätte wie ein Fluss fließt gequasselt wie eine Ente und anderes mehr getan höchstwahrscheinlich. Aber das hier – das war zu blöd!
Sie hat daraufhin versucht, sich schnell wieder zu verdünnisieren und je länger sie von diesem blau Uniformierten weggewesen war, desto klarer wurde es ihr, worauf der überhaupt bloß hinauswollte: Sie quasi als Kronzeugin aufbauen, um die Kiffer, Kräuter-Konsumenten, Amphitaminsten, Ekstacyi- und Mandraxkonsumenten und/oder Speed-, Kokain- und Heroinschnupfer dingfest zu machen, diejenigen, die eh schon mit sich selbst zu krebsen hatten, die ärmsten von den Armen. Daß Drogensucht laut Gesetz als anerkannte Krankheit gilt, erzähle mal einen Beamten, der dafür sorgen solle, dass die Gesetze eingehalten werden! Nun, es gibt Drogen und Drogen, die einen sind keine Drogen und die anderen sind Drogen!
Politik! – Igitt!!!
Aber nicht mit Gina!
Die ja auch Illegales konsumierte, zu den Antis zählte.
Mochte sie vom Alkohol ja schon ein bisschen plemplem, die ein oder andere graue Gehirnzelle angefressen, ihr Hirn davon überschwemmt sein, aber schwachsinnig, debil, dement, gaga, kirre-kirre, durchgedreht, abgehängt und total bekloppt war sie noch lange nicht. Noch hatte sie ein Gespür dafür, wer es wirklich gut mit ihr meinte.

Schön, dass wir jetzt Luft schnappen gehen und uns nach draußen begeben, um sich auf die Schwelle des alten fränkischen Fachwerkhauses zu setzen. Es riecht aus den danebenstehenden Abfalleimern, grüne, weiße und braune Tonne, weil seit Jahren nicht mehr gründlich gereinigt, ausgeputzt und geschruppt worden sind. Wir schauen durch die schmale Gasse auf die Innenstadt-Straße, durch die immer wieder am Steuer sitzende Backfische Ralley-Rennen veranstalten. Vielleicht aber auch sind es Polizei-Aspiranten, - ist doch dieser Beruf bei Jugendlichen sehr beliebt geworden - die sich bereits auf ihren Diensteinsatz vorbereiten? Wundert es jemanden, dass hier keine Geschwindigkeits-Meßgeräte aufgestellt werden?
Gina verfällt nun wieder in heulendes Elend, diesmal über ihre Vergangenheit. Sie müsse mit einem noch Lebenden unter ihren Freundeskreis unbedingt heute noch Kontakt aufnehmen, um mit dem über ihren verstorbenen Rastafa-Freund Kevin zu reden; sie brauche dies; sie müsse dies unbedingt spätestens am Wochenende machen.
„Und dabei“ - Genia gerät wieder in einen weinerlichen Tonfall, - ihre Nostalgie- und Erinnerungsseeligkeit tut ihres dazu – sagt sie hinsichtlich dieser Situationen mit dem behördlichen Aufdringling -„wollte ich gar nichts von ihm.“
