Menschen am Bahnhof: ein Zahnarzt - Erzählung

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Pentzw
Kalliope
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Menschen am Bahnhof: ein Zahnarzt - Erzählung

Beitragvon Pentzw » 23.02.2021, 20:54

Ausflug zurück von Bimbam-Berg.
Mit meinem Ticket können zwei Personen fahren. Ich getraue mich, eine mit Fahrrad anzusprechen, mit meiner Karte mitzufahren. Dabei kann ich mir ein paar Euro sparen.
„Ich habe schon letztes Mal schlechte Erfahrungen gemacht."
„Hören Sie meine Stimme?" Die Maske gegen Covid kann ich nicht abnehmen. „Klingt meine Stimme trügerisch?"
„Vor einem Jahr hat mich dies schon jemand an dieser Stelle gesagt, dass er nur so nebenbei jemanden mit seiner Karte mitnimmt. Aber ich kann es nicht glauben. Dahinter steckt bestimmt ein Geschäftsmodell. Also, existieren Sie davon, dass sie Leute mit ihrer Karte mitnehmen?“
„Sie meinen, dass ich ständig hin- und herfahre und damit mein Geld mache? Gute Idee, aber leider habe ich manchmal etwas Besseres zu tun.“
„Oder warum machen Sie das?“
Zuhören scheint nicht seine Stärke zu sein. Aber Neugierde ist bei ihm um so ausgeprägter.
„Also, ob einige davon ihren Lebensunterhalt bestreiten, entzieht sich meiner Kenntnis.“ Nichts wissen, nichts hören, nichts sehen – der Mensch ist ein Affentier. Außerdem sieht er mir eh nicht so aus, als ob er am Hungertuch nagte, was einen Grund für seine Neidaussage hergegeben hätte gegenüber den armen Kirchenmäusen, die sich nebenbei auf diese Weise ein paar Käsestückchen stibitzen.
Ein Wort einzulegen für die Mühseligen und Beladenen, die psychisch Kranken, die Süchtigen oder die von den Behörden zur Untätigkeit verdammten, offenbarte mich als humanes Wesen. Ich schlage vor, dass wir uns doch auf dem Weg zu demjenigen Bereich des Bahnsteig machen sollten, auf den gerade die Sonne herunter scheint.
„Außerdem, von irgendetwas müssen die Menschen schließlich leben. Bevor sie faul rumhängen wie die Affen auf den Bäumen...“
Er murmelt etwas Unverständliches und schwenkt akrobatisch das erstklassige Fahrgestell des breitreifigen Mountainbikes durch die Luft, um es sich schließlich unter den Arm zu klemmen, wirklich, nicht auf den Boden zu setzen, durchaus Affen-agil und -konform, und loszieht das Affenpaar, aber nur im Sinne von zwei Personen, denn wir müssen uns einfach unterscheiden, nicht nur geistig, sondern auch stammesgeschichtlich: Sehr schwarz behaart, zumal die augenbrauen buschig, muskulös und breitknochig, athletisch, gestylt und gebodybuiltet ist er. Seine Vorfahren müssen einfach viel länger im Urwald gehaust haben als meine, die sich wohl früher auf die Pampa verteilt haben und dann vorm Meer Halt gemacht haben, denn mich kennzeichnen blaue Augen des Meeres, der See oder des Flusses. Ich schaue von der Seite heimlich in seine Augen und sehe und fühle mich bestätigt an seinen rotbraunen Augen, dass seine Vorfahren viel, viel länger in dichten, dumpfen Waldgegenden gehaust haben.
Wir kommen ins Gespräch: Verteilungskämpfe, rückläufige Evolution, siehe Kriminalitätsrate und Kriege allerorten, steigende Unterdrückung, Bevölkerungswachstum, Pandemien – aber glücklicherweise sind wir schon auf dem Weg zum Mars!
Sei das ein vernünftiges Ziel, frage ich ihn.
Er sei Zahnarzt, kein Astronom.
