Verbrechen wider Willen - Wahrer Heimatkrimi

In diesem Forum kann sich jeder mit seinem Text der Kritik des Publikums stellen. Selbstverständlich auf eigene Gefahr ...
Pentzw
Kalliope
Beiträge: 950
Registriert: 11.04.2011, 19:59

Verbrechen wider Willen - Wahrer Heimatkrimi

Beitragvon Pentzw » 11.05.2021, 18:33

A. Samstag Abend

1. Plötzlich ist alles anders ...

Rote Blitze wie Supernova flammten im schwarzen Nichts auf – in einem Kopf, der hingebungsvoll und entspannt mit geschlossenen Augen auf der Sitzstütze seines Mercedes-Benz-Cabriolet ruhte.
"Kree...", ertönte ein störender Laut, momentan aber auch so etwas von egal, total egal. Daneben beugte sich eine Frau über ihn und verursachte schmatzende Laute mit ihrem Mund.
Langsam öffnete sich über ihnen das Verdeck des Cabrios, das diese versehentlich mit ihrem Ellenbogen gegen einen Hebel auf der Mittelkonsole losgestossen hatte. Aber weder er noch sie bemerkten dies im geringsten.
Dem Fahrer des Autos, über dessen nackter Haut ein Luftzug strich, waren die Umstände so etwas von egal. Wenn er überhaupt etwas dachte, dann: Wahrscheinlich frischt gerade das Wetter auf und ein Windhauch zieht durch den Spalt der Windschutzscheibe.
Für einen Moment weiteten sich seine Lider einen Spalt und er sah die Welt verkehrt herum, da sein Kopf auf der Sitzstütze ruhte, während die Abdeckhaube über ihm langsam aufging und am Heck in Falten zusammenschrumpfte. Egal, in welcher Lage auch immer er und seine Beifahrerin sich befanden, mit Gaffern war jetzt am Abend nicht zu rechnen. Egal auch, weil das Verdeck bis zum Anschlag aufgehen musste, bis man es wieder einfahren konnte. Also erneut Augen zu und den Farbenrausch, das Wabern des Hintergrunds und die Lust vollkommen und in vollen Zügen auskosten.
Das tat er so lange besinnungslos, bis er am Rande seines Bewusstsein verschwommen Stimmen hörte. Dennoch reagierte er noch nicht.
„Mensch, das Verdeck geht ja auf!“
"Um so besser. Damit haben wir die Szene noch besser im Fokus. Das wird ein richtig scharfer Porno, was!“
Allmählich wurden die explodierenden, buntfarbenen Flecken schwächer. Gleichzeitig schwoll damit die Lust ab. Nahezu nüchtern wurde er wieder und das All um ihn herum wieder schwarz. Ganz weit weg allerdings blinkte es immer wieder rot auf. Ein sterbender Stern in seinen letzten Zuckungen?
„Vielleicht können wir den Film als Porno ins Internet stellen! Gegen Geld, verstehst!"
"Geh näher ran Mann!“
"Mach ich, mach ich ja schon!"
Schlagartig öffnete er die Augen und war hypnotisiert von einem rot-blinkenden Licht.
„He, nicht aufhören, Mann! Action!“ Ein dreckiges, lautes Lachen dazu.
Er begriff, sie wurden gefilmt, mit einem Camcorder, schon lange, obwohl sie sich doch, er und seine Partnerin, unbeobachtet fühlten und schamlos wie in einem Schlafzimmer verhalten hatten. Ihm blieb keine Zeit mehr, Scham zu empfinden. Der Vorrang riss und Angst schlug heftig zu.
Er stößt die Frau abrupt von sich und hebt schnell den Schoss, um seinen Reißverschluss zu schließen. Auch sie hat jetzt die Umstände erfasst, blickt ratlos um sich, als befände sie sich auf einer einsamen, unbekannten Insel. Aber geistesgegenwärtig genug ergreift sie ein Taschentüchlein und reibt sich damit den schmierigen Schleim vom Mund.
Der Kameramann filmt und filmt, lacht dabei freudig, verdreht seinen Kopf immer wieder nach hinten, wo jemand stehen musste und über seine Schultern sieht. Aus dem Schatten tritt schließlich ein bulliger, korpulenter, dunkler Mann. Während sich der hochgewachsene schlanke Kerl vor Lachen und Freude nicht mehr zu beruhigen scheint, fixiert dieser scheinbar ungerührt Set und Szene. Kleinkriminelle, Strauchdiebe, Drogenabhängige?
Dem Blonden hängt schief aus dem Mundwinkel eine Zigarette, an der er wie ein kleines Baby nuckelt. Der andere kaut an etwas wie eine Kuh im Maul das saftige Gras.
Sie befanden sich auf einem Parkplatz des Bezirkskrankenhauses. Dem Fahrer, der als Arzt und die Beifahrerin, die dort als Krankenschwester tätig waren, war bekannt, dass dies eine berüchtigte Abteilung für „Drogenentzug und Rehabilitation" hatte und was das bedeutete.
Hatten Personen Ausgang? Waren einige ausgebüxt? Brachen diese beiden vielleicht gerade einen Suchtentzug ab? Es geschah sehr häufig, dass Abhängige kurz bevor sie in den gefürchteten Entzug einfuhren, die Panik bekamen, flohen oder nur mal kurz stiften gingen, um irgendwo, meist Alkohol, zu ergattern, um sich zum letzten Mal die Birne zuzudröhnen, bevor es ab in die trockene Wüste ging.
Dabei musste man mit dem Schlimmsten rechnen. Besonders Junkies konnten unter Suchtdruck ziemlich rücksichtlos und rüde werden, um an ein bisschen Betäubungsmittel zu kommen. Einbrüche in Kioske, in Fahrzeuge und Privatwohnungen waren das Übliche. Besonders wenn sie fliehen und nicht den Entzug antreten wollten, fühlten sie sich leicht in die Enge getrieben, sobald man auf sie stieß. Und sie kämpften mit eckigen Ellenbogen, spitzen Schuhen und geballten Fäusten.
Geschichten darüber waren genug im Umlauf und das wohl nicht grundlos.
Kurzum, an diesem Ort hier musste mit allem musste gerechnet werden.
Dass es sich hier etwas gar um Psychopathen, gefasste Sexualstraftäter oder Amokläufer handelte, wollte man sich gar nicht vorstellen. Wie entkam man getriebenen Kriminellen, sadistischen Quälern und sonstigen Bestien schließlich?
Der Arzt fühlte sich jetzt so hilflos und ausgesetzt, dass er sich unwillkürlich an etwas festhalten wollte, was ihm lieb und teuer war. Er griff an seine ausgebeulte, vordere Jeanstasche.
Das hätte er nicht tun sollen! Unvorsichtig, gedankenlos, leichtsinnig!
Aber die Panik!
Reflexartig schnüffelte einer der Ganoven als röche er Kokain. Auch er wurde unruhig, seine Augenlider flatterten heftig. Schließlich war er ein gebranntes Kind und spürte sofort die Unsicherheit anderer Leute wie Hunde Adrenalin. Oft genug hatte er in Situationen gesteckt, wo jede falsche Bewegung ein Todesurteil gewesen wäre. Der Griff in eine Westen- oder Hosentasche bedeutete das Todesurteil, wenn dort eine Pistole versteckt war.
Der Dunklere trat sofort einen Schritt Richtung Fahrerseite. Ein silbernes, kleines Messerchen pendelte um die Brust, vielleicht auch war es nur der Halbmond, schwer erkennbar in dieser Abenddämmerung. Der Arzt hatte zwar die Hände sofort wieder zurückgezogen, wobei er am Jeansstoff so herum genestelt hatte, als wolle er bloß lästige Fussel abstreifen, aber zu spät. Diese Gestik wirkte zu verdächtig.
Der Blick des Bullen fiel auf die leicht ausgebeulte Hosentasche.
Der kalte Schauer der Angst streifte den Fahrer und auf der Stirn bildeten sich Perlen, die an seiner Stirnseite herunterliefen. Steif und starr wartete er auf die Dinge, die da kommen mochten.
Die ausgebeulte Tasche verbarg ein Bündel Geldscheine. Es handelte sich um die Miete seines schwarz vermieteten Hauses, das er von seinen Eltern geschenkt bekommen hatte, damit es nicht unter die Erbschaftssteuer fiel. Der Mieter, ein griechischer Restaurantbetreiber, bezahlte seinen Zins monatlich und bar in seine Hand.
Nun schien es, als würde der Besitzer doch noch dafür bezahlen müssen. Die Rechnung würde allerdings teurer als beim Staat ausfallen.

2. Arme wollen auch ihren Anteil...

Die Gauner warfen sich verstohlene Blicke zu.
Etwas war im Busch.
Doch wider Erwarten schritten sie nicht sofort zur Tat, wie es Laien vielleicht tun würden, weil ihnen die Lage brenzlig erscheint. Sie wogen erst einmal alle Möglichkeiten ab, bevor sie handelten.
Blondy warf seine Zigarette achtlos auf den Boden, stolzierte an der Längsseite des Wagens entlang, fuhr mit dem Finger über die Zierleiste des Verdecks und murmelte: „Nicht schlecht!"
Dann beugte er sich plötzlich über die Kante ins Innere und schnupperte: „Das Leder riecht auch geil!“
Dabei blieb sein Blick an etwas im Inneren des Mercedes-Benz-Caprio hängen.
Seine Augenbrauen kräuselten sich. In der Mitte der Frontscheibe hing ein seltsames Emblem.
Er wandte sich ihm zu, halb über den Schoß des Arztes gebeugt, bis seine Nase ganz nah dran war. Er drehte den Kopf ein wenig, starrte wie eine Klapperschlange auf den seltsam verzierten Stab, um den sich eine riesige Boa, eine schwarze Mamba oder irgendeine andere Schlange wand.
"Igitt!"
Er zuckte zurück.
„Mit wem haben wir's hier zu tun, he? Zu welcher Sekte gehört du, Mann? Guck dir mal dieses Geheimzeichen an! Der hat es faustdick hinter den Ohren hier, der Mercedes-Fahrer!"
Sein Begleiter brummte missmutig. Anscheinend war er nicht beeindruckt.
"Wir sind keine Sekte. Im Gegenteil, absolut seriös ... Wir, wir schwören, dass wir ...“
„Aha! Hab' ichs nicht gesagt. Eine Verschwörung. Eine Geheimzelle. Ein Templerorden oder so was sehr Gefährliches.“
„Nein, nein, wir sind Ärzte, die so ein Erkennungszeichen haben.“
„Klar, weiß ich schon. Hab' ich gelesen. Der Medicus, die Wanderhure, weiß der Teufel, welchem Geheimbund ihr gehört. Die schwören auch einen Eid. Die Bader zum Beispiel, so hat man die genannt, die schwörten … Verdammt, wie geht dieser Schwur noch mal?“
Offensichtlich hatte er den Schwur der Bader vergessen und so sehr er sich auch bemühte, der Spruch wollte ihm nicht in den Sinn kommen.
Er riss sich zusammen, setzte wieder an, verlor aber den Faden und belferte nun den Arzt an: „Du brauchst mir nichts von deinem Geheimbund erzählen! Du, du!“ Wieder verlor er den Faden.
Um sich zu retten, wandte er sich an seinen Begleiter mit den Worten: „Da haben wir aber einen dicken Fisch an der Angel, was?“ Er ließ den gefährlichen Illuministen oder was auch immer er war keine Sekunde aus den Augen. Sein Tonfall strömte Siegesgewissheit und Wissen aus, kein Wunder, schöpfte er doch aus einem profunden Pool von Schundromanen.
Der andere war immerhin etwas klüger: "Mensch, kapierst du nicht, das ist ein Arzt, ein Doktor, ein Mediziner, ein Weh-Weh-Heiler...“
„Wie bitte? Jemand, der sich gerne mit Spinnen, Skorpionen, Echsen, Krokodilen oder Schlangen umgibt, soll Arzt sein? Das kannst du deiner Oma erzählen, aber nicht mir. Nee, der Typ hier ist gefährlich, sag ich dir. Ein Geheimniskrämer, Heimlichtuer, ein Verschwörer der übelsten Sorte, mein Lieber!“
Bully platzte jetzt der Kragen und er schrie: „Mann, was nicht in dein Hirn passt, ist die Realität. Der Mann ist Arzt, kapier das Mal. Die haben seit Jahrtausenden eine Schlange mit Stab als Erkennungszeichen, diese Mediziner. Daher kommt das, Mann!“
„Medizinmänner, ich verstehe. Dann ist das Zeichen so eine Art Totem, wie es die Indianer hatten, mit dem sie ihren Marterpfahl geschmückt haben. Sozusagen ihr Logo, ihr Erkennungszeichen, verstehe.“
„Genau! Endlich hast du's kapiert!“
Etwas verstand er immer noch nicht, denn er grübelte weiter, bis ihm endlich ein Licht aufging: „Ach so! Ich versteh! Von mir aus!"
Ganz überzeugt schien er aber nicht zu sein, denn schon bald hakte er nach: "Der Medizinmann verbirgt auf jeden Fall etwas!"
Die Bewegung, die der Arzt vorhin gemacht hatte, als er in seine Hosentasche gegriffen hatte, ging ihm nicht aus dem Kopf. Seine Augen blinzelten auffällig in eine Richtung, die sein Begleiter mitverfolgte. Und Blondy griff plötzlich zur Hosentasche des Arztes. Er spürte auch etwas. Sofort riss er die Hand zurück, als hätte er sich verbrannt.
„Raus damit!“, befahl er barsch.
Dann ertönte eine freudige, hohe Stimme von Bully, die man ihm gar nicht zugetraut hätte: "Das ist bestimmt ein Bündel Papier, das sind Scheine, Blüten, Moneten sind das." Wie er darauf gekommen war, wussten nur die Götter.
Aber der Arzt schien sich zu sträuben und wollte die Scheine nicht übergeben.
Sofort wurde Blondy Stimme bassig: "Und jetzt Mann, rück die Piepen raus. Aber dalli!“ Dazu machte er eine flache Hand. Nun zögerte der Arzt nicht mehr lange und reichte ihm einen Umschlag.
Durch das Klarsichtsfenster sah man, dass sich darin Geldscheine befanden.
Blondy pfiff durch die Zähne.
„Sieh mal einer an. Euroscheine!“
"Mal schau'n, was Ärzte so verdienen!“, rief der Bulle und nahm ihm den Umschlag weg. Er fühlte sich als der Kompetentere in dieser Sache.
Er machte seine Pranken zu spitzen Fingern und fischte einen braunen Euroschein aus dem geöffneten Kuvert hervor. Der andere, Blondy, warf seine Zigarette auf den Boden, schrie: "Mensch, lass mal sehen!"" und entriss ihm seinerseits den Geldschein, um ihn staunend in die Höhe zu halten: „Was ist das denn für ein wunderbares Ding, he? Wau!“ Mit der anderen Hand kratzte er sich am Kopf.
Ein Tausender flatterte im lauen Abendwind. Unglaublich!
Aber Bully lächelte schon lange nicht mehr, denn Speichel schoss ihm in den Mund und seine feuchte Zunge leckte sich die Lippen. Jetzt wurde es ernst. Ein hungriger Blick fiel auf die milchige Haut der Beifahrerin, die das Band ihres BH-Trägers über der Schulterpartie freilegte. Das Objekt der Begierde bemerkte es natürlich und sie spürte, wie eine eisige, völlig unerklärliche Angst ihr Herz zusammenzog.
Blondy hingegen war von seinem unglaublichen Fund nicht minder beunruhigt, und das zu recht, wie er sogleich mathematisch klarstellte: „Weißt du, wie lange ich dafür Flaschen sammeln muss?“
Sein vernichtender Blick fiel auf den Geldsack, der neben und unter ihm saß.
Langes Schweigen – Nachdenken – Nachrechnen.
"Jahre, Jahre, kann ich dir sagen, Jahre!“, brüllte er plötzlich. Er wedelte mit einem 1000 Euroschein, blickte erneut drohend und durchdringend auf den Arzt herab und verkündete: „Das kommt mir jetzt gerade recht. Nachdem ich ins Krankenhaus eingeliefert wurde und 10 Euro pro Tag zahlen muss. Mann, ja, das habe ich! Trotz Sozialstaat. He, wo bleibt er, wenn man krank ist? Dann zeigt er seine Fratze: Du musst fürs Kranksein bezahlen, he! In unserem verfickten Krankenhaus 10 Euro am Tag!“
Der Chefarzt fühlte sich beschämt, peinlich berührt, weil es stimmte, was der Mann da sagte. Betroffen war er jedoch wegen der geringen Summe. Was sind schon 10 Euro? Bei 10 Tagen Aufenthalt sind das 100 Euro? Ist das so viel?
Armut ist für Reiche immer peinlich. Er wandte seinen Blick zu seiner Partnerin. Diese blickte nur starr und ernst drein. In ihrem entsetzten Gesicht stand die blanke Angst.
Er ärgerte sich über sie. Hatte sie denn außer einem guten Händchen für Sex keine Gefühle? Der Arzt begriff jedenfalls, dass hier an den Pranger gestellt wurde quasi in Vertretung solcher Institutionen wie das Krankenhaus, die nicht davor zurückschreckten, armen kranken Menschen in Ihrer Notlage das letzte Hemd vom Leib zu zerren.
„Na, los Chirurg, sprich. Wie stehst Du dazu?“
„Tja, ich weiß auch nicht!“
„Hört Euch den Chirurgen da an. Sahnt von den Kranken Gelder ab, was das Zeug hält und wenn man ihn darauf anspricht, meint er“ - wobei er den Arzt nachäffte: „Ich weiß auch nicht!“
Er schoss nun unerwartet schnell mit seinem Kopf über den Volant ins Coupé hinein, mit seiner Nase und seiner bedrohlichen Stirn kurz vor dem Kopf des Doktors verharrend. „He, Arzt, warum?“
„Ich, ich bin auch nur ein kleines Rädchen im Getriebe.“
Dem Arzt rollten inzwischen die Schweißperlen von der Stirn.
Blondy zog sich wieder zurück in seine aufrechter Körperhaltung, steckte sich erneut eine Zigarette an und meinte, als wäre er gerade nicht erregt gewesen : „Der ist ganz schön hohl, der Arzt hier!"
"Es fängt schon bei der Einweisung an. Krankenkasse sagt mir zwar die Fahrkosten zu. Ich, also ein Taxi genommen, dem Taxifahrer den Erlaubnisschein von der Krankenkasse gegeben und ab in die Klinik. Nun kommt heute ein Schreiben: Ich muss die Hälfte der Fahrtkosten zahlen. Hatte ich nicht die Zusicherung von der Krankenkasse, dass sie mir den Betrag ersetzen würden? Nein! Mein Budget sei in diesem Monat überschritten gewesen, haben sie gesagt. Ich soll 40 Euro selbst dazu blechen. Warum haben sie mich nicht vorher darüber informiert, hab ich gefragt. Bräuchten sie nicht, haben sie unverfroren gesagt. Das müsse ich schon selber wissen, was meine Rechte und Pflichten sind. Diese Saubande!“
Blondy ballte jetzt dazu die Faust.
Bully nickte weise, wissend und betroffen, aber mit stierem Blick auf lilienweißer Haut der Krankenschwester gerichtet. „Mann, da bist Du nicht allein!“
Was sollte der Arzt dazu schon sagen? Er selbst hatte genug Ärger mit Papierkram. Vielleicht hätte sich der Patient wirklich vorher informieren sollen. Aber solche Leute können kaum lesen, stehen meistens unter was auch immer für einen Druck und leiden sowieso derartig unter Geldnot, dass ihnen selbst ein Telefongespräch mit der zuständigen Behörde zu teuer erscheint. Wenngleich sie ohnehin meist so vertrauensselig sind, dass sie nicht daran denken, sich durch Nachfragen abzusichern. Ganz zu schweigen davon, dass sie nicht mit der Beschränktheit der Bürokraten rechnen. Diese sind ja bekanntermaßen geizig, als wären ihre zu vergebenden Zuwendungen ihr eigen Hab und Gut. Hatte sich dies nicht schon längst herumgesprochen?
Der Arzt schüttelt verhalten den Kopf. Beißt sich auf die Lippen. Wagt keine Antwort zu geben.
„Und woher hast Du eigentlich die 5000 Euro, Mann!“
Der Arzt weiß, reden hat keinen Sinn.
Blondy merkt das und schleudert ihm die Antwort ins Gesicht: „Bakschisch, Mann, gib's schon zu! Du hast eine Sonderbehandlung eingelegt, bei einem Geldsack, he! Hast ihm vielleicht ein seltenes Herz, Niere oder Leber verpasst und der hat Dir für die Extrabehandlung diese Schmiere zugesteckt, ist's nicht so?“
Der Arzt rührt keine Wimper. Er spürt die salzigen Schweißperlen, wie sie über seinen Mund rinnen.
„Mir brauchst Du nichts zu erzählen, mir ist klar, was mittlerweile falsch läuft im Staate Dänemark!“
Bully: „Dänemark?“
„Das sagt man halt so!“
„Hä?“
„Man sagt nicht Deutschland, sondern Dänemark. Irgendetwas ist faul im Staate Dänemark, so sagt man! Man sagt nicht: Irgendetwas ist faul im Staate Deutschland.“
„Wieso sagt man Dänemark, wenn wir hier in Deutschland leben, he! Es ist doch etwas in Deutschland faul und nicht in Dänemark, oder? Also muss man sagen: Irgendetwas ist faul im Staate Deutschland, und nicht in Dänemark.“
Er fühlt sich offenbar auf den Arm genommen, denn er macht eine Bewegung, die eindeutig zur Handgreiflichkeit bereit zu sein signalisiert: Fäuste.
„Ist ja egal!“
„Mir aber nicht! Ich lass mich nicht verarschen. Also, warum?“
„Mann, weiß ich auch nicht. Hab's halt irgendwo gehört.“
„Ach so, und du weißt nichts Besseres, als solch einen Blödsinn nachzuplappern!“
„Du hast's erfasst!“
„Für so dumm hätt ich dich aber nicht gehalten!“
„Ja, ich mich auch nicht!“
„Hä!“
„Ist gut, Mann. Von mir aus: es ist etwas faul im Staate Deutschland! Gut so?“
„Ja, das brauchst aber nicht extra zu betonen. Das weiß ja wohl mittlerweile ein jeder, Mann!“
„Da hast du verdammt recht, Mann!“
„Na also, sag ich doch!“
Und Bully begibt sich wieder in Entspannungsmodus, macht einen tiefen Schluck aus der Aufputsch-Dose und schielt wieder auf den verlockenden Wildfang im Cabrio.
Blondy wendet sich indes erneut dem Arzt zu, versucht dessen Gedanken zu lesen, erkennt aber keine in seinem Gesichtsausdruck, allenfalls Angst und Panik. Das ist ja immerhin ein Zeichen dafür, dass die Mauer wacklig und brüchig geworden ist, gegen die er geprescht ist. Befriedigend, aber nicht genug. Er nuckelt an seinem Glimmstängel wie an einem Babylutscher, dann schnellt er mit seinem Kopf wieder vor - nah bis wenige Zentimeter vorm Arztkopf.
„Seitdem wir mit sechzehn in der Scheißmaloche stecken, hat man uns gesagt: Sozialbeiträge fürs Alter entrichten. Hä! Wofür? Für den Sozialstaat. Wo ist er denn jetzt? Wo ist er, wenn man ihn braucht? Dann, wenn man in der Scheiße sitzt? Ans Alter dürfen wir gar nicht denken. Werden es sowieso nicht! Steckst du aber in der Scheiße, dann hilft dir keine Sau. Bezahlen heißt es jetzt wieder. Blechen, dass man krank sein darf, dass man ärztlich versorgt wird, im Krankenhaus behandelt und operiert. Aber wehe, du wirst krank, dann überlegst du dir es zweimal: lass ich mich einweisen oder nicht, oder besser, kann ich es mir noch leisten oder nicht? So sieht's aus!“
Wieder nuckelt er an seiner Zigarette, fischt sich aus seiner Tasche eine Schachtel mit Pillen und wirft sich ein paar ein.