„Kevin war so etwas von einem schönen Rastafa-Locken-Mann“, und sie meint wieder ihren verstorbenen Freund. Sie macht dabei keine Andeutung mit der Hand bis zur Taille, was sie sonst immer tut, was ein Anzeichen ihrer verstrickten Hilflosigkeit darstellt. „So schön.“ Ob er von Haus auf schön war oder wegen seiner Erscheinung der bis zum Hinternansatz herabfallenden Dreadlocks bleibt offen.
Uns ist kalt geworden und wir sind wieder in die Küche gegangen. „Mensch, habe ich einen Durrrscht!“, noch schnatternd, aber mit dem Anstieg des Alkohols im Blut bereits grunzend, leicht besetzt mit einem nasalen Tonfall und als sie sich daran macht, in Schränke, Ablagen und Kühlschränke das Objekt ihres Wunsches zu suchen, den mitgebrachten vegangen Dönner, nuschelt sie nur noch ein unverständliches Kauderwelsch.
Sowie sie nichts findet, lässt sie die Hände in den Schoß fallen, als betete sie und erzählt grinsend, was sie alles in der Vergangenheit mit Kevin so Schönes genießen, erleben und erfahren durfte - ach! Sie ruft sogar Gott an, dem sie dafür dankt: „Daß ich solch schöne Dinge habe teilen, erleben und erfahren dürfen, die Du mir geschenkt und hast zukommen lassen und... Aber das mit dem Polizisten, den Du mir geschickt hast...“
Da ein „Klageweib“ für Außenstehende kein schöner Anblick ist, verkrümeln wir uns bald in Louises Zimmer, Gina ihrem Schicksal überlassend, Mensch – wir haben’s schließlich auch nicht leicht!
„Meinst, ich sollte vielleicht mal bei den Polizeimann anrufen.“
„Wie meinst?“
„Naja, ich als Mann. Vielleicht denkt er dann, ich sei ihr Freund und er lässt sie in Ruhe.“
„Hm! Aber ich gehe lieber mal erst fragen, warte mal!“
Sie geht zu Ginas Zimmer hoch. Als sie kommt, gibt sie mir grünes Licht.
Ich rufe am nächsten Tag an.
„Also, Herr Polizist. Meine Freundin, die Gina, hat mir erzählt, sie machen ihr Geschenke. Wissen’S, in Wirklichkeit will sie das gar nicht. Und ich als ihr Freund, möchte das auch nicht. Dies wollte ich ihnen nur sagen.“
Der Mann von Polizist tut amtlich.
„Habe verstanden. Geht in Ordnung.“ Das ist doch gar kein Problem, klingt es, wenn sie es nur gesagt hätte, hätte ich es nicht getan, fügt er noch hinzu.
„Gut, dann ist ja alles klar!“ Und ich lege und atme auf, ich wollte mich nicht mit ihm anlegen, aber dennoch klar die Botschaft, dass er die Finger von Gina lassen soll. rüberbringen und ich glaube, es hat geklappt. Tatsächlich lässt er Gina von nun ab in Ruhe.