Nun, diese Richtung des Gesprächs bildete wohl eine Sackgasse. Wir mussten uns also auf ein anderes Sachgebiet kaprizieren, um weiter im Fluss zu bleiben. Was hatte er wieder gesagt: er sei Zahnarzt.
Also erzähle ich ihm, dass ich aufgrund genetisch rückläufiger Evolution bzw. Einrasten in den natürlichen Zustand meiner ursprünglichen Zahnstellung mir jüngst eine Kieferkorrektur geleistet habe. Als Kind hatte Mamam diese Justierung bei mir vollziehen lassen, letztere sich nun wie die Menschen-geschichtliche Evolution verhielt, nämlich zurück in den Urzustand der wilden Tiere und keulen schwingenden Primaten.
„Das ist sehr, sehr teuer, so eine Kieferbehandlung!“
„Nicht, wenn man sich dies in Ungarn, in Budapest machen lässt!“
„Die ungarischen Mädels sind die schönsten der Welt!“ Welch kühne Behauptung!
Sind denn nicht die skandinavischen Frauen die schönsten? (Judith, falls Du das hier liest, verzeih mir, bocsanot [botschanot], dass ich dies sage. Ich habe Dich immer geliebt und vermisse Dich noch heute!)
„Aber mittlerweile gibt es dort auch so dickleibige Frauen – die Amis [Nord-Amerikaner] haben ihre Spuren hinterlassen.“ Wieder so eine kühne Behauptung.
Das ist die Frage, die ich aber bei mir behalte. Früher waren die Frauen dünner vor Hunger und hatten wohl ein stets schmerzendes Hungergefühl und nunmehr sind sie in ein hohlbäuchiges Sättigungsgefühl versetzt, vorerst, bis es dann zu anderen beschwerlichen Dahin- und definitiven früheren Ableben kommt. Wahrscheinlich ist dem Menschen ersteres wichtiger, würde sonst der Westen nicht an dieser Front gewinnen?
Der Zug kommt.
Wir steigen ein.
Beim Über-die-Trennlinie-von Bahnsteig-und-Zug-Schreitens, Hochheben und Absetzen des Fahrrads springt ihm die Kette vom Ritzel. „Oh!“, ruft er spontan aus. „Das ist schlimm!“, sage ich. „Aber nein, meint er. Kein Problem!“ Und ratz, fatz hat er die Kette wieder aufgesetzt. Ich staune nur, schlußfolgere, er ist bestimmt ein guter Zahnarzt, wenn bei Patienten mit den Zähnen etwas nicht stimmt und er setzt ihnen so schnell wie eben beim Fahrrad Kronen, Plomben und künstliche Zähne auf, dann versteht er sein Handwerk wie aus dem F-F. Soll ich mir seine Adresse geben lassen? Aber aus irgendeinem Grund zögere ich.
Infolgedessen sprechen wir nicht viel: ich lese Zeitung, er träumt wohl von den Dirnen dort unten in der flachen Puszta und der blauen Donau, während sein Blick aus dem Zugfenster über die südoberfränkische Ebene schweift. Ja, dieser schmachtende Blick über die Landschaft, es weckt auch in mir Fernweh in die milderen und trockeneren Breitengrade der ungarischen Tiefebene.
Aber ich gestehe, ich versuche ihn schon ein bisschen auf die Palme zu bringen. Denn ich kann schwer einen Zusammenhang herstellen zwischen seinem Geldneid und Berufs als Arzt, zudem Zahnarzt. Schließlich kann ich mich nicht beherrschen zu bemerken: „Beim Zahnarzt hat man doch auch einmal 10 Euro Praxisgeld bezahlen müssen. Also, getrennt, bei einem x-beliebigen Arzt bereits und obendrauf noch bei Dentalspezialisten.“
Er zeigt sich überwältigt von den negativen Folgen dieser ehemaligen Praxis-Handhabung in Bayern und lamentiert darüber.