3. So eine Chance kann man sich nicht entgehen lassen ...

Als Bully plötzlich zu Blondy hintrat, senkte er die Stimme. Aber was er zu sagen hatte, hätten gerne auch die anderen hören können. Er blickte ohnehin auf die im Auto, um sie unter Aufsicht zu haben.
„Hör mal. Bei dem Arzt ist mehr zu holen als ein paar lumpige Tausender! Denk nur mal an die Fotos, äh, die Aufnahmen, die wir haben.“
Blondy gab sich Mühe und überlegte, aber kapierte es noch nicht.
„Mann, diese Aufnahmen sind Gold wert. Glaubst du, diese geile Schwanzlutscherin ist die Ehefrau vom Arzt? Wo gibt's das schon, dass Ehepaare in ihren piekfeinen Autos poppen? Dafür haben sie doch ihre Schlafzimmer und lilablassblauen Himmelbetten.“
Blondy dachte und dachte angestrengt mit.
„Wir haben den Arzt beim Ehebruch erwischt. Was glaubst Du , wie sich seine Ehefrau freuen wird, wenn sie davon erfährt? Auf Video vorgespielt bekommt, wie sich ihr Mann einen blasen lässt. Von einer Fremden. In ihren heißgeliebten Familien-Caprio?“
Blondys Gesicht zieht sich gerade beängstigend wie ein Luftballon zusammen. Man merkt, dass ihm das Denken schwerfällt. Wenn er verstehen soll, verzieht er wie jetzt gerne den Mund zu einem breiten Grinsen und nickt dabei so nachdenklich, als würde ihm tatsächlich ein Licht aufgehen. Blondy schaute umsich und signalisierte nur, dass er auf alles gefasst sei. Dabei hatte er nicht den blassesten Schimmer hatte, worauf.
Allenfalls denkt er, egal, was Sache ist, Bully weiß schon, wohin der Hase läuft.
Meistens wenigstens.
Mehr aber nicht.
Bully tritt wieder zum Caprio hin und verkündet wie ein Befehlshaber des Militärs.
„Also, als Erstes machen wir unsere Handys aus!“
„Klar!“, sagt Blondy und wiederholt ihn blöderweise: „Handy ausschalten, aber sofort!“ Er findet diesen Ton wohl cool. Was immer geschehen mag, es fängt zunächst Mal geheimnisvoll an, fast wie in einem Spionagekrimi. Dass sein Tonfall ankam, wie wenn ein Beschränkter etwas verkündet, was er gar nicht versteht, stört ihn nicht oder besser merkt er gar nicht.
Eben schwer von Begriff zieht Blondy es öfter vor, einfach zu tun, was von ihm verlangt wird. Dabei imitiert er oft sehr zu dessen Ärger Bullys Verhalten bis aufs i-Tüpfelchen. Dennoch war das meistens in Ordnung. Bully war nun einmal der Gescheitere und wusste meist, was zu tun war. Obwohl Blondy derjenige war, der die großen Reden schwang, war letzterer der weitaus klügere. Er traf auch stets die Entscheidungen.
„Also packen wir es an. Ab zu uns nach Hause alle!“, verkündete Bully und lief zur anderen Seite des Autos, um dort, wo die Frau saß, den Schlag zu öffnen. Blondy öffnete demzufolge den Fahrerschlag des Arztes.
Die beiden Gefangenen verstehen nicht sogleich, was Sache war. So müssen sie erst von Blondy, dann von Bully angebellt werden, schleunigst das Auto zu verlassen, dalli, dalli. Blondy bekommt Gefallen daran. Jetzt hat er es endlich auch kapiert, dass hier gerade eine Geiselnahme in die Gänge kommt.
Mit Drangsalierung? Wer weiß, wer weiß, was noch! War vielversprechend!.
Er grinst schon übers ganze Gesicht.
Diese Erscheinung der Geiselnehmer, düsterer Breitschulter-Typ und debiler Schlankheits-Typ verhieß zweifellos das Schlimmste.
Blondy hat dünne, strähnige Haare, die ihm ungekämmt in Stirn und Gesicht hängen und eine richtig große Tonsur, fast eine Platte - ungewöhnlich für so einen jungen Kerl. Sein wildes Erscheinungsbild ängstigt unwillkürlich, könnte ein derartig ungewöhnlicher Haarausfall dort, wo das dafür zuständige Organ ruht, nicht etwas nicht in Ordnung sein?
Der andere hingegen war so dicht behaart, dass in seinem breiten Dreikantschädel nur Augen und ein wenig Stirn zu sehen waren, abgesehen von der platten Nase mit den zu großen Nasenlöchern. Man konnte aber nicht von einem Dreitagebart ausgehen, er war von Natur aus so. Hinten erkannte man keinen Hals, denn der Schädel ging übergangslos in die Schultern über. Permanente Zuckungen an Oberarmen ließen auf einen überstrapazierten und übertrainierten Fitness-Körper schließen. Er wirkte, als würde er jeden Moment zum Wutausbruch kommen.
Blondy fordert den Arzt als erster auf, auszusteigen und als geschehen, dreht er ihn um und biegt ihm die Hände nach hinten. Dieser schreit schmerzhaft auf. „Damit du spürst, was auf dich zukommen kann, wenn du Muckser machst!“ „Ja, ja, keine Gefahr!“, stammelt der Leidtragende. „Dann ist gut, Doktorchen!“ Trotzdem bindet er ihm mit seinem Gürtel die Hände zu Knebeln.
Bully nimmt sich die Frau vor.
Er öffnet den Verschlag, hilft der Dame jedoch nicht beim Aussteigen, sondern tritt einen Schritt zurück, um sie in ihrer ganzen blühenden Erscheinung besser taxieren zu können. Als sie mit den Beinen voran aus dem Auto steigen will und er noch befiehlt: "Hure, steig aus!", fährt sie erschrocken wieder die Beine zurück, eine Geste, die das Gegenteil dessen ausdrückt, was ihr befohlen worden ist. Grund genug für Bully, nicht lange zu fackeln, auf sie zuzuspringen, sie an den Händen zu packen und aus dem Auto zu zerren.
"Dir werd ich's zeigen!"
Er zerrt sie mit den Armen aus dem Fahrzeug und schleudert sie in die parkplatzbegrenzenden Sträucher. Sie kann von Glück reden, dass sie nicht auf dem kruden Asphaltboden gelandet ist, so dass sie mit Schürfwunden und weniger harten Blessuren davonkommt.
Blondy kümmert sich derweil um das offene Verdeck: "Wo muss man hier drücken?", und fuchtelt erfolgreich an der Konsole herum. Mit den Autoschlüsseln verriegelt er das gute Stück und steckt sie in die Hosentasche.
Bullys Finger umklammern fest das Handgelenk der Schwester und er dreht ihre Hand auf den Rücken bis zur Schulter. „Aua!“ Bully sagt nüchtern: „Das tut ganz schön weh, was!“ Noch bevor die Frau antworten kann, kommt es brüsk: „Los, los, die andere Hand auch.“ Gehorsam streckt sie ihm diese nach hinten. Mit seinem Hosengürtel bindet er ihr ihre Hände fest.
Und schon schubst er die Krankenschwester zum Arzt.
„So, bildet eine Polonaise!“, ruft Blondy aus. Wie befohlen, gruppieren sie sich wie eine Gänsekolonne hintereinander. Damit ist klar, es kann losgehen. Die Frau klammert sich mit ihren Händen an die Schultern des mürrischen Bullen, der voranschreitet, um nach Hause zu gelangen. Dahinter folgt der Mann und am Ende Blondy.
Die unzulängliche Fesselung mit bloßen Hosengürteln zeigt, dass man nicht auf eine Entführung vorbereitet war.
Es geht quer durch den Wald, auf einem Weg, der selbst bei Tageslicht kaum als solcher bezeichnet werden kann. Doch der Bulle findet schlafwandlerisch seinen Weg durch die dichten Bäume. In einer langen Serpentine geht es eine Anhöhe hinunter, mal nach rechts, mal nach links, aber der Bulle findet schlafwandlerisch immer wieder den richtigen Pfad. Plötzlich hält er an. Sie stehen vor einem Bahndamm. Er sitzt zwei Meter erhöht auf einem Bahndamm. Genau in der Mitte dieses Anblicks klafft ein schwarzes Loch.
„Jetzt müssen wir uns die Hände geben, bevor wir in die Hölle fahren! Haha!“
„Los, ihr dummen Gänse. Im Gänsemarsch, los! - Macht euch jetzt ein bisschen kleiner! Und macht euch vor allem nicht in die Hosen. Haha.“ Das ist die letzte Verkündigung, begleitet von einem schaurigen Lachen.
Händereichen, Gänsemarsch und Kleinermachen helfen, denn es ist eng, niedrig und stockdunkel dort drinnen. Man ahnt mehr, als dass man sieht, aber es wird wohl ein kleiner Tunnel sein, der unter den Bahngleisen hindurchführt. Ziemlich unheimlich hier drinnen. Dazu ein penetranter Gestank, der einem den Atem raubt.
„Passt auf, dass ihr nicht auf der Kacke ausrutscht!“
Ist das ernst gemeint oder ein derber Scherz? Blondys ekliger Lacher in diesem undurchdringlichen Schwarz lässt bald keinen Zweifel mehr zu.
Der bestialische Urin- und Fäkalgeruch beißt wie Säure in der Nase. Da das Tunnelrohr nur wenig Platz bietet, wirken die schwarzen, kohle- und granitartigen feuchten Gesteinsbrocken richtig gefährlich, die draußen die Bahndämme und hier drinnen den Boden bedecken. Die Röhrenwände sind tropfnass, also sollte man nicht ausrutschen. Andernfalls würde man sich ernsthaft verletzen, wenn man sich daran festhalten wollte. Der scharfe Gestank lässt einen instinktiv die angegriffene Nase zuhalten, was aber leider zwei Personen nicht möglich ist, denen bei diesem Potpourri die Hände nach hinten gebunden sind. Immerhin sieht man schnell das Licht am Ende des Tunnels. Allzu lang ist er nicht. Dadurch sehen die Beteiligten jedoch deutlich, in welch gefährlicher Umgebung sie sich befinden - es könnte sehr schmerzhaft werden, blutig sogar ...
Die Dämmerung draußen schützt vor unliebsamen Fragen von Passanten. Aber am Freitagabend sind die Leute ohnehin nicht mehr auf der Straße, sie sitzen längst schon am Abendbrottisch vor dem Großbildfernseher und schauen die Abendnachrichten oder versuchen sich bei einem schönen grausamen Krimi von der Arbeitswoche zu entspannen.
Die obskure Gänseschar trifft also auf niemanden.
Es geht schnell, denn das Ziel ist nicht weit. Ein obskures Familienhaus ist keine 50 Meter vom Tunnel entfernt, direkt hinter dem Bahndamm. Eine verwahrloste Hecke umgibt es mit einem nicht minder vernachlässigten Garten, so dass das Haus selbst vom Bürgersteig aus kaum zu sehen ist. Es ist zudem das letzte der hier üblichen eingeschossigen Einfamilienhäuser aus den 40ziger, 50ziger Jahren. Danach führt ein unbefestigter, lose aufgeschütteter Schotterweg in den nahen Forstwald und verliert sich im schwarzen Nichts. Links und rechts davon, auf den Wiesen, bewegen sich dunkle Flecken, die als weidende Schafe zu erahnen sind.
Am Pfosten, neben den Eingangstürchen, hängt halb herunter an einem letzten Nagel ein Briefkasten. Es ist ein viereckiger Kasten mit schwarzen und silbernen Aufklebern. Sie sind so häufig angebracht und erneuert worden, dass man keine vernünftige Schrift mehr erkennen kann. Wahrscheinlich so etwas wie: Bitte keine Werbung hier. Jedenfalls sind die Namen nicht mehr richtig lesbar.
Die Haustür öffnet sich quietschend und hängt wie der Briefkasten auch schon halb aus den Angeln. Dann folgt eine zweistufige Steintreppe, die direkt ins Einfamilienhaus führt.
Dort, wo man eintritt, quillt abgetretenes Linoleum locker und wellig aus dem Boden. Ein Schränkchen unter der Garderobe zeigt unzählige weiße Abblätterungen. Der Flur ist minimalistisch und kaum drei Quadratmeter groß. Danach betritt man sofort das Wohnzimmer im Erdgeschoss, welches ein Sammelsurium von Möbeln beherbergt.
Dies mag zwar schäbig und für stilsichere Augen schmerzhaft sein, jedoch keinesfalls steif, eckig und kahl. Ein dunkles Sofa steht unterhalb des Fensterbretts. Darauf stehen eingetopfte Pflanzen wie Kakteen und eine kleine Palme aufgereiht, nicht so dicht, dass man nicht durch die vergilbten Stores auf die nahe Straße schauen könnte.
Auf dem Sofa ist es bequem zu liegen und auch wenn die Federn darin längst kaputt sind, ragt doch keine dieser Eisenspiralen gefährlich hervor. Ein weißer Korbsessel, mehrmals übermalt, thront neben einem Ohrensessel. In den Ecken stehen zwei Stehlampen mit Quastenschirmen, in der Mitte ein breiter, niedriger Tisch, auf dem sich dreckiges Geschirr mit muffigen, verbeulten Pizzaschachteln stapelt. Darüber ist Asche verstreut, sowie Essenreste, Alufolie und Papierservietten, die einen derartigen unangenehmen Gestank verströmen, dass einem schlecht werden kann. Hier und da stehen Eimer mit überquellendem Papier, Bioabfall und Sondermüllresten herum. Jegliche Gemütlichkeit von Nostalgie der alten, bizarren Möbel wird dadurch gnadenlos abgewürgt.
Den Anblick der Küche erspart man sich besser. Dennoch quält einen ein daraus kommender ekliger, beizender Geruch von Essen, Öl und Fett bis ins Wohnzimmer hinein. Damit muss man leben.