IX. Genugtung!?

Ein paar Wochen später kam Gina mit einem Zeitungsartikel in die Küche herein. Wir staunten Bauklötze.
„Es war widerlich“, lautete der Titel. „Einem ehemaligen ...er Polizisten wird sexuelle Belästigung vorgeworfen.“
Als ich das lese, schaue ich auf und blicke in die Augen der beiden Frauen. „Les, les!“, drängt Louis.
Aber ich kann hier nicht alles wiedergeben, denn vieles war überflüssig in diesem Artikel, besonders der erste, der einen Vergleich mit dem gleichen schwülen, heißen und trockenen Wetter vom letzten Jahr und dem derzeitigen zog und damit die Ereignisse ableitete, die eine Athmosphäre hervorriefen, die mich abstieß.
„Am Donnerstag startete der Prozeß gegen den ehemaligen ...er Polizisten Peter M. (alle Namen der Be igten von der Redaktion geändert). Die Vorwürfe gegen ihn wiegen schwer: M. soll während seiner Tätigkeit als Polizeibeamter zwei Frauen zu Hause aufgesucht, sie begrapscht und bedrängt haben.
Die Anklage lautet auf sexuelle Belästigung und sexuelle Übergriffe. Besonders schwer wiegt, dass M bei einem der Fälle seine Uniform getragen haben soll – inklusive Dienstwaffe. Peter M. bestreitet dies, ebenso wie alles andere, was ihm vorgeworfen wird.
Dorothee L., die erste Geschädigte, soll er zu Hause in ihrer Wohnung in ... aufgesucht haben, um dort mit ihr über Probleme bei einer Sachbearbeitung zu sprechen. Die Frau war zuvor mehrfach wegen Streitigkeiten mit ihrem Lebensgefährten in Kontakt mit der Polizei geraten, dabei kannte sie M. Als die Frau ihn in ihre Wohnung gelassen hatte, soll Peter M. sie an der Brust berührt und sie aufgefordert haben, sich auszuziehen. Als sie ihn wenig später bat zu gehen, soll M. sie noch aufgefordert haben, den Vorfall für sich zu behalten.
Bei der zweiten Geschädigten handelt es sich um die Seniorin Christel J., die er während einer Streife vor ihrem Haus in ... gesehen hatte. Für den Tag darauf habe er sich unter dem Vorwand, dass er sie zu Problemen in ihrer Straße befragen wolle, mit der Seniorin verabredet. In ihrer Wohnung angekommen, soll er ihr laut Anklage ebenfalls mehrfach an die Brüste gefasst, sie gegen ihren Willen umarmt und geküsst haben.
Zwei alleinstehende Frauen, die in einer wehrlosen Situation ausgenutzt worden sein sollen. Das Bild, das Peter M. in seiner Aussage zeichnet, ist ein anderes. Er habe Dorothee L. besucht, um ihr sein Beileid zum Tod ihres Lebensgefährten auszusprechen. Beide gehörten in ... zum „Trinkermilieu“, wie er sagt. Sie habe auf ihn „abwesend“ und ungepflegt gewirkt, als er sie besucht habe, um ihr seine Hilfe anzubieten. Zu einem sexuellen Kontakt sei es nie gekommen, doch habe ihm die Frau erzählt, wie einsam sie nun sei, da sie niemanden mehr habe.
Auch im Fall von Christel F. leugnet der Angeklagte, was ihm vorgeworfen wird. Er berichtet, dass F. von sich aus versucht habe, ihm sexuell näherzukommen. Nicht nur sei sie unbekleidet gewesen, als sie ihm die Wohnungstür öffnete, sondern sie habe sich auch später erneut entblößt und ihm gegen seinen Willen umarmt. Für seinen Besuch benennt der Angeklagte vor Gericht auch einen anderen Grund, er habe sich am Vortag Sorgen um die Frau gemacht, die in großer Hitze mit hochrotem Kopf auf der Straße gestanden habe.
...
Ungereimtheiten in den Aussagen gibt es bei fast allen Zeugenaussagen, nicht nur bei der von Christel F., die am ersten Verhandlungstag aussagt. Nicht alles, was sie sagt, deckt sich mit ihrer Vernehmung bei der Polizei. So hatte sie damals ausgesagt, der Angeklagte habe sie nach der ersten Begegnung abends angerufen, um sich für den nächsten Tag mit ihr zu verabreden. Vor Gericht konnte sie sich daran nicht erinnern. Eines sei ihr jedoch immer noch klar, sagt sie: „Es war widerlich.“
Doch auf aufseiten der Polizisten, die im Prozess als Zeugen geladen wurden, kommt es zu unstimmigen Aussagen. Der Kollege, mit dem Peter M. zum mutmaßlichen Tatzeitpunkt auf Streife war, hatte in seiner Vernehmung noch gesagt, er habe nicht gewusst, warum sein Kollege nach... gefahren sei. Vor Gericht dagegen stellte er fest, dass er gewusst habe, dass sein Kollege bei der Seniorin vorbeifahren wolle.
Dass er in seiner Vernehmung gesagt haben soll, er „stehe auf ältere Frauen“, könne nicht sein, meint der Angeklagte. Das habe er im Vorgespräch zu dem Kollegen gesagt, damit es ihm später nicht falsch ausgelegt werden könne. Wie diese Aussage in das Protokoll gekommen ist, können weder Peter M. noch der Beamte, der ihn befragt hat, erklären...“