Wir erreichen unterdessen die Drahtzieher-Stadt Erlangen – seiner Konstitution nach zu schließen, hätte ich mir bei einer früheren Bekanntschaft vielleicht viele schlechte Erfahrungen mit den anderen deutschen Zahnärzten erspart – nicht nur seiner Neandertaler-Statur nach, weil ein solcher Mediziner zupacken können soll und muss. Eben auch mit Zahnspangen, die aufspringen und so herausstehen, man damit nächtlich Harakiri machen müsste. Der teure deutsche Arzt hat am Freitag aber keine Termine mehr frei. Die Notaufnahme schneidet sie mir vorerst ab. Am Montag wird vom Zahnarzt eine neue reingezogen. Am Montagabend springt sie wieder auf. Am Dienstag wird sie erneut justiert. Am Abend springt sie wieder auf. - Und dafür blecht man das vierfache dessen, was man in Ungarn tut!
„Aber deutsche Ärzte sind die besten in Verdrahtung...“, oder so etwas Ähnlichem tönt er, während wir in die gelobte Stadt der angeblich besten Drahtzieher der Welt eintrudeln.
„Fahren Sie nun wieder zurück?“
„Außerdem wohne ich nicht in Bamberg, sondern Nürnberg.“
Für die Nicht Ortskundigen: das ist die andere Richtung. Und also kommt er wieder auf dieses leidige Thema zu sprechen, dass ich ein vermeintlicher Nebenjob-Ticket-Fahrer bin.
„Köszönöm szepen!“
„Was heißt das?“
„Danke sehr.“
„Ach so!“
„Szivesa [schivesa] müssen Sie dann sagen.“
„Achso!“
„Viszontlátásra! [Visontlatascha]“ Das heißt Auf Wiedersehen.
Ein Lachen, ein Grinsen, ein Grienen – welch eine breite Neandertal-Schnute.
Wir erheben uns und der „deutsche“ Mann wendet sich ganz gewissenhaft noch einmal zu seinem Sitzplatz um und sagt: „Auch nichts vergessen!“ „Vor allem nicht den Kopf!“, sage ich. Obwohl es bei ihm darum auch nicht schade gewesen wäre.
Es dauert, bis wir vollständig in den Bahnhof eingefahren sind. Derweil bewundere ich die Statur dieses Exemplars eines idealtypischen Zahnarztes: ein wahrhaftiger Hüne, dicke Knochen, nämlich einiges dicker als meine und die sind auch nicht von schlechten Eltern. Vor ihm würde ich mich leichten Herzens auf den Schleudersitz, Arztsitz, Operationsstuhl legen. Gesetzt den Fall, er ist auch noch entschlussfreudig, dann wäre er wohl perfekt in seinem Beruf, in dem man zupacken müssen kann.
„Man hat mir damals abgeraten nach Budapest an die Semmelweiß-Universität zu gehen – wegen des Ungarisch.“ Mit Bedauern hat er dies ausgedrückt – möglicherweise im imaginären Anblick der schönsten Frauen der Welt.
Unsereins hat sich da nicht abhalten lassen, wenngleich ein geistes-, nicht ein naturwissenschaftliches Studium belegt. Er hätte es wohl einfacher gehabt als ich, denn ein dental wissenschaftliches Studium baut auf Termini wie Latein und Griechisch auf. Unsereins ist im Ungarischen nur auf ein einziges bekanntes Wort gestoßen, wirklich wahr und dies war aus dem schwäbischen Dialekt. Ansonsten musste ich quasi diese Sprache gänzlich neu von Anfang an lernen.
Abgesehen davon ist aber der beste Sprachunterricht noch immer der im Bett. Und spricht die Gespielin fast nur Englisch gleich allen Prostituierten auf der Welt, hat man Hinweis darauf, dass nicht unbedingt echte Liebe darin zu finden ist. (Judith, Du meine ehemalige Bettgespielin, hörst Du, dies ist eine Liebeserklärung, denn ich beherrsche heutzutage ganz leidlich Ungarisch.)
Meine Bemerkung von vorhin, von wegen nicht den Kopf vergessen, nimmt er mir nicht übel, behände ist er mit seinem Drahtesel beschäftigt. Er geht damit ruckzuck um, muss man neidlos sagen. Bestimmt ein guter Zahnarzt, zumindest physisch bringt er alle Voraussetzungen dafür mit...
„Örülök! Enchanté. Habe die Ehre!“
Und ab durch die Mitte geht Zahnarzt den Weg des geringsten Widerstandes.

© Werner Pentz

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