4. Wer keine Wahl hat, hat die Qual

Als alle Personen im Haus waren, wurde zuerst der Gürtel von der Frau gelöst, die sich vor den Augen Bullys übertrieben zimperlich das Handgelenk rieb: „Prinzessin auf der Erbse heult gleich oder was?“
Und schon packte er sie am Oberarm und kniff sie mit aller Kraft.
„Aua, du tust mir weh!“
„Ich tu dir viel mehr, wenn du weiterhin so zimperlich bist!“
Sofort verstummte sie und unterdrückte ihren Schmerz. Es war klar, jegliches Getue war hier strikt zu unterlassen – erste Lektion gelernt.
Blondy ging nach Betreten der Wohnung schnurstracks in die Küche zum Kühlschrank, fischte einen Sechser-Pack Bier heraus, riss die Plastikhülle ab, öffnete eine Dose, spülte den Inhalt in einem Zug hinunter und griff nach der nächsten. Die Dritte folgte sogleich. Dann trat er mit der Bierdose an den großen Tisch inmitten des Raums, um sie dort abzustellen. Er ließ sich in einen Sessel fallen und legte die Füße auf den Tisch.
Sein Partner hatte unterdessen die Geiseln einfach in die enge Rumpelkammer gestoßen, die in diesen Küchen- und Wohnraum eingelassen worden war – für den Moment – das Weitere würde sich ergeben.
Es ergab sich nicht, es musste erdacht, geplant und entworfen werden - gar nicht so leicht. Aber mit Bier würde es schon gehen. Während sie also beim fortgesetzten Dosenbieranstoßen überlegten und nachdachten, verfolgten die Eingesperrten aus ihrem Kerkerverhau mit Argusaugen das Szenario. Leicht möglich, dass es ihnen zu langsam und zögerlich vorwärts ging, denn bald meldeten sie Protest an. Zu düster und eng sei es in ihrem Asyl.
„Wir kriegen gar keine Luft mehr! - Wir sehen gar nichts mehr.“
„Unsere Gäste sind mit unserem Service nicht zufrieden. Die wollen ein Fünf-Sterne-Hotel!“
„Sieht ihnen ähnlich. Sind Besseres gewohnt, als was wir ihnen bieten können.“
Wie man sieht, nahmen sie anfänglich den Protest noch mit Humor, der aber schnell verflog, als diese es sogar wagten, murrend mit den Füßen zu scharren.
„Sie wünschen also mehr Luxus!“, sagte Bondy verärgert. „Das können sie haben!“ Er sprang auf die Beine, hechtete zur Seitenkammer und trat mit den Füßen gegen die windige, wacklige Holztür.
„Haltet Eure Fresse, ihr Blödmänner und, äh, -frauen. Sonst könnt ihr etwas erleben!“
Sofort war Ruhe.
Auch Blondy zeigte kein Mitleid: „Die treten sich wohl auf die Füße?“
„Na, wie sehr die doch auf vertrauten Fuß miteinander verkehren, ist das kein Unglück!“
Und Bully schlürfte zurück zum Sofa, um sich auf dieses fallen zu lassen und mit seinem Kumpanen anzustoßen: „Ohoho!“
„Auf die fette Beute!“
„Vopr allem auf die kommende Ausbeute!“
„Du sagst es, Mann!“
Dann verfielen sie ins Grübeln.
Bully verströmte eine solche Energie, dass die Luft um ihn herum elektrisch aufgeladen schien und gleich explodieren würde. Seine Bewegungen waren zurückhaltend und verhalten, als würden gigantische Kräfte entfesselt, sobald er nur zuschlug. Seine kräftigen, breiten Zähne verrieten, dass er mit bester körperlicher Gesundheit gesegnet war.
Blondy dagegen wirkte seltsam krank, schüchtern, ängstlich und es passte zu ihm, dass er jetzt Katzenjammer bekam: "Scheiße, dass der Doktor so viel Pinke-Pinke in der Hosentasche mit sich herumschleppen muss. Da wird man ja zum Diebstahl gezwungen!"
Dies gefiel Bully gar nicht.
"Was meinst du damit?"
"Naja, ich weiß auch nicht."
"Willst 'nen Rückzieher machen! Denk an das viele Geld. Stell dir vor, wie es sich anfühlt, wenn du es in Händen hälst! Hunderte von Tausenden in einem Bündel, oh Mann oh Mann!"
"Ja Mann, das ist es eben!"
"Hä!"
Für Bully war klar: Die Würfel waren gefallen, Punkt. Das Zaudern seines Kumpels passte gut zu dem Bild, das er von ihm besaß: eine zögerliche Memme wie sie im Buche stand.
Guter Rat war teuer. Ruhig und bedächtig begannen sie die verschiedenen und vielfältigen Umstände zu bedenken, die bei einer solchen Entführung und der unvermeidlichen Erpressung zu berücksichtigen waren.
„10 000?“
„Hm!“
Diese Summe ließen sie zunächst einmal auf sich wirken.
Langsam merkten sie, dass sie viel zu wenig forderten: „He, 10 000, was ist das schon? Das ist doch nichts für diese reichen Fuzzis, oder? Wir sollten 500 000 verlangen!“
„Oh, das sollten wir wirklich!“
Nächster Schritt: An wen sollten sie sich wenden, um das Geld zu bekommen?
Sie kamen auf die Frau des Doktors. Auch wenn sie zickte und zögerte, was bei der Höhe der Summe fast zu erwarten war, der Arzt würde ihr Beine machen. Schließlich hatte er das Zepter in der Hand.
„Du sagst es!“
Etwas anderes konnten sie sich nicht vorstellen. Eine Ehefrau, die in der Ehe das Sagen hatte – zumal in einer Arztehe – eh, da war es klar, dass der Arzt der König war.
„Genau! Lass die Frau aufmucken, der Arzt wird der Alten schon Beine machen, das war so sicher wie das Amen in der Kirche!“
Was blieb dem Doktor übrig? Dass seine Gemahlin von der Nebenbuhlerin erfährt?
In tausend Jahren nicht.
Unvorstellbar!
Sie lachten laut bei der Vorstellung, wenn sie an die Sprengkraft dieser Bilder mit den Sexszenen dachten. Haha, nicht einmal Gewalt müssten sie anwenden! Zu kompromittierend. Wer würde einer solchen Veröffentlichung gleichgültig gegenüberstehen?
Bedenke der Öffentlichkeit!
En Arzt steht im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses, vor allem auf dem Land, ja im ganzen weiten Umkreis. Was gäbe es da für Klatsch und Tratsch.
Nein!
Und seine Frau erst! Scheiden wird sie sich wollen, ganz sicher! Oder jedenfalls wird das weitere Eheleben die Hölle sein. Nee, nee, eine so gestörte Ehe zu führen, wird dem Herren Doktor auf Dauer zu schmerzhaft und stressig erscheinen. Er wird parieren und alle Hebel in Bewegung setzen, um der Hölle zu entkommen.
„Worauf du Gift nehmen kannst!“ Und das taten sie dann auch.
„Prost!“
Auch deshalb stoßen sie immer wieder an, um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen. Sie sind ihrer nicht so sicher. Und das Denken fällt ihnen schwer. Ist das in ihrer Lage so verwunderlich? Die Fähigkeiten zur hohen Kunst der Erpressung fielen ihnen nicht einfach in den Schoß, sondern mussten erst erworben werden. Wie, war zunächst schleierhaft.
Man überlegte, das Lösegeld in dem leeren Mercedes Benz Cabrio deponieren zu lassen. Die Frau sollte die halbe Mille Euro von der Bank abheben, das Geld zum Auto bringen, es dort ablegen und verschwinden. Danach wird das Geld abgeholt. Danach werden Krankenschwester und Arzt freigelassen. Wenn der Arzt zur Polizei geht, werden die Bilder überall veröffentlicht. Der Arzt hat keine Chance, die Bilder zu löschen, unwiederbringlich zu löschen. Sie sind millionenfach kopierbar. Kein Ausweg für ihn. Wenn er sich aber ruhig verhält, dann ist es nicht notwendig, die Pics zu verbreiten. Dann ist er vor der Öffentlichkeit und sie vor der Polizei sicher.
„Und das Geld. Das war doch eine ganz schöne Schaufel voll, oder?“
Der Arzt und seine Familie werden das Geld locker aufbringen können, mit Sicherheit. Die Beschaffung der hohen Summe stößt bestimmt auf keine großen Hindernissse, so ein Arzt hat Kohle ohne Ende und wenn es nicht reicht, die Familie und Verwandtschaft wird schon ein wenig aushelfen, davon kann man ausgehen.
Soweit die Umstände. Die Annahmen. Die Wahrscheinlichkeiten.
Nun wurde der Arzt angehalten, seine bessere Hälfte zu beauftragen, das Geld aufzutreiben.
„Angehalten“ ist etwas zu milde ausgedrückt. Deckt er sich damit, dass der Arzt jetzt rüde aus der Rumpelkammer gezogen wird, so, dass gleichzeitig Besen und sonstiger Krempel wie ein Staubsauger herauskullert? Einschließlich der Krankenschwester hinterher? Die Krankenschwester litt in dieser Enge der Besenkammer unter Schwindelgefühle und da sie sich irgendwo anhalten musste, um auf den Beinen zu stehen, war ihr mangels Stütze der Halt verloren gegangen und sie war sprichwörtlich herausgefallen.
Wie sie so auf dem Boden vor Bullys Füße torkelt und zum Stillstand kommt, brüllt er : „Wer hat gesagt, dass du rauskommen sollst?“
In seiner Wut und Verärgerung über die Krankenschwester, stellt er sie auf die Beine und stößt sich in eine Ecke. „Bleib dort und halt still, Schlampe!“
Dann nehmen sie den Arzt ins Kreuzverhör.
Bully schildert die Bedingungen der Erpressung.
Der Adressat hört sich die Bedingungen stumm an und als ihm schließlich sein Telefon in die Hand gedrückt wird, tippt er sofort drauf los, eine Geste, ein Verhalten, so ohne Widerspruch,- vielleicht, eh, das ist zu viel Geld, was sie verlangen, eh - stößt doch auf Misstrauen.
Bully reißt ihm wieder das Gerät aus der Hand.
„Weißt du!“, sagt er zum Blonden. „Ich glaube, 500 000 sind für die ein Pappenstiel."
Der Blonde zieht die Brauen hoch.
„Lass uns einfach verdoppeln. Wenn's wirklich zu viel ist, können wir immer noch runtergehen, noch mehr verlangen.“
Der Blonde verzieht den Mund.
„Wie verdammt Recht du hast! Erst Maximalforderung, dann wird man sehen.“
Der Arzt beginnt zu protestieren, verstummt aber, als er die Faust des Blonden vor seiner Nase sieht. Dem Blonden gefällt seine Macht. Er lächelt darüber.
Die Krankenschwester in der Ecke verzieht verächtlich das Gesicht und begeht die Unvorsichtigkeit, wegwerfend zu schnauben. Wenn sie den Eindruck gehabt hat, dass sie hier keine große Rolle spielte, insofern als sie nicht das begehrte Objekt der Erpressung war, so täuschte sie sich dem Punkt: sie wurde sehr genau beobachtet, insbesondere von einem.
Bully geht zu ihr hin und schlägt sie wortlos.
Blondy schaut erstaunt auf, will etwas sagen, kann sich aber die Worte sparen, weil er kapiert.
Dem Arzt wird mit der neuen Forderung wieder das Gerät gereicht. Er tippt ein Weile.
„Hast du endlich geschrieben?“
„Ja, ja!“
„Worauf wartest du dann noch. Gib das Gerät her!“
„Aber wir müssen noch auf die Antwort meiner Frau warten.“
„Hm. Du hast Recht.“
„Hast du geschrieben, sie soll keine dummen Fragen stellen!“
„Ja, hab ich.“
„Na, dann dürfte es ja keinen Ärger geben. Du hast doch die Hosen an in der Ehe, oder?“
Der Arzt war begriffsstutzig: „Wie bitte?“
„Ich habe gefragt, wer bei euch in der Familie die Hosen anhat: Du oder deine Frau?“
„Äh, das kann man so nicht beantworten...“, sagte er zunächst, bis ihm klar wurde, mit wem er es hier zu tun hatte.
„Ich natürlich!“
Der Blonde lachte. „Na, also!“
Und schon piepte es.
Der Arzt, immer noch verblüfft, reagierte nicht sofort, woraufhin ihn Blondy anstupste: „Schau schon nach, was deine Alte geschrieben hat!“

5. Jeder Pornodarsteller hat seinen Preis...

Er las die Nachricht vor. So viel könne sie bezahlen, am Montag würde sie zur Bank gehen und schauen, was machbar sei.
Blondy schrie laut auf. „Der werden wir Beine machen. Gib Dein Smartphone her!“ Der Arzt wusste, was auf ihn zukam und schrie: „Nein!“
Blondy riss es ihm einfach aus der Hand: „Aber doch. Die wird Augen machen, wenn sie ihren Ehemann in einem Porno sieht! Haha!“
Der Arzt sank auf einen Stuhl, biss sich auf die Lippen, biss sich in die Finger, aber es half nichts, es blieb nur übrig, versteinert mitzuverfolgen, wie sein Schicksal, das des Ehebrechers, sich langsam aber sicher anbahnte und vollzog.
Blondy ging zu einem Schreibtisch, schaltete seinen Computer ein und verband das tragbare Gerät mit dem Rechner. Es dauerte keine fünf Minuten, bis er das Video überspielt, mit einem Schnittprogramm bearbeitet und wieder auf das Smart Phone übertragen hatte.
Als er zurückkam, sagte er lapidar und bestätigte, was man vermutet hatte, dass er das Video vom Smartphone auf dem Computer bearbeitet, geschnitten, verkürzt, zum einen dann auf eine Plattform im Internet und zum anderen einen Teil auf des Arztes Handy geladen hatte: „Das reicht erst einmal für deine Etepetete-Ehefrau, wetten! So – und ab der Fisch!“
Dem Arzt wurde es anders zumute.
Blondy sagte, was Sache war: „Dieser tolle Porno ist jetzt auch im Internet abrufbar. Jeder, der's wissen will, Presse, Verwandte, Kollegen vom Krankenhaus können diesen tollen Spielfilm anschauen. So, jetzt gibt’s wirklich keine Probleme mehr, oder was hat der Chefarzt dazu zu sagen?“
Der nickte nur betrübt und stumm.

100 Kilometer entfernt sahen sich die Ehefrau und ein zufällig anwesender Neffe des Arztes – bei dem es sich um einen Polizeibeamter handelte - das Video an.
Zu sehen ist der Kopf eines Mannes, der mit geschlossenen Auf auf einer Autokopfstütze liegt. Der Schädel bewegt lustvoll hin und her, während zwei zarte Hände, nun durch Zurückfahren und Vergrößern des Bildausschnitts sichtbar werden, ihn führen. Doch nur der Hinterkopf der Frau zu sehen, als sich der Bildausschnitt unaufhaltsam vergrößert und beide Personen, Mann und Frau, in einem geräumigen Automobil sichtbar werden. Die Frau springt plötzlich aus dem Bildausschnitt, ohne ihr Gesicht zu zeigen, greift in ihre Handtasche, als habe sie gespürt, dass sie im Fokus einer Linse stünde und zieht ein Tschentüchen hervor.
Im genauen Mittelpunkt der Kameraeinstellung verharrt nun ein Standbild: Zu sehen ist der Schliegel des Mannes. Trotz dem er eingefroren ist, wirkt er aufgeplustert, nahe dem Platzen und gleichsam hin- und her schwingend wie ein Pendel.
Dann läuft der Film weiter.
Hektisch.
Der Kopf des Mannes dreht sich um und zeigt ein erschrockenes Gesicht.
Mit diesem erschrockenen Gesicht früht das Bild wieder zehn Sekunden ein, so dass kein Zweifel mehr besteht, wer es ist: der Ehemann und Onkel.
Der Hobbyfilmer, das musste man ihm lassen, verstand sein Handwerk, dachte der Onkel. Das zehn Sekunden lang eingefrorene Bild bildete einen eindrucksvollen Schlusspunkt. Die verwackelte, unscharfe Bild war nur dem billigen Camcorder geschuldet, ließ aber keinen Zweifel über die Identität der Person.
„Dieses Schwein!“, rief die Ehefrau aus und schlug ihre Hände vors Gesicht. Damit meinte sie höchstwahrscheinlich ihren Mann. „Diese Saubande!“, rief der Neffe aus, nicht Anflug von Bewunderung. Wahrscheinlich meinte er die Filmemacher.
„Was machen wir jetzt?“, fragte die Ehefrau atemlos.
Der Polizist wusste Rat. Er war schließlich Experte.
Natürlich klein beigeben. Allein die Vorstellung, wer das alles sehen könnte, war unerträglich. Der Ruf des Arztes, ja des ganzen Clans stand auf dem Spiel. Letzteres drängte ihn, auf die Ehefrau einzuwirken, der auf Widerspruch und Nichtstun drängte. Aber nichts tun, kam nicht in Frage.
Die Ehefrau, eine gesetzestreue Bürgerin, erwiderte skeptisch: "Findest du?"
Aber ihr Widerspruch währte nicht lange, dazu war sie zu vernünftig.
"Wir wissen nicht, ob es Profis oder Laien sind. 90 Prozent von Entführungen gehen auf das Konto von Laien." Das war an den Haaren herbeigezogen, erfüllte aber seinen Zweck. Als Verkehrspolizist hatte er keine Erfahrungen auf diesem Gebiet. Dennoch tat er so, als sei er in diesen kriminalistischen Dingen sehr bewandert.
Die Ehefrau blieb trotz des schamlosen Verrats ihres Ehemanns Ehefrau. Und auch die Gattin des Chefarztes. Zu sehr fühlte sie sich mit der Rolle der Chefarzt-Gattin, mit der Rolle der Familienmutter, der der Clanschwägerin insgesamt verbunden, als dass sie anders hätte handeln können. Wonach ihr Herz drängte und schrie, wurde unterdrückt.
"Die Lösegeldforderung wird erfüllt. Aber erst am Montag, spätestens Dienstag“, simste sie schließlich.
Als Antwort die Anweisung, das Geld im Cabrio auf dem Parkplatz in der Nähe des Krankenhauses zu deponieren.
Als sie ihr Handy weglegte, stieß sie aus: "Das wird teuer. Das ist viel Geld! Sehr viel!"
"Ja, wir müssen alle informieren. Sie müssen sofort kommen. Am Ende müssen wir alle zusammenlegen, befürchte ich. 500 000 Euro ist eine Menge Geld, Mist!“ Mit alle meinte er eine Art Familienrat. Diesen musste man sich um eine spontan zusammenkommende Gruppe vorstellen.
"Das wird alle schmerzhaft!"
"Oja!"