Wir freuen uns. Die Gerechtigkeit sollte zu ihrem Recht kommen, wie es schien. Auf die Frage, ob sich Gina nicht jetzt auch bei der Polizei, beim Gericht melden sollte, um die beiden älteren Damen mit ihrer wahrscheinlich berechtigten Anklage und Ansinnen zu unterstützen, winkt Gina ab: „Nein, das will ich nicht machen. Ich will nicht noch mehr Scherereien bekommen.“
Ich verstehe sie. Wer will schon öffentlich zum Trinkermilieu zählen, wobei ausschließlich die sogenannten „Unterschichtler“ zählen. Will eine Journalistin wissen, daß die oberen Zehntausend nicht minder trinken, saufen, gifteln? Aber ich weiß es: sie tun es genauso!
Ich finde Ginas Verhalten, wenn auch verständlich, dennoch feige. Mussten Unterdrückte nicht zusammenhalten, zumal die Frauen, sich gegenseitig Hilfe leisten, um der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen und um diese Dinge im Vorfeld bereits schwieriger zu machen? Aber egal, welche mehr oder weniger schwülstigen Worthülsen und abgedroschenen Sätze, Sprüche, Gemeinplätze, die mir aber nicht so erschienen, ich gebrauchte, Gina bleibt ungerührt, halsstarrig und stur. Wir sind sehr gespannt, wie die Richter entscheiden werden. „Die stecken doch unter einer Decke!“, gebe ich mein resigniertes Urteil ab. Aber es soll anders kommen – hat es den Anschein, vorläufig, wer mit der Justiz zu tun hat, weiß, wovon ich rede.
Nach einigen Wochen berichtet Louis, sie habe gehört, der Polizist sei schuldig gesprochen und tatsächlich verurteilt worden. Er hätte über all die Vorkommnisse mit den älteren Damen, so sie sich zugetragen, ein Protokoll führen müssen, was er unterlassen habe. Erschwerend, was zur Strafe von zwei Jahren Gefängnis beigetragen habe, sei gewesen, dass dieser bei seinem übergriffigen Verhalten noch in Uniform und mit Dienstwaffe aufgetreten sei, was sicherlich bei den Geschädigten eine einschüchternde Wirkung gehabt haben mag.
„Amtsmissbrauch!“, denke ich. Ich bin richtig erfreut, dass es so eine Person auch mal erwischt hat, einen, der mit einem Panzer der Unantastbarkeit umgeben ist. Aber wahrscheinlich ist das letzte Wort nicht gesprochen, der Polizist, so wie er schamlos lügen konnte, wird alle Rechtsmittel ausschöpfen, sich einen Rechtsanwalt der gewiefteren Art leisten und alle Rechtswege durchschreiten, um die Strafe womöglich in eine geringfügige umzuwandeln. Schade, daß wir nicht wissen, ob die Strafe auf Bewährung ausgesetzt worden ist. Aber die Vorstellung, er würde wirklich zwei Jahre als ehemaliger Ordnungs-, Gesetzes- und Regelhüter in den Strafvollzug kommen, bei den vielen Sträflingen, Kriminellen und Verurteilten, die mit ihrer Häme, Vergeltungs- und Rachsucht nicht hinterm Berg würden halten, ist so genugtuend wie unwahrscheinlich.
Dadurch bekam im Nachhinein mein nächtlicher Einbruch in das Gemach Ginas, des Zerstörens und Wegwerfens des Stofftieres einen Sinn.
Leider war die Freude darüber sehr kurz.
Denn man setzt mir die Krone der Ironie auf, die Narrenkappe, die Pappnase.
Gina überreicht mir feierlich ihr Stofftier.
„Du hast mich vor dem Polizisten gerettet. Wenn du nicht angerufen hättest! - Deshalb gebe ich dir das beste, was ich habe. So dankbar bin ich dir!“
Ich halte diesen schicksalshaften Hund aus Stoff in den Händen, sein Kopf hängt ihm nicht herab, aber meiner und ich versuche dennoch aufrecht der Situation ins Auge zu sehen, ja sogar breit zu grinsen, Zähne zum Lächeln zu bilden...
Gina und Louis klatschen vor Freude in die Hände.
Ich kann nicht beschreiben, wie ich mich fühle und mir fehlen jegliche Worte...


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Genugtuung - Ende

Beitragvon Pentzw » 09.04.2019, 20:40

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Beitragvon Pentzw » 25.04.2019, 00:29

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Beitragvon Pentzw » 12.06.2019, 11:42

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Beitragvon Pentzw » 25.06.2019, 13:22

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Beitragvon Pentzw » 22.10.2019, 08:53

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