"Bis Dienstag!", brummte er.
Blondy gefiel das gar nicht. Das waren drei volle Tage. Aber was soll's, man musste sich damit abfinden. „Da beißt die Maus keinen Faden ab!"
"Hä? Welche Maus? Meinst du die Krankenschwester jetzt?“
„Ahö!“
„Warum sollte die einen Faden abbeißen? Hä?“
"Das sagt man halt so, wenn ... wenn in so einem Fall ...äh … wie diesem ...wo … äh ...“
„Wie, wo eine Maus... Eine tatsächliche Maus?"
„Nein, eine abstrakte...“
„Eine abstrakte Maus. Soso.“
„Halt eine vorgestellte...“
„Wie, die Maus stellt sich vor? Verarscht du mich jetzt total!“
„Nein!“
„Also, dann red Deutsch mit mir!"
"Das ist Deutsch!"
"Hä!". Ein zorniger Blitz streifte Blondy.
"Ach, vergiss es!"
Plötzlich packte er Blondy beim Kraken.
"Wenn du mich verarschen willst, dann ...“
"Nein, niemals!"
"Das hätte ich dir auch nicht geraten!"
Bully ließ wieder los.
"Ist ja gut, ist ja gut!"
Verärgert über Bullys Demütigung entriss Blondy dem Arzt das Smartphone, tippte etwas ein und rief dabei aus: "Dieses Video geht jetzt um die Welt, das schwöre ich!“ Und drückte auf den Knopf – denn das, was er so laut ausgesprochen hatte, war auch der Inhalt der SMS-Nachricht. Er war wirklich sehr geschickt mit technischen Dingen.
„Ihr wollt doch sicher sehen, was ich verschickt habe. Da, schaut es Euch an.“
Für Arzt und Krankenschwester gab es eine Sondervorführung des gedrehten Pornos. Dazu hielt er den Apparat gut sichtbar für alle in die Höhe. Das letzte, gefrorene Bild, das Konterfei des Pornohelden, hielt er wie ein Spiegelbild dem Arzt unter die Nase.
"Und das ist meine geniale Idee gewesen. Damit du's weisst!" Er spielte auf das Standbild an, auf dem der Pornoheld gut sichtbar mit erstauntem Konterfei ins Bild starrte.
"Das sollt Ihr nicht vergessen, dieses Bild. Damit ihr wisst, was hier gespielt wird!"
Dann öffnete er wütend das Cassius des Handys, nahm die Telefonkarte heraus, zerdrückte sie und schmetterte das Gerät auf den Tisch, dass es in zig Einzelteile zerfiel.

„Ich schlage vor, wir bringen den Arzt in den Keller, du weißt schon wohin...“, sagte der Bulle.
„Dort, wo du immer den Hund ankettest!“, lachte der Blonde dazu.
„Genau! Und die Hündin kommt in die Rumpelkammer! Dann überlegen wir in aller Ruhe, was wir mit ihr machen.“
„Was soll das heißen? Was gibt es da zu überlegen? Die kommt auf den Misthaufen.“
Einen Menschen einfach so aus dem Weg zu räumen, ging Bully denn doch gegen den Strich. Außerdem, würde es sie die Sache nur noch schlimmer machen. Das Blondy auseinander zu setzen, war ihm jedoch zu müßig.
Aber, endlich kapierte er es, das mit dem Misthaufen war nicht ernst gemeint. Wieder einmal so ein makabrer Scherz von Blondy. Warum er das nicht gleich begriffen hatte?
„Halt die Goschen! Tu, was ich sage!“
„Ist ja gut!“
Blondy dachte sich seinen Teil. Er vermutete, dass er wohl an der Schlampe Gefallen gefunden hatte. Da lag er gar nicht so falsch. Blondy stellte sich nur die Frage, was seinem Kumpel an ihr gefiel? Diese Frage vergaß er bald wieder, schließlich war ihm diese Tussi gänzlich reizlos. Doch das sollte sich ändern.
Sie steckten die Krankenschwester in die Rumpelkammer und den Arzt in den Keller,
Im Keller wurde er an eine Wand gestellt, an der eine Hundekette hing, eine lange Eisenkette mit eiserner Halskrause am Ende. Diese wurde ihm um seinen Hals gelegt und mit einem extra Schlüssel verschlossen, nicht etwa nur mit einem Riegel. Immerhin konnte der Angebundene seine Hände frei bewegen, eine Knebelung war nicht notwendig.
Darauf wies Blondy gönnerhaft: „Wir nehmen davon Abstand, Deine Hände am Rücken mit einem Kabelband zu binden. Wir hoffen, du weißt dies zu schätzen.“
Beim Weggehen wunderte sich der Bulle über seinen Partner: „Woher hast du eigentlich diese geschwollene Ausdrucksweise?“
„So etwas Ähnliches habe ich gestern im Tatort-Krimi gehört.“
„Ach so!“
Die Krankenschwester war wieder oben in der Seitenkammer eingesperrt worden. Immerhin hatten sie dort drinnen den Staubsauger und einige Besen entfernt, so dass sie etwas Platz hatte. Gut war auch, dass die selbstgebaute Tür der Kammer durch die Bretterschlitze Licht und Sauerstoff hereinließ. Vorteilhaft oder nachteilig, je nach Standpunkt, war: sie verstand jedes Wort in der Küche und im Wohnzimmer, das gesprochen wurde.


Buch ganz zu lesen, im E-Book


https://www.weltbild.de/artikel/ebook/v ... lsrc=3p.ds

Pentzw
Kalliope
Beiträge: 950
Registriert: 11.04.2011, 19:59

B. Sonntag

Beitragvon Pentzw » 14.05.2021, 12:23

6. Langeweile gebiert Ungeheuer ...

Der erste Abend verlief ruhig.
Der zweite Tag begann weniger gut.
Vorkehrungen für die Bewirtung der Gäste mussten getroffen werden. Einkaufen gehen, aber halt, die Vorräte würden noch bis Montag reichen. Aber es war schon lästig, sich darüber Gedanken machen zu müssen. Immerhin war die Tankstelle nicht weit, wo man sich mit Alkoholika versorgen konnte, sobald es brannte. Und es brannte ständig. Das war leider ein teurer Lebensstil.
War ja nur vorübergehend, dachten sie. Nächste Woche sah es schon anders aus. Spätestens bis Mittwoch, Donnerstag würde sie nur so in Geld schwimmen. Also, warum nicht jetzt schon so leben wie übermorgen?
Es blieb nichts anderes übrig zu tun, als auf die Geldübergabe zu warten. Das konnte dauern. Eine halbe Million waren kein Pappenstiel. Eine solch hohe Summe würde nicht einfach von einem Geldautomat ausgespuckt werden. Ein Besuch bei der Bank war nötig. Außerdem musste der ganze Arztclan seinen Obolus beitragen. Das alles würde sich hinziehen. Wie lange wohl? Vermutlich nicht vor Dienstag. Genau, wie die Arztfrau ja schon prophezeit hatte.
Und es konnte durchaus noch länger gehen. „Wenn ich an die kommenden drei, vier Tage denke, wird mir jetzt schon sterbenslangweilig!“, stöhnte Blondy. Man brauchte Geduld, sehr viel Geduld. Geduld, ein Fremdwort, für das sie am wenigsten Verständnis hatten.
Bereits nach einem Tag der Entführung stehen und liegen die beiden jetzt untätig und unschlüssig herum, als hätte man sie an einem fremden Ort abgesetzt, nur nicht bei sich zuhause. Die einzige Abwechslung besteht darin, dass sie ein Six-Pack oder einen Kasten Bier nach dem anderen von der Tankstelle um die Ecke holen. Was kann man sonst schon Sinnvolles tun als Saufen?
Warten … Warten... Warten …

Schon in den ersten Momenten hatte sich der Bulle zu der Frau hingezogen gefühlt. Aber so richtig heraus brach der Druck an diesem zweiten Tag der Langeweile und des Nichtstuns. Besonders heikel wurde es, als sie die Küche putzte und das Geschirr spülen musste.
Bully konnte seinem Blick nicht mehr von ihr wenden.
Diese weißen Schultern!
Diese milchig schimmernde Haut! Wie glatt sie war! Kaum eine Pore, keine Unreinheiten, keine Fältchen, nirgends - einfach perfekt.
Das faszinierte ihn am meisten, total. So war so etwas von perfekt - so hieß dies doch immer in Filmen.
Sieht man mal von ihrem breiten Hintern ab.
Aber sein Blick richtete sich schon wieder auf die geschmeidige Samthaut, die überall durch ihre legere Bekleidung durchschien.
Es war das Ergebnis jahrelanger ausgiebiger Pflege, von Anti-Aging-Salben und Cremes aller Art. Die abonnierte Frauenzeitschrift mit ihren kostenlosen Probierbeilagen hatte über die Jahre hinweg ihre Wirkung nicht verfehlt. Doch leider war der Bewunderer der Falsche.
Dieser Verehrer schmachtete unterdessen und wenn er daran dachte, dass er noch ein paar Tage mit dieser rolligen Katze unter einem Dach verbringen musste, wurde es ihm ganz anders.
Verlockend, unerträglich, einfach supergeil wie sich die Gummibänder des BH über die Schulter spannten. Wenn man bedenkt, wohin diese Bände letztendlich hinführten!?
Irgendetwas irritiert ihn nun und lässt seinen fixierten Blick brechen. Er wendet sich ab.
Als er wieder hinschauen muss und zwar sofort, trifft ihn der Blick der Krankenschwester mit voller Wucht. Er wird krebsrot. Er wendet sich von ihr ab. Schnell zieht die Schwester ihre Bluse über die Blöße.
Nun ist er sich seiner Befangenheit ihr gegenüber voll bewusst. Mensch, diese leicht bekleidete Frau verwirrte ihn. Ärgerlich ist das. Mist ist das! Verdammter Mist!
Wie konnte so eine verworfene, liederliche Schlampe nur einen solch integren, sittenstrengen Mann wie ihn verunsichern?

Eine Stunde später, die Jungs liegen beide ziemlich erschöpft im Wohnzimmer, auf der langen Couch hier und dem langen Sessel dort, stellt Bully die Frage aller Fragen? „Was machen wir mit der Hure?“
Das war die Frage nach Sein oder Nichtsein?
Eine Pause entsteht.
Wahrscheinlich ist Blondy gerade eingeschlafen.
„Die ist eh zu nichts nutze! Zu nichts. Aber auch zu gar nichts!“
Es ist eine Stimme voll gekränkter Verachtung, als hätte eine empfindliche Zunge etwas Bitteres schmecken müssen.
„Im Garten vergraben!“, lachte Blondy jetzt dazu. Was nichts anderes bedeutete, als dass er leicht und locker auf sie verzichten konnte. Erstaunlich? Keineswegs, sie war schließlich nicht der Joker, der ihnen viel Geld versprach. Um die Wahrheit zu sagen: Sie war keinen Pfifferling wert.
Die Aussage von Vergraben-im-Garten schien zum Ausdruck bringen zu wollen, dass ihn diese Tussi nicht im Geringsten interessierte, geschweige denn sexuell reizte. Ganz im Gegensatz zu seinem Partner allerdings. Der hielt aber mit seinen Gefühlen bewusst hinterm Berg.
Das Objekt des Gesprächs bekommt jedes Wort mit.
Hat sie Angst?
Hofft sie darauf, dass ihr der Arzt beistehen würde?
Sie erinnert sich an den letzten Blickkontakt, den sie mit ihm hatte, als sie in die Wohnung geführt und bevor sie auseinandergebracht wurden.
Er hatte nur kurz den Blick abgewandt, zu Boden gesenkt und ihr schließlich ganz den Rücken zugekehrt, als es darum ging, dass sie ganz allein hier oben den Gängstern ausgeliefert sein würde.
Das war schon eine harsche Geste gewesen, die klipp und klar sagte: Ich bin selbst heilfroh, wenn ich meine eigene Haut retten kann, was kümmert mich deine.
Ah, sie hatte ganz genau verstanden: Hier ist kein Platz für unnötiges, selbstgefährdendes Mitleid. Jeder rette sich, so gut er kann!
Hilfesuchend und verzweifelt blickte sie durch die Gitterstäbe durch das Fenster nach draußen. Kein Mensch war zu sehen. Jenseits der Straße war der Bahndamm. Links und rechts waren auch keine Nachbarhäuser erkennbar. Das Haus lag ziemlich einsam.
Selbst wenn jetzt ein Passant am Gartenzaun vorbeiginge, hätte sie keine Chance. Wenn sie laut um Hilfe schrie, würde kein Wort durch die Mauern nach draußen auf den Bürgersteig dringen.
Sie saß in der Falle. Wie eine Maus. Eine graue Maus. Eine kleine, graue Maus, nur noch wert, an eine hungrige Katze verfüttert zu werden. Ansonsten vielleicht tot und verreckt auf dem Misthaufen geworfen zu werden ...

Das untätige Herumliegen führte zu Verspannungen. Besonders bei Bully. Er litt bald unter dem Tic, sich ständig den Nacken zu reiben – sofern er einen hatte. Dazu drehte er den Kopf im Kreis und langte mit seinen Händen nach hinten, wo der Nacken zu sein schien, um sich zu massieren.
„Verspannungen?“
„Du sagst es!“
Blondy sprang auf. Er hatte eine Idee. Er ging zur Besenkammer.
„Kannst du massieren, Schwester?“
Zögernd kam: „Schon.“
Eine kurze Pause.
Dann öffnete er das Holzgitter, nahm die Schwester etwas unsanft bei der Hand und zog sie zu Bully, der etwas ratlos auf die Herannahenden blickte.
„Hier. Ich glaube, die Krankenschwester kann dir helfen.“
„Und?“
Bully blickte misstrauisch drein. Normalerweise hätte er sich auf keinem Fall von ihr anfassen lassen, lieber sich die Hände verbrannt, aber jetzt, wo sein Partner mit der Krankenschwester im Schlepptau vor ihm stand und diesen verführerischen Vorschlag machte, wäre es dumm gewesen, nein zu sagen und sich wie ein kleines Kind zu sträuben.
„Na gut. Aber reiß mir nicht den Kopf herunter!“
Beide lachten verklemmt.
Dann drehte er sich um und neigte den Kopf. Die Krankenschwester machte sie an die Arbeit. Ihre Massagebewegungen zeigten, dass sie geschult war. Sie war zwar keine Krankengymnastin, auch keine ausgebildete Masseurin, aber hatte einmal einen Kurs gemacht und das zeigte sich nun in den geübten Handbewegungen.
Bully fühlte sich bald schon viel besser.
Danach wurde die Schwester ohne Dank wieder in ihr Verließ zurückgebracht.

Das Folgende hört die Frau in der Rumpelkammer Wort für Wort mit.
„War das gut gewesen?“
Bully murmelte nur. Sich eindeutig positiv zu äußern, hätte Gott wer weiß wohin geführt und ihn vielleicht in weitere Verlegenheiten gebracht.
„Ich wusste es. Denn die Braut ist Krankenschwester. Deshalb wusste ich, dass sie massieren kann.“
„Hm.“
„Hm, da fällt mir noch was ein. Die Tussi ist doch Krankenschwester.“ Blondy schoss wieder ein Gedanke durch den Kopf.
„Eh! Na und?“
„Na, wenn sie Krankenschwester ist und massieren kann, wie wir gesehen haben … Also, wenn sie Krankenschwester ist sie doch eine Art eine Pflegerin!? Oder?“
„Kann schon sein.“
„Und eine Pflegerin kümmert sich um den Körper eines Menschen. Normalerweise, den eines kranken Menschen. Aber sie kann genauso gut um einen gesunden Körper kümmern.“
„Ja, und?“
„Funkt es nicht?“
Der Dunkle warf Blondy einen zweifelnden Blick zu. Gleichzeitig auch in Richtung des Gesprächsgegenstandes, zur Rumpelkammer.
„Mann, zum Kranke pflegen gehört ja auch waschen … Das gehört ja dazu!“
„Ja, massieren war ja okay, Aber sich waschen lassen. Bin ich eine alte Krücke oder was?“
„Mann, sei nicht so empfindlich. Darum geht es nicht. Du bist natürlich nicht alt und gebrechlich, ein Greis, igitt. Nicht dran zu denken!“ Dabei lachte er dreckig.
Ein drohender Blick traf ihn.
„Nein, nein. Trotzdem! Warum sich nicht weiter von so einer Professionellen verwöhnen lassen? Die Möglichkeiten nutzen, die diese Krankenschwester bietet ...“
„Was willst du damit sagen? Red nicht um den heißen Brei herum. Spuck's endlich aus!“
„Na, pflegen, pflegen. Woran denkst du dabei?“
Bully begannt etwas zu ahnen. Gleichzeitig war ihm der Gedanke so peinlich, dass er kein Wort herausbrachte. Das Massieren hatte man ja noch als Spiel abtun können, aber das andere …
„Genau, schnackelt's?“
Er blickte zur Rumpelkammer und leckte sich die feuchten Lippen. „Äh, warum nicht...“
Jetzt erhob sich Blondy zu seiner vollen Größe, sprang aber noch nicht los. Er langte nach einer Flasche Bier, nahm einen großen Schluck, setzte ab und schrie fast: „Ja, Mann, wir haben sie in der Hand. Wir können mit ihr machen, was wir wollen.“
Bully ging allmählich die Dimension des Ganzen auf.
„Hast hast du es endlich erfasst, Mann!“
„Ja, und wie.“
„Also, lass schon mal heißes Wasser in die Wanne laufen. Ich komme gleich nach!“
„Eh, Mann, mach ich!“
Erstaunlich, dass Bully sich herumkommandieren ließ. Das zeigt, wie betroffen er von der ganzen Sache war. Offensichtlich war er nicht mehr ganz bei Sinnen.
Die Haare auf ihrem Körper hatten sich bereits aufgestellt. Sie hatte alles gehört, Silbe für Silbe.
Ihr war furchtbar übel, ihr Magen drehte sich wie ein Karussell im Kreis und sie suchte Halt an einem Schrupper, bevor sie umkippte und sich wehtat. Aber dafür war es zu eng.
Sie sah glasklar, was auf sie zukam.
Die Vorstellung war widerlich, ekelhaft, abstoßend. Und doch spürte sie, wie Entspannung durch ihren Körper strömte, denn in dieser dunklen, stickigen Kammer auf engstem Raum war sie eingeschnürt wie in ein zu enges Korsett. Ihr Kreislauf war bereits eingeschlafen und alles verlangte nach Bewegung, bevor sie wie ein Stein erstarren würde.
So jedenfalls signalisierte es ihr Körper. Es war verrückt, denn die Aussichten waren düster.
Körper und ihr Verstand kämpften noch eine Weile miteinander, bis alles entschieden war. Dann versuchte sie. sich zu trösten und zu beruhigen. Wenn sie aus der Kammer herauskäme, würde sich vielleicht eine neue Möglichkeit auftun wie etwa, zu fliehen, aus dem Haus zu entkommen, sich zu befreien.
Sie löste ihre Hand vom Besenstiel und war bereit. Schon öffnete sich das Holzgitter, ein starker Arm zerrte sie an der Schulter heraus und sie stand vor der Rumpelkammer und nicht mehr in dieser bedrückenden Enge.
„Wohin bringst du mich?“
„Mädchen, spiel hier nicht die Ahnungslose! Du weißt genau, was auf dich zukommt. Du bist ja nicht taub, du hast alles mitgehört, was wir gequatscht haben, Schnalle!“
Blondy bugsierte sie unsanft zur Holzstiege, die vom Erdgeschoss in den ersten Stock führte. Selbst danach musste er der Widerspenstigen noch in den Rücken stoßen, damit sie die knarrenden Bretter und ausgetretenen Stufen der Holztreppe erklomm. Sie war nicht so leicht bereit, sich ihrem Schicksal zu fügen, oh nein.
"Was passiert jetzt?"
"Mädchen, ich bin der Kaiser von China und du noch Jungfrau!"
Er stieß sie weiter die Treppe hinauf.
Wenigstens der Blonde! Seine körperliche Nähe ertrug sie noch am ehesten. Doch ihr schwante etwas und sie stieß aus: Bitte, nicht der grimmige Dunkle! Nur nicht mit dieser finster dreinblickende Kerl!
Als sie den Treppenabsatz erreichten, versuchte er sie zu beruhigen oder etwas dergleichen. Dabei wehte eine Alkoholfahne an ihr Ohr.
„Mädchen, mach dir nicht gleich ins Höschen. Wir machen hier keine Melange zu dritt alla Moussee oder wie das heißt. So wie die Franzosen es treiben. Nein, bei uns herrschen keine französischen Zustände, bei uns geht's noch geordnet und gesittet zu. Einer nach dem anderen! Das kann ich dir garantieren.“
Ein eigenartiges irres Kichern erfolgte.
Er öffnete eine Tür, aus der ihr heißer Dampf entgegenschlug.
Aber sie stand wie versteinert da, konnte sich nicht bewegen, nicht durch diese Tür treten.
Sie konnte nichts sehen. "Marsch!" Und schließlich wurde sie mit einem rüden Stoß über die Schwelle und in die Nebelwand gestoßen.
Dann fiel die Tür hinter ihr ins Schloss. Ein Schlüssel drehte sich geräuschvoll. Dann saß sie in der Falle.
Der Weg zurück war ihr versperrt. Es gab nur eine Richtung: vorwärts.
Aber da waren nur graue Schwaden, die keine Orientierung boten.
Sie befand sich in einem Raum, der von dichtem Wasserdunst erfüllt war. Aus einer Badewanne stiegen Dämpfe auf und erfüllten den Raum, der die Quelle dieses heißen Wassernebels war. Aus der Badewanne zeichneten sich heraus: An einem Ende der Wanne ragten aus dem Wasser Füße, am anderen ein Schädel, der sich in seinen Nacken zurückgelehnt hatte und daneben hing ein Arm schlaff über den Seitenrand, als säße derjenige, dem dieser gehörte, in einem flotten Caprio, der an einem lauen Sommerabend durch die Gegend fuhr.
Als sie mit fast geschlossenen Augen beherzt darauf zuging, schälte sich in der Wanne langsam eine Gestalt heraus, die ihr den Atem raubte. Das Herz sank ihr in den Magen. Ihr wurde speiübel. Mit dem anderen zugange zu sein, wäre es ihr leichter gefallen, weniger unangenehm. Aber dieser ging ihr total gegen den Strich.
Plötzlich spürte sie, wie sich die Hitze in ihrem Gesicht und an ihrem Hals, ja auf den ganzen Körper übergriff und ausbreitete, wie sich jede einzelne Pore sich öffnen meinte und der Schweiß zu strömen begann. Das Gesicht war bestimmt knallrot und der ganze Körper pitschnass.
Einen abstoßenden Körper waschen zu müssen und andere Dinge zu tun, die sich nicht vermeiden ließen, war schon schwer genug. Aber den Körper eines Menschen, vor dem sie sich ekelte und den sie verachtete, war eine übermenschliche Herausforderung. Dieses ekelhafte Parfüm, das billige Gel und der säuerliche Alkohol – ihr stockte der Atem und wieder war sie kurz davor, sich zu übergeben. Jetzt stand eindringlich dieser Mensch selbst vor ihr, vielmehr dessen finsterer Charakter, der mürrisch, unberechenbar und zu Geilheit und Gewalt neigte.
Angewidert verzog sie das Gesicht zu einer säuerlichen Grimasse, als rieche sie förmlich die sauren Endorphine und das Adrenalin. Zum Glück konnte er das nicht sehen.
"Worauf wartest du, he!"
Augen zu und durch und schon drang sie weiter in den Dampf ein, sah neben der Wanne über dem Waschbecken einen Spiegelschrank und öffnete ihn. Der Inhalt war das reinste Chaos, aber sie konnte ein Stück Seife sowie einen verknitterten Waschlappen entdecken und herausnehmen. Als sie den Schrank wieder Schloß stand sie im Spiegel einer Fremden gegenüber. So ist es gut, du bist jetzt einfach eine fremde Person, die in einem Film mitspielt, den du distanziert und interessiert verfolgst. Als ob das alles keine Bedeutung hätte. Als ob es jemand anderem an einem anderen Ort widerfahren würde.
„Wird's bald!"
Sie riss sich zusammen und tat, was sie tun musste, ohne weiter nachzudenken, bemüht, die Szene von einem äußeren Standpunkt zu beobachten. Punkt.
Schnell tauchte sie den Lappen ins Wasser und seifte ihn ein.
Irgendetwas hatte sich verändert. Ihre Abläufe oder vielmehr die Wahrnehmung dessen, was sie tat, schienen sich verlangsamt zu haben, gemächlich und wie in Zeitlupe, als hätte sie Drogen und Betäubungsmittel genommen, was sie in ihrem Leben kaum getan hatte.
Es würde ihr leichter fallen, das zu tun, was zu tun war.
Leichter fiel jetzt ihr Aufgabe, da sie sich hinter den Kopf des geilen Kerls stellen konnte, so dass sie ihm nicht direkt in die Augen sehen musste, während sie ihn wusch. Ein krummer Rücken war erträglicher als direkt in eine grimmige Visage schauen zu müssen.
„Na, mach schon, Hure!“ Kopf und Rücken beugten sich vor und signalisierten: Ich bin bereit!
Filmriss.
Sie war wie gelähmt.
Was bildete sich dieser Berggorilla ein? Dass sie seine Sexsklavin wäre? Das er was Besseres sei als sie?
Aber sie musste es ertragen. Wahrscheinlich noch viel mehr. Schlimmeres.
Nach zwei Sekunden Schockstarre ging sie wieder zur Arbeit über. Klatschte den Lappen auf die vorgebeugte Schulter, rieb vor Angst und Wut rüde die borstige Haut, eher ruppelte wie über ein Waschbrett, während der Bearbeitete grunzte und Laute des Wohlgefallens unterdrückte.
„Fester, Schnalle!“
Sie rieb über seine Borsten, als würde sie mit einem Reibeisen hin und her fahren.
„Aua, pass doch auf! Du zerreißt mir noch mein Halsband.“
Er drehte sich zu ihr um und warf ihr einen fürchterlichen Blick zu.
Woher sollte sie wissen, dass an diesem dicken Hals eine goldene Kette hing?
Schnell rieb sie weiter, fuhr erneut an seinem Hals entlang, nur sanfter, hob die Kette leicht an und bearbeitete langsam und unermüdlich die roten Streifen, die die Kette an seinem Hals hinterlassen hatte. Massierte sie sogar. Knetete sie zwischen Daumen und Zeigefinger.
Gleichzeitig verspürte sie den Impuls, ihn zu würgen, ihn mit dem Band zu erdrosseln. Aber ihre starken Hände würden es ohne Hilfsmittel nicht schaffen. Sein Stiernacken war zu hart und muskulös.
Sein Kopf bewegte sich. Hatte er ihre Gedanken erraten?
Schnell weiter massieren. Massieren konnte sie sehr gut. Dafür war sie in der Schwesternschaft bekannt, so oft hatte sie ihre Freundinnen damit beglückt.
Mit ihren kräftigen Händen führte sie lange, kraftvolle Bewegungen aus, deren Wirkung beruhigend, angenehm und wohltuend unter seine Haut drang. Er drehte sogar seinen Nacken dazu im Kreis und gab sich den Schauern hin, die seinen Rücken hinauf und hinunter liefen. Nach einer Minute nickte er ein, schwieg verdächtig lange.
Aufrecht saß er in der Wanne, der Kopf hing schlaff zwischen den Schultern nach vorn.
Jetzt wäre der richtige Moment - ein Schlag mit einem harten Gegenstand auf den dumpfen Schädel und aus die Maus. Oder den Kopf unter die Oberfläche tauchen. Aber beides ein Ding der Unmöglichkeit, bei beiden hätte sie wohl nicht die nötige Kraft dafür.
Sie seufzte, goss schließlich mit der Duschspritze Wasser über seine nach Gel, Parfüm und Alkohol riechenden Meckiborsten. Ein Spritzer Haarshampoo in die flache Hand und sie wusch ihm den Schädel.
Plötzlich richtete er den Kopf auf, als würde der Eingesalbte aus tiefem Schlaf erwachen und fuhr sie heftig an: „Pass auf, Hure! Nicht so hart!"
„Tut mir leid!“
Stattdessen lagen ihr ganz andere Worte auf der Zunge, sogar ironische: „Was, ein bisschen Gefühl wäre nicht schlecht!?“ Aber würde er das verstehen? Wo dachte sie hin?
Dann drehte sie die Dusche voll auf, um die dreckige Soße aus seinen Haaren zu spülen.
Als sie den Brausearm auf die Seitenhalterung legte, also dicht über ihn gebeugt war, packte er ihren Kopf mit einer großen Hand und hielt ihn fest umklammert. Langsam bewegte er ihn nach unten in Richtung seines Schoßes.
„Jetzt zeig mal, was du kannst, Weibsstück!“
Gleichzeitig stöpselte er den Abfluss aus, begleitet von einem lauten Gluckern des Wassers. Mit dem langsamen Absinken der Wasseroberfläche tauchte sein schmieriger, ekliger, krummer Schliegel unaufhaltsam wie eine Moräne aus der Tiefe des Meeres auf ...

7. Das Spiel noch einmal, nur schärfer...

Blondy und Bully langweilten sich derweil zu Tode. Geiselnahme kann ein zähes Geduldsspiel sein! Wer hätte das gedacht?
Schon am Morgen des dritten Tages war die Anspannung so groß.
Wie würde diese Entführung wohl enden?
Das hing davon ab, ob man an alles gedacht hatte.
Diese Frage stand mit schärfster Klarheit vor ihnen!
Ungeklärt war beispielsweise die Frage, was mit den Geiseln geschehen sollte, wenn sie endlich das Geld hatten. Das überstieg eindeutig ihre Vorstellungskraft.
Was sollten sie tun? Keine Ahnung! Also an die Vergangenheit denken – das ist einfacher.
Mensch, die Freigelassenen wussten doch, wo die Geiselnehmer wohnten, wie sie aussahen, wie sie sprachen, weil sie dummerweise nicht an Vorsichtsmaßnahmen gedacht hatten?
Spätestens beim Parkplatz hätte man ihnen die Augen verbinden müssen.
So würde es keine Stunde nach der Geiselbefreiung dauern und die Polizei stünde vor der Tür.
Sie hatten voreilig und unüberlegt gehandelt! Man hätte den Geiseln nicht nur die Augen, sondern auch die Ohren verstopfen müssen.
Aber jetzt war es zu spät!
Natürlich konnten sie noch rechtzeitig fliehen und sich nach Übersee absetzen, nach Amerika, in irgendein Land jenseits der Meere. Am besten nach Lateinamerika, oder ein paar Jahre am Strand von Goa in Indien verbringen oder in Thailand, wo die geilen Nutten nur auf solche wie sie warteten, kurz, jeder Winkel der Welt stand ihnen offen. Geld würde genug in der Kasse sein.
Aber nichts war geplant, vorbereitet, durchdacht. Die Frage war: Konnten sie überhaupt so holterdiepolter und unvorbereitet ins Ausland aufbrechen?
Die Pässe waren ja noch gültig.
Aber es gibt zum Beispiel Interpol. Die sollen ziemlich fix sein – vor allem in der globalisierten Welt, in der wir leben, in der alles zusammenhängt und vernetzt ist. Da ist im Grunde genommen die Suche nach Gaunern nur ein Kinderspiel. Nirgendwo konnte man sich wirklich sicher fühlen als kleiner Ganove.
Aber wozu sich über die Zukunft den Kopf zerbrechen?
Eines war jedenfalls klar: weg! Weg heißt weg. Koffer packen. Aber so schnell wie möglich, damit hier Schluss und Ende war.
Jetzt wurde ihnen noch mulmiger, wenn sie an die Zukunft dachten, an dieses Für-immer und ohne Heimat.
Ein bisschen unsicher schon, das alles.
Aber es ging nicht anders. Die Fliege machen und das sofort!
So-fort!
Keine Zeit, das Zelt abzubrechen. Man musste nachdenken. Was für ein mühseliges Geschäft.
Waren sie deshalb nicht bedauernswert?
Aber es half nichts, dieses Selbstmitleid.
„Scheiß Bier! Das macht transelig!“
„Du sagst es, Kumpel. Du sagst es!“
Nein, ab und weg, auf dem kürzesten Weg zum Flughafen. Von wegen überlegen, wohin, warum, womit - keine Verzögerung. Geht nicht. Sondern so schnell wie möglich in den nächsten Flieger. Egal wohin. Hauptsache weg, weit weg von hier.
Ohne Planung? Auch ohne. Das wird schon!
Aber wohin mit den Geiseln?
Hier zurücklassen oder irgendwo anders aussetzen, vielleicht im Tunnel?
Es durfte nicht geschehen, dass die Gefangenen etwa nicht rechtzeitig entdeckt werden, verhungern und das ganze Haus mit ihrem Leichengeruch verpesten. Obwohl es ihnen eigentlich egal sein könnte.
Außerdem würden sie eh früher oder später entlarvt werden und ihre Identitaät ans Licht geraten. Vielleicht sperrten sie sie lieber hier ein, ließen sie hier im Haus zurück? Die Polizei würde ihren Unterschlupf ohnehin nach ein paar Tagen entdecken, wenn die Lösegeld-Zahler Alarm schlagen würden.
Oder zumindest eine Geisel mitnehmen, falls die Bullen unerwartet an der nächsten Ecke lauerten. Dann hatten sie ein Faustpfand. In den Flieger konnten sie sie natürlich nicht mitnehmen.
An all das musste man denken. Musste man. War bestimmt nicht verkehrt.
„Du sagst es, Kumpel!“
„Year!“
„Prost!“
„Hau weg die Scheiße!“
Puh. Kidnapping war kein einfaches Geschäft!
So vieles müsste man bei einem Kidnapping berücksichtigen, mitdenken, die Für und Wider auf die Waage legen - wer hätte das gedacht? Dabei war man doch nur Entführer wider Willen. War sozusagen in diese Rolle hineingeschlittert. Was konnten sie dafür? Alles kam unvorbereitet und überraschend. Völlig unvorbereitet saßen sie jetzt in der Bredouille und mussten schauen, wie sie sie meisterten.

Keine drei Meter von ihnen entfernt gibt es jemanden, den reale Sorgen plagen. Dieser Mensch sitzt wirklich in der Klemme. Nicht nur räumlich. Die drangvolle Enge, die sperrigen Gegenstände, das ständige Stehen sind schlimm genug.
Aber das ist nicht alles.
Er leidet an einem körperlichen Gebrechen, an einem Manko, über das er unter normalen Umständen kaum sprechen kann und unter den gegebenen treibt ihm allein der Gedanke daran, Schamesröte ins Gesicht. Das ist, ob man es glaubt oder nicht, schlimmer, als sich den Kopf darüber zu zerbrechen, wie man sich mit erpresstem Lösegeld aus dem Staub machen kann.
Es drückt, neben dem, was ringsum drückt, etwas ganz und gar Unerbittliches: Zähne. Aber nicht einfach Zahnschmerzen, sondern etwas, das auf das Selbstbild einer Frau drückt, die etwas auf ihren Körper hält. Und welche Frau tut das nicht? Es drückt stark, sehr stark. In diesem Fall besonders.
Seit Jahren rächt sich die Vernachlässigung ihrer Zähne, die bis in ihre Kindheit zurückreicht. Ihre bäuerliche Herkunftsfamilie vertrat hartnäckig die Meinung, warum in Zahnvorsorge und damit in Schönheit investieren, wenn Frau doch nur zupacken und Kinder gebären müsse? Außerdem habe jedes Familienmitglied Zahnprobleme und müsse spätestens mit vierzig ein künstliches Gebiss tragen. Warum sollte es ihr besser ergehen? Auch wenn der zahnmedizinische Fortschritt Prophylaxe möglich macht.
Das Fatale ist, dass gute, ebenmäßige, weiße Zähne in der Stadt eine andere Rolle spielen als auf dem Land. Aber wer weiß schon, ob es sie eines Tages dorthin verschlägt? Und im Falle dessen, Wäre sie doch lieber zu Hause geblieben!
Nun ja, ihr künstliches Gebiss braucht Pflege. Das Mindeste, was sie tun kann, ist, es jeden Abend in eine Schatulle mit einem speziellem Mittel zu legen.
Woher soll sie das nehmen? In ihrer Gefangenschaft. In dieser Abstellkammer? Sie hatte keine Tabletten. Natürlich wusste sie, dass ihre Gastgeber zu einer Tankstelle gingen, wo es bestimmt welche gab. Einerseits erschien es ihr unmöglich, darüber zu sprechen. Zum anderen unvorstellbar, bei diesen gewaltbereiten Entführern auf Verständnis zu stoßen, die selbst nichts auf die Reihe bekamen und jeglicher Sinn für Ordnung abhanden ging.

Sie warf einen Blick durch die Ritzen der Bretter, auf das ungewaschene Geschirr, den überquellenden Mülleimer in der Ecke und den Unrat, der hier und da auf Boden, Tisch und Schrank verstreut lag. Zur Idylle fehlten nur noch die quiekenden Ratten, die hier und da herumhüpften.
Und in diesem Haus sollte sie Verständnis für die Reinigung künstlicher Zähne finden?
Hoffentlich hatten sie genug vom Sex. Wenn sie sich vorstellte, wie sie jetzt wieder über sie herfielen, nachdem sie ihre Zähne zum zweiten Mal in der Nacht nicht hatte putzen und reinigen können und bereits ein deutlich muffiger Geruch aus dem Mund entwich ...
Verzweifelt klammerte sie sich an die hölzernen Gitterstäbe und betete nur, dass diese Brüder inzwischen genug vom Sex hatten.
Bully hatte inzwischen Blut geleckt.
„Komm, heute noch einmal!“
„Hä!“
„Die Hure!“
„Die Hure?“
„Du weißt schon!“
„Von mir aus!“
Eine merkwürdige Stimmung lag im Raum.
Endlich fiel es Blondy ein.
„Sofort?“
Er brauchte nicht zu antworten. Blondy gab die einleuchtende Erklärung.
„Klar, eine Hure muss jeden Tag gut durchgefickt werden, sonst fühlt sie sich nicht wohl. Wird grantig, launisch, hysterisch! Wie eine Kuh, die nicht jeden Tag gemolken wird. Fängt an, rumzumuhen und zu brüllen.“
„Stimmt, stimmt. Wie recht du hast!“
„Sie will ein Stück von meinem Speck. Weil sie ihn braucht!“
„Jetzt, wo sie Lunte gerochen hat!“
Was sein muss, muss sein!
Wirklich perverse Fantasien hatten ihn fest im Griff. Zuerst stellte er sich vor, wie er sie auf die Knie zwang und sie ihm einen blies. Und dann, ja dann... Klar, dann drehen und von hinten... Aber richtig ficken!
So sollte es kommen. Ach, wäre es nur dabei geblieben und und der beißende Mundgeruch unentdeckt. Allen wäre viel Ärger, Verdruss und Misshandlung erspart geblieben.
Doch als Bully fertig war, trat er sein Opfer so heftig mit den Knien in den Hintern, dass es nach vorne auf die Hände fiel, sich zwar sofort auf dem Boden umdrehte, aber mit gespreizten Beinen einen so verlockenden Anblick und Lockvogel bot, dass Blondy, der das Schauspiel heimlich verfolgt, so geil und fickrig wurde, dass er aus seinem Versteck sprang, weil er sich mehr beherrschen konnte.
Er schob den schwer atmenden Bully grob beiseite und krächzte: „Jetzt lass mich mal ran!“
Die Krankenschwester wollte schon wieder die Beine einklappen, aber Blondy warf sich gerade noch rechtzeitig dazwischen und zwar mit voller Wucht und voll frontal. Seine Zähne gruben sich raubtierhaft in ihren Hals, in ihren Mund – oh, das hätte er nicht tun sollen - und bekam die versalzene Suppe voll in den Hals.
Wie von der Tarantel gestochen sprang er auf, wischte sich angewidert den Mund und schrie, als hätte er sich mit Säure verätzt: „Igittigitt, die stinkt aus dem Maul wie die Pest! Päh.“ Und er lief eilig ins Bad, spülte sich schnell den Mund aus und putzte sich gründlich die Zähne.
Der Krankenschwester war das höchst peinlich.
„Ich muss mir nachts die Zähne putzen, in Chemie einweichen. Ich habe künstliche Zähne. Die müssen jeden Tag geputzt und gereinigt werden!“
Nach dieser Gruppenvergewaltigung war sie so beschämt, dass sie nicht einmal ihre Peiniger beschimpfen konnte, wie sie es verdient hätten. Aber die Scham war tatsächlich stärker.
„Und du willst eine Hure sein? Wäscht und putzt dich nicht einmal gründlich und stinkst zehn Meilen gegen den Wind aus dem Mund! Pah!“
Und er gab ihr eine.
„An der mach ich mir nicht die Hände schmutzig!“ Er wandte sich angewidert ab.
Wer weiß, welche Krankheiten sie mit sich herumschleppte. War sie aber nicht ein wirkliche Krankenschwester, eine ausgebildete? Dann sollte sie doch besonders reinlich sein! Hygiene war doch das oberste Gebot in diesem Bereich, oder?
Es war klar, dass mit der etwas nicht stimmte!
So durfte sich diese kontaminierte Person nach dieser Gruppenvergewaltigung nicht mehr im Wohnbereich aufhalten, zu dem auch die Rumpelkammer gehörte. Ab in Quarantäne, isoliert und weggesperrt, so weit weg wie möglich. Ab in Keller zum Illuministen und feigen Geldsack.
Leichter gesagt als getan.
Zuerst versuchten sie es auf die sanfte Tour. Doch als sie das dunkle Loch sah, in das die Kellertreppe führte, verlor sie die Nerven. Ein paar Schläge auf den Kopf sollten sie zur Vernunft bringen. Aber brachte sie völlig aus der Fassung.
„Ihr Idioten, geilen Säcke, Kanaillen! Ihr widerliches Pack, Abschaum, Gossenpisse, Ratten, Schmeißfliegen...“ So ließ sie ihrer Wut freien Lauf. Am meisten wunderte sie sich über sich selbst. Sich so gehen lassen, hätte sie nicht für möglich gehalten.
„Du Stinktier, wagst es, uns zu beleidigen!“
Bully zögerte nicht lange, packte sie grob am Arm, verdrehte ihn schmerzhaft auf den Rücken und forderte Blondy auf: „Los, mach schon. Pack die Schnepfe!“
Sie strampelte wie verrückt mit den Füßen, schlug wild mit den Händen um sich, aber es half nichts – die beiden kräftigen Kerle hatten sie sofort gepackt und zerrten mit aller Kraft an ihr. Sie musste buchstäblich wie ein Sack Kartoffeln in den dunklen Keller geschleift werden. Kantige Treppenstufen erschwerten den Weg. Das hinterließ natürlich körperliche Spuren.
Im Keller befand sich eine Zelle, die, wie die Rumpelkammer, aus einem Holzgitter bestand. In diese wurde die Renitente kurzerhand hineingeworfen.. Glücklicherweise befand sich am Ende des kleinen Raumes ein altes Sofa, auf dem sie unverletzt zum Liegen kam. Das Vorhängeschloss des Gitters schnappte hinter ihr zu, sie drehte sich um, warf sich gegen die Holztür, rüttelte wie verrückt, aber vergeblich.
„Gossenpisse, Abschaum, Dreck seid ihr, ihr...“ Sie beschimpfte ihre Peiniger weiter, aber vergeblich. Ihre Flüche, Beschimpfungen und Drohungen waren schon beeindruckend, zumal von einem so schüchternen, unschuldigem Landmädchen.
Wenigstens blieben die Angesprochenen stehen.
Einer schaute dem anderen ins Gesicht.
Blondy pfiff anerkennend und sagte: "Hör dir das an. Nicht schlecht, was!“
Bully war weniger zum Scherzen aufgelegt und sagte nur kurz: „Was denkst du? Hast du etwas anderes von einer Hure erwartet?“ Das war ernst gemeint.
Blondy war erstaunt über seine Humorlosigkeit, nickte aber bedächtig und zuckte schließlich mit den Schultern: „Du hast Recht. Lassen wir der Hure ihren Spaß!“
Ungerührt, sie drehten sich nicht einmal um, stampften sie die enge Treppe wieder zurück.
Die Krankenschwester warf sich auf ein Sofa in der hintersten Ecke der Zelle und heulte jämmerlich auf, bis es nur noch gottserbärmlich wimmerte. Aber niemand hörte sie, außer dem, dem seine Haut wichtiger war und dem dies völlig kalt ließ.

8. Die Krankenschwester packt aus...

Der Krankenschwester war übel mitgespielt worden. Neben der unsichtbaren seelischen Tortur, nämlich zweimaligen Vergewaltigung, waren auch die sichtbaren körperlichen Verletzungen beeindruckend. Als sie vom Boden aufhob, in den Schwitzkasten nahm und in den Keller zerrte, hatten die beiden Kerle kräftig zugelangt. Deutliche Schürfwunden, blaue Flecken und blutige Narben im Gesicht, an Händen und Beinen hatte sie davongetragen. Außerdem schmerzte ihr Ellenbogen fürchterlich, weil sie sich an Ecken und Kanten gestoßen haben musste.
Sie rafft sich auf und kommt endlich aus der hintersten Ecke des Raumes nach vorn an das Gitter, an die Holzlatten und greift wild wie ein Gorilla nach den Stäben. Tränen rinnen in Strömen aus den Augen und ihr Gesicht verzerrt sich zu einer hässlichen, garstigen Fratze.
„Ich musste immer verzichten. Mein ganzes Leben lang. Gegenüber meinem großen Bruder, der alles geerbt hat, was wir hatten. Jetzt habe ich es satt. Zurückstecken, nachgeben, verzichten und wieder verzichten und jetzt ist mein Leben vorbei.“
'Die kriegt sich jetzt nicht mehr ein!', befürchtet der Arzt. 'Die kriegt sich jetzt nicht mehr ein, verdammt!“
So hart ihr Charakter, so stark ihre Zurückhaltung, ein Zeichen von Stärke, bislang auch gewesen sein mag, jetzt bröckelt ihre Fassade.
„Nein, ich will nicht mehr, ich will nicht mehr! Ich will hier raus! Und du, sag doch was! Mach doch was!“
In der Tag, sie fängt jetzt an zu spinnen, durchzudrehen. Mach doch was!
„Mal sehen! Noch ist nicht aller Tage Abend!“, sagt er zu ihr diese Worte, die hohler nicht sein könnten, was ihm auch sofort bewusst wird. Aber was soll man schon sonst sagen und tun?
Nichts! Keinen Plan! Kuschen!
Natürlich hat er Mitleid. Er kennt ihre Biographie. Dass sie es als Tochter einer Bauernfamilie schwer gehabt hatte. Der große Bruder den Löwenanteil des Besitzes geerbt, Hof, Ställe, Felder, Wiesen, Wälder. Ihr blieben nur ein paar Tausender, um ihre Ausbildung zu finanzieren. Es war zwar ein helfender Beruf, in ländlichen Kreisen hoch angesehen, aber sie hätte Besseres verdient. Sie durfte keine höhere Schule besuchen, obwohl ihr Lehrer ihre Eltern inständig darum bat. Sie habe die Voraussetzung und Intelligenz für ein Gymnasium.
Am härtesten traf sie jedoch die Einstellung ihrer Eltern zur zahnärztlichen Behandlung. Eine prophylaktische Korrektur der sich früh abzeichnenden kariösen Zahnbildung, wurde nicht für notwendig erachtet. Schon in jungen Jahren mit einem künstlichen Gebiss litt ihre Eitelkeit sehr. Der Gedanke an eigene Kinder wurde ihr von klein auf ausgeredet und als Schreckensbild an die Wand gemalt. Wer nichts hat, sollte keine Kinder in die Welt setzen. Es sei denn, das verstand sich von selbst: „Du angelst dir einen reichen Mann.“
Hatte sie in dem Arzt einen Anwärter gesehen, ihren Zukünftigen, trotz der Anderen, der Ehefrau, der Widersacherin, des Pendants, das ja früh sterben könnte? Aber nach allem, was jetzt noch kommen konnte, war es nicht ausgeschlossen, dass sie die Erste sein würde, die ins Gras biss.
„Und du kannst mich jetzt nicht heiraten. Nein, wir kommen nicht mehr zusammen. Da kommen wir nie heil raus. Die sind zu brutal. Die bringen uns um.“
„Leg dich hin!“, befahl er ihr. Verlegen blickte er in eine Ecke. Die Sache ging ihm zu nahe. Diese Gefühle, die ihm gezeigt wurden, machten ihn nur verlegen und verwirrten ihn.
'Schnell – wehr dich!'
Was er noch für diese Frau empfand, war Mitleid. Aber verächtliches Mitgefühl. Körperlich eine tolle Frau, entpuppte sie sich nun als geistiger Trottel. So hatte er sie noch gar nicht wahrgenommen, geschweige den geahnt, dass sie solche Seiten hatte. Aber um seine eigene Verlegenheit zu verbergen, konnte er sich nur in Phrasen flüchten, die ihn schützen sollten. Damit machte er sich vor sich selbst lächerlich.
'Was in so einer grauen Maus steckt, das schlägt dem Fass den Boden aus! Da schlummern Welten in den unscheinbarsten Menschen und man ahnt es nicht.'
Er schüttelte den Kopf.
Allein das vertrauliche Du.
Widerlich! Das hatte keinen Grund.
Natürlich duzten sie sich, aber so distanziert wie bei einem Sie. Gefühlsmäßig gab es keinen Unterschied. Geradezu unverschämt erschien ihm dieses neue Du, das eine Vertrautheit, eine Intimität, eine Nähe voraussetzte, die jeder Grundlage entbehrte. Die es nie gegeben hatte. Nie. Auch jetzt nicht. Was sie überhaupt verband, war letztlich und nur ein öffentliches Verhältnis.
Gerade jetzt!
Das war eindeutig unterqualifiziert, was sie da bot, dachte der Arzt. Man darf nie die sozialen Rollen und Abstände zwischen einem Chefarzt und einer Krankenschwester vergessen, egal in welcher Lage man sich befindet! Ja, dieses Theater, dieses Geschrei und dieser seelische Striptease riefen in ihm nicht das geringste Gefühl hervor, nur Abscheu vor ihrer Schwäche.
Am Ende hatte nur der Zufall zwei Fremde zu Entführungsopfern gemacht, deren Wege unabhängig voneinander hierher geführt hatten - von Geiselnehmern wahllos auf der Straße aufgegriffen oder von Kidnappern im Flugzeug, egal. Diese Entführung bedeutete nur eines: Jeder der Beteiligten musste unabhängig vom anderen schauen, wie er sich am besten aus der Affäre ziehen konnte. Schon aus Rücksicht auf die eigenen Familienbande.
'Mein Gott, ich habe eine Frau, vor allem Kinder, meine zwei jungen Hasen, Mensch, die brauchen einen Vater, ohne den geht es nicht. Und ich bin eingebunden in ein weit verzweigtes Netzwerk, Bekannte, Verwandte, Arbeitskollegen und so weiter – ha, und die hat das nicht, gerade mal ihre Herkunftsfamilie hat sie, von der sie sich entfremdet hat und die sie auf Abstand halten..'
Ihr Schluchzen ging ihr dennoch durch Mark und Bein.
'Aber nein, diese Person ist in keiner Weise mit mir vergleichbar, gleichzusetzen! - Warum heult die vor mir so hemmungslos? Lässt sich so schamlos gehen? Was geht mich ihr Wehwehchen an? Ich muss meine eigene nackte Haut retten, koste es, was es wolle. - Denk an deine Familie, verdammt! Familien brauchen Vater und ich bin ein Vater, hundsfotts!'
Wie er hier heraus – das war die einzig wichtige Frage. Es war ein Gebot! Eine Verpflichtung!
Der Krankenschwester Flennen schlug wieder an sein Ohr.
'Was, heiraten, diese Fremde da? Unvorstellbar! Eine einfache Krankenschwester, weit unter seinem Stand und Rang, niemals! Meine Damen und Herren, da böten sich hundert andere, bessere Möglichkeiten!'
Er dachte an eine junge Frau, die kürzlich in die Familie eingeheiratet hatte, eine Evangelische. Ja, aber mit reichem Besitz, Vermögen und bester Abstammung – wenn schon nicht die gleiche Konfession, so doch wenigstens viel Geld!
Und je mehr sie sich gehen ließ, je mehr sie schluchzte und gegen die Brettern schlug, desto mehr spürte er die dicken hohen Mauern, die zwischen ihnen standen. Seine verborgene Wut verwandelte sich nun in zerstörerisches Handeln und Reden: „Kannst du nicht endlich dein Maul halten!“, schrie er ins Gesicht.
„Aber ich will deine Frau werden!“
„Du spinnst! Reiß dich zusammen und überleg lieber, wie wir hier rauskommen, verdammt und zugenäht!“
Die Krankenschwester ließ sich in den Sessel in der dunklen Ecke fallen und verbirgt ihr Gesicht zwischen den Händen: „Was habe ich denn? Nichts. Gar nichts. Gar nichts!“
Heftiges Schluchzen schüttelt sie.
„Was habe ich denn? Nichts, gar nichts! Keine Jugend, keine richtige Familie, nichts, gar nichts!“ Und dann wimmert sie nur noch, ihre Schultern zucken dabei.
Der Arzt rümpft die Nase und zieht an der Halskrause.
„Davon habe ich nichts gesagt!“
Jetzt dachte sie nur noch, weil sie ihre Gedanken nicht mehr mit dem Arzt teilen konnte und weil sie zu schrecklich waren: 'So ein gemeiner Schuft. Jetzt so zu tun, als hätte ich nichts für ihn getan. So gemein! Meine Schuld! Wie konnte ich nur so dumm sein.“
Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen.
'Und jetzt bin ich diesen Verbrechern ausgeliefert. - Niemand wird mir helfen', schluchzte sie fürchterlich:
In einem Akt der Verzweiflung lief sie zum Gatter, klammerte sich an die Streben und rüttelte daran: 'Ich bin verloren! - Ich werde nicht überleben. Wenn mich niemand rausholt!'
Aber woher sollte Rettung kommen?
Doch ans Sterben dachte sie nicht. Sterben war noch immer kein Gedanken, an den sie dachte oder den sie als Erlösung empfand. Sie war doch ein starker Mensch!

9. Einer muss es ja tun...

Die Nachricht von der Entführung verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Onkel, Ehefrau, Bruder eins und zwei, Neffe (Polizist) Nichte (Gemeindeangestellte), selbst die steinalten dementen und gebrechlichen Tanten Hedwig und Charlotte eilten bestürzt zu ihr. Das Telefon der Mutter des Arztes klingelte ununterbrochen, natürlich riefen auch Verwandte dritten und vierten Grades an, Vettern, Basen, Großonkel und Großtanten.
„Bis wir Genaueres wissen, müssen wir euch leider vertrösten. Bitte, habt Verständnis! -
Was? - Ja, wir melden uns, wenn wir Genaueres wissen. - Was? - Ja, versprochen!"
Schon stürmt wieder jemand herein, hängt seine Oberbekleidung auf den Garderobenständer mit dem Hirschgeweih im Flur und eilt in den Ess- und Wohnbereich des großbürgerlichen Hauses am Rande einer dörflichen Kleinstadt. Hier wird es schnell eng, obwohl der Wohnraum großzügig bemessen ist. Wer keinen direkten Sitzplatz fand, setzte sich auf die breiten Handlehen der Sofas oder lehnte sich an ein freies Fensterbrett. Man drängte sich um den Essplatz, einen Tisch neben der Küche. Es war ein Anbau, ein Erker, der mit seiner gewölbten Decke eine sakrale Nische bildete. Durch die drei Erkerfenster blickte man auf einen weiten Wiesengrund mit einem Holzsteg über den Bach. Die bunten, lichtdurchfluteten Mosaikscheiben der Fenster erinnerten an eine Kirche. Hier war der Mittelpunkt des Hauses, der Thingplatz der Stammesversammlung.
Hier thronte an der Stirnseite die Mutter der Familie. Hier durften nur die Älteren sitzen, mit einer Ausnahme. Aber stehend führten hauptsächlich die Jüngeren das Gespräch, zum Tisch hin, zu den Älteren. Sie hielten sich zurück, hatten das letzte Wort und trafen die Entscheidungen.
Der Vater kam gerade aus dem Keller, wo eine Sau geschlachtet worden war, noch in voller Arbeitsmontur mit roten-weiß karierten Rautenmuster und einer Schürze, auf der noch das Schlachtblut frisch schimmerte. In der Hand hielt er noch Schlachtermesser und Wetzstein. Kein besonders gesellschaftsfähiger Anblick. Selbst seine Frau hielt sich mit Vorwürfen zurück, denn heute war alles anders.
Die Familie war mitten ins Mark getroffen worden.
Der Neffe von der Polizei, als er die Wohnung betrat, schrie: „Denen breche ich eigenhändig das Knack, wenn ich sie in die Finger krieg. Und glaubt mir, die derwisch ich!“ Dabei ballte er die Fäuste, die auf und ab zuckten. Alle im Kreis nickten beeindruckt und der Metzgermeister schärfte nervös seinen Wetzstein auf Stahl, während seine blutbefleckte Schürze verheißungsvoll im Takt wippte.
„Die häng ich an den höchsten Baum auf, kann ich Euch sagen!“
Alle nickten einträchtig.
Wie ein gefangener Tiger im Käfig lief Otto hin und her, riss an imaginären Gitterstäben und drehte Menschenhälse um, als wären es Hühner.
Sein Verhalten verschaffte ihm die Erleichterung, die er brauchte. Er war nicht unschuldig an der Entführung. Niemand wusste es, niemand ahnte es.
Aber als er an seinem Pistolenhalfter zog, wurde es richtig bedrohlich. Würde er jetzt mit der Waffe herumfuchteln und alle in Gefahr bringen? Nicht ungefährlich war auch das Verhalten des Vaters, der hektisch sein Schlachtmesser mit dem Wetzstein schärfte.
Zwei wild gewordene Kinder, die mit ihren Spielsachen um sich warfen, das scharfe Ecken und Kanten hatte. Damit brachten sie andere in Gefahr!
Der sonst so coole Polizist Otto verhielt sich besonders auffällig blutrünstig!
Wer dachte sich etwas dabei?
Niemand, das war nur durch die Umstände zu erklären.
Auch wenn jemand aus der Familie entführt worden war, ging Ottos Verhalten über das normale Maß hinaus und musste gestoppt werden. Das tat die Cousine aus der Stadtverwaltung, die schon lange die Stirn gerunzelt hatte und sich nun laut und vernehmlich räusperte, ohne sich die Hand vor den Mund zu halten.
Alle Blicke richteten sich auf sie.
In den grotesk nach oben gerichteten Augen konnte man lesen: So etwas war heutzutage tabu. Der Staat war doch jetzt demokratisch, human, gegen die Todesstrafe und so.
Aber na ja!
Jetzt legte auch die Mutter den Finger auf den Mund.
Alle merkten es und zogen die Köpfe ein. Zum Glück waren diese hitzigen Worte von Otto nur im engsten Familienkreis gefallen. Aber alle wünschten sich natürlich, dass diese dreckigen Entführer jämmerlich verrecken würden.
Bevor sie das Thema wechselten, sagte Otto noch: „Leider darf man heutzutage solch niedere Subjekte nicht mehr so behandeln, wie sie es verdienen.“
Leider, leider.
Aber gut!
Sofort waren alle wieder konzentriert bei der Sache.
„Wir werden alle unseren Teil dazu beitragen.“
Mutter blickte in die Runde.
Sie fügte hinzu: „So gut es geht.“
Kopfnicken allenthalben. Gemurmel: „Natürlich! Selbstverständlich.“
„Unsere Arztfamilie kann das leider nicht alleine stemmen“, ergänzte eine Tante. Bei dem Wort „Arztfamilie“ schwang ein Ton mit, der Stolz verkündete.
„Wie viel Geld ist er eigentlich?“
Astronomisch. Obwohl man theoretisch auch das Doppelte zusammenkratzen könnte, wenn man tief in die Tasche greifen müsste. Aber auch so war die Geldsumme für jeden eine schwere Bürde.
Aber klar, die Sache war geritzt: In dieser Notsituation hielt man fest zusammen.
Es wurde noch geklärt, wann alle Mitglieder ihren Obolus beisammen haben würden, spätestens am Montagabend, nicht ohne den jeweiligen Anteil ausgerechnet zu haben. Damit war das Wichtigste geklärt.
Aber nun mussten natürlich noch die Umstände geklärt werden, erster Punkt: Sollte die Polizei eingeschaltet werden?
Der Neffe, ein Polizist, verneinte sofort lautstark: „Zu gefährlich!“ Erstaunlich, schließlich kannte er diesen Club in- und auswendig.
Oder war das der Grund für seine Haltung?
Er verlor kein Wort darüber, freilich fragte auch niemand danach. Die meisten dachten wohl, er halte den Polizeiapparat für zu schwerfällig. Natürlich dachte niemand, er er die Polizisten für zu schusselig hielt. Er hatte seine Gründe!
Das zwang die Familie zum Handeln. Denn es war klar, dass man nicht tatenlos zusehen würde, wie die Geiselnehmer das Geld in ihre Hände nahmen und sich auf Nimmerwiedersehen verabschiedeten. Schließlich war sie immer schon eine tatkräftige Familie gewesen.
Also stellte sich die Frage: Inwieweit sollte man die Dinge selbst in die Hand nehmen?
Sich um den geparkten Mercedes Benz postieren, sich auf die Lauer legen, bis die Erpresser kommen, um das Lösegeld zu holen? Und wenn nur ein Täter auftauchte, wovon auszugehen ist, was ist mit dem zweiten, der die Geiseln gefangen hält? Wenn dann der gefangene Geiselnehmer wie ein Grab schweigt, wovon ebenfalls auszugehen ist, kann der zweite den Geiseln Gewalt antun.
Eine schreckliche Vorstellung!
Besser mit gezinkten Karten spielen, die Scheine des Lösegelds markieren oder noch besser deren Nummern aufschreiben, um die Gängster später zu überführen, wenn sie sie benutzen und sich damit entlarven würden.
„Das ist die effektivste Methode!“, behauptete der Polizistenneffe. So weit reichte sein Vertrauen in die Staatsmaschinerie, in der er selbst ein Rädchen war und arbeitete, der Herr Polizist.
„Dann ist es vielleicht schon zu spät!“, wandte einer ein.
„Trotzdem, das ist das professionellste Vorgehen!“
Alle nickten widerwillig.
„Aber wer soll das Geld in das Auto legen?
Man schaute sich betroffen an. Eine schwerwiegende Frage. Eine Entscheidung, die den Ausgang der Erpressung bestimmen konnte. Die durfte nicht auf die leichte Schulter genommen werden. Eine Sache, die sehr sehr folgenschwer war …
Langsam richteten sich alle Blicke auf einen.
Auf einen Bruder des Entführten. Dieser saß arglos am Tisch der Ältesten, denn er war der einzige der Jünger, der dort Platz nehmen durfte. Er schluckte seinen Kaffee hinunter – hektisch wie immer. Er stand immer unter Druck, hatte immer keine Zeit, so dass er sein Getränk mehr hinunterkippte, als dass er es genoss.
Der Idiot der Familie, heute psychisch krank genannt. Denn es war ja nicht so, dass alle in dieser Sippe Karriere, Erfolg und Ansehen geerntet und erreicht hatten. Einer war auf der Strecke geblieben, einer war schwach, so, dass er nur mit Medikamenten, ärztliche und psychiatrische Versorgung einigermaßen seinen Mann stehen konnte. Was für ein Makel in einer Familie, die einen erfolgreichen Chefarzt vorweisen konnte! Er war der, auf dem man herumtrampelte, den man vor anderen blamierte, zum Beispiel in der elterlichen Wirtschaft beim Bedienen: „Du Trottel, hast dem Falschen das Falsche hingestellt. Wie kann man nur so blöd sein?“ Und der Stammtisch lacht herzlich darüber, dankbar für etwas Abwechslung.
Musterknabe, Ministrant, sogar katholischer Pfarranwärter – aber leider hörte er am ersten Tag eine Stimme: „Mach's nicht. du bist kein Pfarrer! Das ist nichts für dich!“
Für alle Verwandten im näheren oder weiteren Umkreis war er da. Gab es sperrige Möbel in den Keller hinuntertragen, oder in den zweiten Stock hinauftragen, oder jemanden ins Krankenhaus bringen. Das Mädchen für alles. Der Prügelknabe für alle. Der Hanswurst überhaupt.
Einen solchen brauchen alle, die Erfolg haben.
Und so wurde er für diese heikle Mission auserkoren, der älteste Bruder des Arztes, dieser Scheißhaus-Ausputzer im Dienste der Familie.
Als er merkte, dass alle Blicke auf ihn gerichtet waren und was sie bedeuteten, nickte er unterwürfig: „Ich mach's!“ Es klang, als hätte er sich selbst ins Spiel gebracht.
Einige seufzten. Jene, denen die Sache nicht geheuer war. Würde er nicht mit seiner trotteligen Art die Tour vermasseln?
Das durfte unter keinen Umständen passieren.
Aber es musste das sein.
Leider.
Einer musste den Kopf hinhalten.
Es gab leider keinen Besseren!
„Es geht um nichts weniger als um das Leben meines geliebten Bruders!“, erhob der Narr seine Stimme, der ein begnadeter Redner war. Wenn er etwas gut konnte, dann war es, in den ungewöhnlichsten Situationen die richtigen Worte zu finden. „Und ich werde es retten!“ Starke Worte, fürwahr!
Dem lieben Onkel. Neffen, Familienvater, Ehegatten, Parteifreund, Kegelbruder, Parteimitglied, Klassenkameraden, Fasnacht-Jecken und sehr erfolgreichen Arzt das Leben retten – ja! Mit solchen Exemplaren war man in der Familie nicht gerade gesegnet. Zwar waren alle in der Familie bei allem dabei, wo es sich lohnte, dabei zu sein, der Bauernonkel war inzwischen auf den einträglichen Öko-Zug aufgesprungen, aber im richtigen Licht besehen, war so ein Chefarzt in der Familie das Juwel, das Besondere, der Quantensprung, die Mutation in die richtige Richtung!
Solche Personen standen unter Artenschutz erster Ordnung.
Insofern kamen wieder der Zweifel auf, ob man Ernst diese vertrauensvolle Aufgabe anvertrauen könne: „Wir müssen wir tun, damit nichts, aber auch gar nichts schief läuft?“ Diese Frage stellte sich manche. Was können wir also von uns aus tun, damit Schussel nicht ins Fettnäpfchen tritt mit all seinen fatalen Folgen.
Nichts, kamen viele zum Schluss. Es gab so viel Möglichkeiten! Folgerichtig kam noch ein anderer Vorschlag.
„Aber vielleicht doch Otto!“
„Der kann das am besten händeln, falls unerwartet Probleme auftauchen!“
„Ich mach's sofort!“ Diese Aussage kam mich freudiger Sicher- und Entschlossenheit, wobei er darauf achtete, dass der Tonfall Entschlossenheit ausdrückte, sozusagen der Chef ergreift die Führung und stellt sich der Verantwortung. Um keinen Zweifel am Gelingen aufkommen lassen!
„Nein, Otto, du nicht!“ Die Mutter drückte den natürlichen Überlebenswillen des Clans aus. Sie war zwar nicht Ottos, sondern die Großmutter und Otto hatte genauso wenig Familie wie Ernst. Aber …“Ernst schafft das schon! Er muss nur Geld ins Auto legen und dann sofort verschwinden! Hörst du, Ernst!“, rief die Mutter. Es war erstaunlich, dass sie Ernst dem Otto vorzog, denn er war ihr eigen Fleisch und Blut.
„Ja, natürlich!“ Ernst antwortete gehorsam wie immer. Nur ein scheuer Blick, eine halbe Drehung nach links und rechts, zeigte, dass er nervös war. Doch er riss sich sofort zusammen.
'Endlich mal Tom Cruise sein! In „Mission impossible“, im Abenteuermodus voll durchstarten, wau-oh-wau – Ja, nachher werden alle auf mich stolz sein!', sagte sich Ernst.
Für seinen Stolz brauchte er keine Stimme hören. Er spürte ihn immer. Nichts war ihm zu schwer. Selbst wenn er tausendmal auf die Schnauze fiel und das tat er, stand er immer wieder auf und hatte für das nächste Unternehmen sein unerschütterliches Selbstvertrauen zurück.
Er blickte sich um und spürte, dass sich alle Augen auf ihn richteten. Das war aufregend. Ein bisschen schon scharrte er mit den Füßen unterm Tisch.
„Das mach ich! Das mach ich selbstverständlich!“ Weder der Klang seiner Stimme verriet, ob ein wenig Unsicherheit dahinter steckte, noch sein gerader Blick. Niemals zurückschauen, so hieß es schon in den alten Schriften, wenn man ans Ziel kommen will. Mit anderen Worten: Wer zurückblickt, scheitert.
Oder anders ausgedrückt: nur die, die zurückblickten, scheiterten.
Und er gehörte nicht dazu.
Also!
Seine Mutter seufzte. Sie kannte ihren Sohn zu gut, um ihn nicht zu durchschauen und fürchtete, dass er versagen und ihm etwas zustoßen könnte. Aber wenigstens würde die Erinnerung an ihn unauslöschlich in ihrem Herzen bleiben: Er war ein demütiger Sohn, der sofort da war, wenn m an ihn brauchte. Was konnte man von einem guten Sohn mehr erwarten?
Sie empfand jetzt starke Rührung. Ihre Augen trübten sich ein wenig mit Tränen. Unter dem Tisch falteten sich die Hände zum Gebet und sie warf einen Blick auf das Kruzifix an der Wand.
''Lieber Gott, hilf, dass er wenigstens dieses Mal keinen Mist baut!'
Eine Tante betete in die gleiche Richtung. 'Bitte, lass ihn nicht zum Opfer für die, wenn auch gute Sache werden!' Der 90jähigen alten Tante und ehemaligen Pfarrershaushälterin verschränkten die weißen, totblassen Hände in fromme Demutshaltung.
'Mein geliebter Neffe ist derjenige, der sich noch um mich kümmert. Alle Samstag nachmittag besucht er mich. Das tut kein anderer in der Familie. - Lass ihn heil aus der Sache herauskommen, bitte!' Sie hatte handfeste Gründe, ihn wieder unversehrt und heil in die Arme schließen zu können.
Dabei fiel ihr Blick liebevoll auf das große, bunte Poster mit dem Konterfei des amtierenden Papstes neben der Ausgangstür Jeder, der den Raum verließ, tauchte seine Finger über dem Papstbild in ein Kolymbion und das herabtropfende Weihwasser taufte den Pontifex Maximum immer wieder neu.
Jetzt kam Ernst Onkel militärisch mit weit ausholenden Schritten auf ihn zu. Ernst hatte sich schon vorzeitig vom Tisch erhoben und machte die demütigen Gesten eines Rekruten, der von einem höher gestellten Wesen die Weihen empfängt. Die Hand wurde ihm auf die linke Schulter gelegt, als vollzöge die Queen einen Ritterschlag: „Das schaffst das schon, Ernst! Da bin ich mir sicher!“
Zum ersten Mal, so schien es Ernst, richteten sich die Augen der großen, weitverzweigten Familie auf ihn. Dass sich darin bange Hoffnung, Ängstlichkeit Zweifel, ja Bestürzung spiegelten, nahm er nicht wahr.
Plötzlich setzte eine fast bauchrednerische, geistesabwesende, monotone Stimme ein: „In Anbetracht der großen Herausforderung werde ich alle Mühe, Kraft und Zeit aufwenden, die schwierigen Herausforderungen zu meistern. Ich bin mir sicher, ich werde den Erwartungen gerecht.“
Es war weniger der Inhalt, als die Art und Weise, der Tonfall der Rede, der ein allgemeines Seufzen hervorrief. Sie erinnerte an unbequeme, vergangene Zeiten, die heute selbst in diesen erzkonservativen Kreisen nur noch peinlich sein konnten.
Es war an Mutter zu sagen: „Ernst, jetzt mach mal einen Punkt. Du weißt, was du zu tun hast. Beeil dich und bereite dich gut, sehr gut vor!“
Ernst antwortete ergeben: „Ja, Mutter. Ja!“
Eifrig drehte er sich fast im Kreis, um einen Blick auf das zu bearbeitende Gelände zu werfen. Das imaginäre allerdings.
Ernst war nicht der unterwürfige Knabe, der er vorgab zu sein. Er dachte nach der Unterbrechung seiner Rede durch die Mutter: Leider entging der Welt gerade meine eloquente Rede ohne Punkt und Komma, aber ich schwöre nur dieses Mal und nicht für lange, denn dann wird sie reichlich davon hören dürfen.
Warum war sich Ernst dessen ach so sicher?
Er hatte einen Plan, eine Vision, ein Ziel!
Voller Stolz und nun um so sicherer, dass seine Mission und seine Aufgaben gelingen würden, verließ er den Raum, nicht ohne den jetzigen Papst mit Weihwasser zu besprengen.

Pentzw
Kalliope
Beiträge: 950
Registriert: 11.04.2011, 19:59

C. Sonntag Nacht

Beitragvon Pentzw » 16.05.2021, 12:40

10. Ein kleines schmutziges Geheimnis

Dieser Teil ist nicht besonders relevant für die Geschichte und ist im E-Book nachzulesen


https://www.weltbild.de/artikel/ebook/v ... lsrc=3p.ds

Pentzw
Kalliope
Beiträge: 950
Registriert: 11.04.2011, 19:59

D. Montag

Beitragvon Pentzw » 19.05.2021, 12:53

11. Der Traum von einer Pistole

Unterdessen andernorts.
„Zisch!“
Das lauwarme Bier aus der Blechdose des Sechserpacks, weil der Kühlschrank nicht mehr richtig kühlt, ist heimtückisch. Macht man sie schnell auf, sprudelt es leicht über.
„Schwein!“
„Das lag nicht in der Absicht des Künstlers!“
Der Getroffene steht auf, streckt angeekelt die offenen Hände von sich, um nicht mit der stinkenden Soße in Kontakt zu kommen und schaut angewidert auf seinen Bauch herunter.
„Schau mal, wie du mein neues Polohemd versaut hast!“
„Äh, nicht so schlimm. Ist ja keine Säure, oder so.“
„Du hast leicht reden.“
„Ich kauf dir hundert davon. Nächste Woche in Honolulu oder so!“
Der andere zieht das Hemd über sich, dabei so streckend und dehnend, dass es seinen Körper nicht mehr berührt und wirft es mit einer angeekelten Geste in eine Ecke, in der ein anderthalber Meter hoher Plastikeimer steht, in dem sich bereits ein Berg schmutziger Wäsche türmt und quillt. Insofern beweist er Ordnungssinn.
Immer wieder wirft er seinem Freund ärgerliche Blicke zu. Der merkt das und fühlt sich genötigt, sich so zu verteidigen: „Denk an die Kohle, die uns winkt. Dann kannst dir hundert neue kaufen.“
„Jau! Stimmt auch wieder!“ Dass er jetzt angesichts des zu erwartenden Geldrausches einlenkt, beweist seinen Sinn für Geld. Da man für Geld fast alles bekommt und fast alles machen kann, was man will, beweist er gesunden Menschenverstand.
Er setzt sich wieder auf seinen Platz. Der Anblick seines weißen Unterhemdes stört hier niemanden, am wenigsten den Träger, der gerne seine durchtrainierten Muskel zur Schau stellt. Interessiert es jemanden? Der Krankenschwester vielleicht? Nicht daran denken, das gebiert Ungeheuer, ungute Gefühle, lieber sich mit einem Schluck Alkohol beruhigen und zudröhnen.
Also, weg damit, die lauwarmen Brühe! Igitt!
„Genau, da brauchst du dich nicht mehr zu waschen. Einmal angezogen und ab in die Mülltonne!“
„Jau! Wie gerade jetzt!“
Begeisterung klingt anders.
Was soll man schon machen, beide lehnen sich wieder in ihre Sitzgelegenheiten zurück, der eine auf sein Sofa, der andere in seinem Sessel, die Beine über einen kleinen Hocker hier und über die ganze Länge dort gelegt, vertilgen Chips, Salzletten, Drops, Bonbons. Jeder hält eine geöffnete Bierdose in der Hand und zudem Rat darüber, was man am besten mit dem vielen Geld anfangen könnte.
„Wohin fahren wir?“
„Gute Frage. Sehr gute Frage! Äh, da fallen mir im Moment zwei Länder ein. Entweder in den asiatischen Raum, Thailand etwa, oder in die Karibik, Dominikanische Republik, oder gleich nach Afrika.“
„Das sind aber drei?“
„Was?“
„Du hast jetzt drei Möglichkeiten genannt, nicht zwei !“
„Wie meinst?“ Der Dunkle richtete sich schon wieder auf, weil er sich herausgefordert fühlte und sich nicht mehr an seinen vorletzten Satz mit den zwei Optionen erinnern konnte.
„Schon gut. Vergiss es!“
Er ließ sich wieder auf das Sofa fallen, sich in seiner ganzen Länge ausbreitend. Blondy saß dagegen aufrecht in dem Ohrensessel. Allerdings hatte er seine Füße auf den alten Korbsessel vor sich gelegt. Die einigermaßen aufrechte Haltung passte zu der Rolle, die er gerade spielte: der Planer, der Träumer, der Visionär. Er hatte seinen Hosengürtel und Gürtelknopf geöffnet und sein stattlicher Bauch quoll hervor.
„Na ja, Afrika wäre mir fast lieber.“
„Warum Afrika, he?“
„Ganz einfach. Da war ich noch nicht. Und außerdem soll's da richtig geil sein, Frauen ohne Ende. Und das Beste: billig bis umsonst!“
„Wau!“
„Ein Mann hat dort das Recht, mindesten vier Frauen zu haben, mindestens.“
„Mann o Mann!“
„Und das Beste: Sie liegen dir nicht den ganzen Tag in den Ohren mit: Liebst du mich überhaupt? Und: Bin ich dir überhaupt etwas wert? - Ja, doch, Schätzchen. - Dann beweise es. - Wie?- Kauf mir einen neuen BH! Oder ein Paar neue Schuhe!“
„Mann, wäre das schön, das nicht mehr hören zu müssen.“
„Friedlich ist das, friedlich. Ja, und die Frauen reden nur, wirklich nur dann, wenn sie gefragt werden. Ansonsten halten sie die Goschen.“
„Kuhl!“
„Am besten sind die Asiatinnen, oder Polynesierinnen, egal. Die vögelst du abends und dann nachts: husch-husch aus dem Bettchen und auf dem Boden geschlafen!“
„Himmlische Ruhe!“
„Die Tropen sollen zwar mittlerweile nicht mehr so billig sein, aber Sonnenschein ohne Ende, kein Winter, ewiger Sommer und Sonne.“
„Oh ja! Überall, überall strahlt die blendende Sonne auf die elegant gekleideten und perfekt Männer und Frauen. Wir fahren in einem Bullmann. Hinten ist eine Bar, ein Fernseher, die Scheiben sind dunkel getönt, das Auto gleitet geschmeidig wie eine Schlange und lautlos wie ein heranpirschender Panther durch die Straßen. Jeden Morgen tauchen wir nach dem Aufstehen in ein riesigen Swimmingpool, langsam, gemächlich, damit sich der Körper vom abendlichen Alkoholrausch erholt. Von Bloody Mary, Cuba Libre, Tequila Sunrise, Margarita, Irish Coffee, Sex on the beach.“
„Aha, vor allem Sex, immer wieder!“ Bully räkelt sich und bringt seinen Körper in eine andere, bequemere Position.
Der andere fährt fort.
„Wir werden tr#ge am Beckenrand hängen wie die Alligatoren. Neben uns ein kühl-rauchender Sektkübel. Wir füllen uns die Gläser, die überschäumen. Der erste Schluck Alkohol in aller Herrgottsfrühe ist der Beste!“
„Oh ja!“, ergänzte Bully aus tiefster Brust. Dabei schnappte er nach Luft, so entzückt war er von der Vorstellung. Doch seine Träumerei wurde jäh unterbrogen.
„Das geht nicht. Weil wir auf unseren Kreditrahmen achten müssen.“
„Hä! Was redest du da? Kreditrahmen? Was ist das denn?“ Er richtete er sich drohend auf. Er hatte es nicht gerne, wenn er aus seinen Träumen gerissen wurde.
Blondy lachte. „Ha, ha. Ich gewöhn mich an die Sprache, die in den Kreisen gesprochen wird, in denen wir verkehren werden.“
„Red kein Blech, red Deutsch, Mann.“ Bully hatte seinen Oberkörper schon erhoben, bereit, dem Widerspenstigen zu zeigen, was eine Harke ist.
„Okay, Mann. Ich meine Geld. Unser Geld, Lösegeld. Das hält auch nicht ewig. Eine halbe Million ist schneller weg als wir denken können, weißt!“
„Stimmt, Mann!“ Bully lehnte sich mit seinem Oberkörper zurück auf die Kopfstütze des Sofas und trank in dieser Haltung die Bierbrühe. Eine beachtliche Meisterleistung!
„Wenigstens die Frauen werden uns nichts kosten. Für die sind wir Hollywood-Sonnyboys, das kann ich dir sagen! Wir mit unseren blonden Haaren...“, und Blondy strich sich selbstverliebt über Schädel und das, was daran blond war, nämlich nach der Halbglatze das strähnige, schmierige, klebrige Gestrüpp von Haaren. Dabei richtete er den Blick wie ein Seher in die Ferne, in ein Land, das Vergangenheit heißt.
„Das war vielleicht ein Erlebnis, kann ich dir sagen. Als wir in Indonesien waren ...“
„Die Geschichte kenn ich schon! Erspar sie mir!“
Da Blondy nur ein einziges Mal über die Grenzen seines Landes, immerhin Indonesien, hinausgekommen war, wenn auch nur für zwei Wochen, hatte er etwas zu erzählen; wenn auch nicht viel; aber interessant; wenn auch nach so vielen Wiederholungen immer uninteressanter.
Doch das merkte er gar nicht.
Im Gegensatz zu Bully, der seine Schwänke längst satt hatte.
Blondy ließ nicht locker, denn er hielt es für wichtig, diese Dinge in diesem Zusammenhang zu erzählen. Da Bully gerade einen Schluck nahm, witterte er seine Chance , weiter zu erzählen.
„Ja, ich weiß, du kennst die Story, als wir das erste Mal in Indonesien am Strand aufgetaucht sind. Da haben sich die braunen, roten und schwarzen Frauen nicht mehr einkriegen können. - Die haben gequiekt, gekichert, gelacht, das kann ich dir sagen! - Die haben gedacht, wir sind Brett Sprite.“
„Brat Shit!“
„Wie bitte? Brat Shit! Guter Witz. Der heißt Bret Sprit. Oder vielleicht Tom Crash ...“
„Tom Crack!“
„Wie bitte? Tom Crack? Nein.“
Bully räusperte sich.
„Okay, dann halt Tom Crack. Oder Leonardo Da Vinci ...“!“
„Wer soll das sein?“
„Ha, ha. Reingefallen. Das ist natürlich Latto Macchiato!“
„Willst Du mich verarschen. Meinst, ich weiß nicht, was ein Latte Macchiato ...“
Diesen zungenbrecherischen Ausdruck konnte er natürlich nicht richtig aussprechen.
„oder so ähnlich ...“
„Okay, beruh Dich. Ich meinte natürlich Leonardo DiCappucchino!“
Bully rührte jetzt seinen Oberkörper. Dieses Zeichen verstand Blondy sehr gut. Er überspielte seine Unwissenheit.
„Na halt, irgend so eine Hollywood-Fritze ...“
Er meinte natürlich Leonardo DiCaprio, was weder Bully noch Blondy zu unterscheiden wusste. Ist auch wirklich nicht wichtig, welcher Hollywoodstar.
Wenn er aus Erfahrung sprach, waren diese schönen Zeiten angesichts der Halbglatze, des ungepflegten Struppelhaare und des Schmerbauchs längst passé. Aber das merkte er natürlich nicht.
Das „wir“ kam bei Bully gar nicht gut an. Sein Haar an Kopf, Brust und Beinen war nämlich nur tiefschwarz. Zappelig und mürrisch wandte er sich Blondy zu, um ihn mit Blicken in die Schranken zu weisen.
„Und die einheimischen Schönheiten dachten, ihr wärt Brat Shit, Leonardo DaVinci oder Tom Crack, ja?“
„Natürlich!“
„Woher weißt du das, he!“
„Mann, die sind zu uns hinterhergedackelt gekommen, haben uns an den Haaren gezupft und gefragt: „You are Brat Shite!“
„Ja, haben die gefragt? Und die konnten Englisch, oder?“
„Wenn ich es dir sage!“
„In Indonesien?“
Wenn Bully etwas nicht passte, zweifelte er so lange an einer Sache, bis Blondy es selbst nicht mehr glaubte und mürrisch schwieg. Er tröstete sich mit Alkohol, was auch eine Lösung war und dem lieben Frieden diente. Außerdem kam er, einfallsreich wie er war, schnell auf ein anderes Thema. Er schmückte seine neue Idee wieder so barock aus, dass es Bully bald wieder übel aufstieß. So begann das Spiel von neuem. Blondys Worte wurden so lange durch den Kakao gezogen, bis die Erzählungen, Vorstellungen und Ideen nur noch lächerlich erschienen.
Das ging stundenlang so.
Trotzdem träumten sie gern - Bully war nicht anders, nur war er weit weniger findig und redselig. Mochte man mit Geld so viel anfangen können, mochte es noch so sehr aufbauen, ergötzen, erfreuen und sich vom ganzen grauen Alltag entfliehen lassen, die vielen Wiederholungen machte es doch hohl und schal. Da konnte so viel laues Bier durch die Kehle rinnen.
Abwechslung musste her.
Und so kam Blondie auf eine Schnapsidee.
Da stand doch dieser Mercedes Banz auf dem Parkplatz, nicht? Und der Schlüssel lag vor seiner Nase auf dem Tisch.
Hm.
Verdammt, wann hat man schon mal so eine Gelegenheit, he?
Wie schön wäre es doch, mit so einem tollen Schlitten ein die Gegend ein bisschen unsicher zu machen. „Oder, was meinst du?“
„Ich weiß nicht“, brummte der Dunkle. Dazu nahm er einen kräftigen Schluck aus der Bierdose.
„Vielleicht wird der Wagen schon bewacht? Und wenn du dort auftauchst, schnappen sie dich. Dann erpressen sie den Aufenthaltsort der Geiseln und futschikato ist unser Lösegeld verschwunden.“
Blondy zog verbissen an der Zigarette. Düstere Aussichten!
„Ich gebe zu, da ist etwas Wahres dran. - Aber wenn ich ganz vorsichtig bin. Also, wenn ich mich erst mal eine halbe Stunde oder sagen wir ganze auf die Lauer lege, die Szene beobachte, ob da Leute sind, du weißt schon! Ich kenne die Gegend ja wie meine Westentasche...“
„Hm. Die andere Seite wahrscheinlich genauso. Die lauern auch auf jemanden. Dann lauert ihr beide gleichzeitig. Und der erste, der aus dem Busch kommt, ist der Verlierer, so ist das!“
„Dann muss er mich zuerst einmal überwältigen, so sieht's aus!“
Der Dunkle zeigte ihm den Vogel: „Du Dummkopf! Überleg mal! Was zeichnet die Polizei besonders aus?“
„Keine Ahnung!“
Bully reckte ihm wieder bedrohlich den Oberkörper entgegen und schaute ihn böse an: „He, was haben die Bullen, was wir nicht haben, hä!?“
Blondy kleinlaut: „Ne Knarre!“
„Eben!“ Damit ließ er sich wieder zurückfallen.
Scheiße, keine Knarre. Er hatte verdammt recht. Keine Pistole!
Blondy zog verbissen an seiner Zigarette.
„Okay, ich geb mich geschlagen.“
Wieder Zug an der Zigarette. „Ich geh trotzdem zum Auto! Weil, Mann, du hast vergessen – das Fahrzeug muss auf sein, wenn die das Lösegeld reinlegen wollen.“
„Stimmt! - Hm, und ich geh inzwischen zum Discounter um die Ecke, ein bisschen Fleisch kaufen. Alles andere, Nudeln, Reis, Brot haben wir genug!“
„Genau, Mann. Mach das!“
Blondy war begeistert, dass er sich um das Auto kümmern durfte. Er sprang freudig auf, wurde aber von Bully am Ärmel wieder nach unten gezogen, bis dicht vor des anderen Gesicht: „Dass du mir aber nicht übers Ziel hinausschießt, gell! Du weißt, was ich meine.“
Blondy tat einen Moment unwissend und unschuldig, verbesserte aber seine Haltung schnell. Man kann ja viel sagen, wenn der Tag lang war: „Aber natürlich. Hälst du mich für so dumm, dass ich mir jetzt noch einen Schnitzer erlaub, kurz bevor unser Traum in Erfüllung geht?“
„Bei dir weiß man nie!“ Und Bully schupste ihn weg.
Blondy verdrehte den Hals in Normallage, rückte sein Hemd zurecht, meckerte aber nicht im gefährlich echauffierten Ton, sondern sagte leichthin: „Manchmal weiß ich wirklich nicht, für wen du mich hältst!“
„Mann, frag nicht! Verschwinde!“
Blondy tat nichts lieber als das.
„Okay! Bis gleich!“
Blondy musste den Wagen aufschließen, musste ja sein. Damit die Lösegeldübergabe stattfinden konnte. Gleichzeitig wollte er das Gelände sondieren, zur Sicherheit. Sich umschauen. Es war immer gut, zu wissen, wie es am Parkplatz und in der Umgebung aussah. Wo man sich auf die Lauer legen konnte. Wo und wie auch immer, man wusste ja nichts Genaueres und ein guter Gauner ist immer auf alles vorbereitet.
Dass er vielleicht auch eine kleine Spritztour mit dem Cabrio machen würde, wer weiß, war nicht auszuschließen, auch wenn das seinem Kumpel gar nicht gefiel, denn darauf bezog sich seine rüde Warnung, nicht über die Stränge zu schlagen und sich etwa das Cabrio zu schnappen und tollkühn durch die Gegend zu rasen, wenn's dumm kommt, auch noch von der Verkehrspolizei geschnappt zu werden und so weiter.
Nein, das wäre nicht gut. Trotzdem schwang er sich besonders schwungvoll aufs Rad und wenn er an den Mercedes Benz dachte, fuhr er wie ein Engel mit Flügeln.
Leichter Nieselregen setzte ein, dazu ein kühler Abendwind. Zum Glück war es noch nicht ganz dunkel. Und wenn für den Fall, dass es bald dunkel sein würde, war er vorbereitet: Sein Fahrrad hatte ein intaktes Licht. Das war wichtig,
Ein paar hundert Meter vor dem Parkplatz stellte er sein Rad ab, schloss es ab und schlich sich über Umwege zu seinem Ziel, wo er prompt jemanden am Parkplatz sichtete. Zum Glück war es kein Polizist, sondern ein Zivilist, wahrscheinlich nur ein Spaziergänger. Blondy ging in Deckung, um ihm nicht unnötig sein Gesicht zu zeigen und zweitens, man wusste ja nie. Und er hatte gut daran getan.
Der Mann umkreiste den Mercedes Benz wie der sprichwörtliche Katze den heißen Brei. Er legte sich sogar auf den Boden, um unter den Unterbodenschutz zu lugen, sprang wieder auf wie ein Fitnessweltmeister, um dann den Kofferraum zu überprüfen, der allerdings versperrt war.
Wenn das nicht alles sagte!
Es sei denn, es war Zufall.

Pentzw
Kalliope
Beiträge: 950
Registriert: 11.04.2011, 19:59

12. Ein Traum wird Wirklichkeit

Beitragvon Pentzw » 21.05.2021, 15:52

Der Neffe des Polizisten musste einen Tag vor der Geldübergabe, am Sonntag, nach dem Rechten schauen. Ihn leitete kein berufliches Interesse, zwar war er Polizist und das nur Verkehrspolizist, aber er hatte seine Gründe an dem gefährlichen Ort der Geldübernahme nach dem Rechten zu sehen. Handfeste. Sie zwangen ihn, zu handeln.
Also hatte er seinen Wagen so vorsichtig weit genug wie Blondy geparkt. Schlich erst einmal um den heißen Brei herum, bis er sich nach gut zehn Minuten dem Mercedes Benz näherte. Aber wollte sich ein Bild von dem Auto verschaffen, in dem das Lösegeld abgelegt werden sollte.
Dass das Krankenhaus nicht in seinem Dienstbezirk lag, spielte keine Rolle. Er war ohnehin nicht auf kriminalistische Spurensuche spezialisiert, sondern auf den Verkehr. Er befand sich ausschließlich in privater Mission hier. Dienstrechtlich war das sehr gefährlich. Was würde er antworten, wenn ihn ein Kollege zur Rede stellen würde? Also musste er sehr vorsichtig sein. Bevor er sich an die Arbeit machte, blickte er sich immer wieder um, bis er tatsächlich jemanden sah. Er sprang auf die Seite des Wagens, die dem Fremden abgewandt war.
Es war nur ein Angestellter des Krankenhauses, der mit einem Rollwagen zum Eingang des Parkplatzes fuhr, um den Inhalt zu entleeren. Dann kehrte er pfeifend zum Krankenhauskomplex zurück.
Nun war es für den Polizisten an der Zeit, sich das Objekt etwas genauer anzusehen, wenn auch immer noch sehr oberflächlich, aber er fand nichts Auffälliges am und im Auto, was er auch nicht erwartet hatte.
Er drehte sich so langsam wie möglich um sich selbst, um eventuell einen Beobachter in der Nähe zu entdecken, bevor er das verräterische Verhalten der Autokontrolle zeigte, nämlich den Versuch, den Kofferraum zu öffnen. Bis dahin schien er nur ein neugieriger Spaziergänger zu sein, der sich von einem schnittigen Mercedes Benz Caprio angezogen fühlte. Aber das war eine Grenzüberschreitung, die ihn verdächtig machte.
Aber er war sich sicher, dass ihn niemand gesehen hatte und ihn beobachtete.
Oder doch?
Jetzt machte er eine verlegene Geste. Er steckte die Hände in die Jackentaschen und schob nervös das Pistolenholster ein wenig nach oben. Von außen war nichts zu erkennen, aber für einen Kleinkriminellen war klar, dass dies ein Geheimnistuer war, der etwas Wichtiges verbarg. Blondy erinnerte sich an die Geste, mit der der Arzt sein Geld berührt hatte.
Sein Misstrauen und sein Interesse waren geweckt.
Der Deckel erwies sich als verschlossen. Seine Suche war damit beendet. Der Polizist wandte sich sofort einem günstigen Versteck im Gebüsch zu, dort, wo Sträucher den Rand des Parkplatzes markierten.
Blondy wusste, dass er dem Fremden auf Schritt und Tritt folgen würde, um ihm sein Kleinod abzunehmen.
'Boa, so eine Pistole kommt gerade recht. Die gehört eigentlich zu professionellen Entführern, wie wir es sind... Erst das Geld - haben's gar nicht geplant. Und jetzt die Waffe - damit wir gewappnet sind! Was für ein Glück!'
Blondy war kurz davor, sich selbst zu verraten, so überschwenglich vor Glück war er.
Die Umstände spielten ihnen einfach in die Hände, als hätte ein höheres Wesen sie geführt.
'Vielleicht gibt es doch einen Gott?', fragte sich Blondy.
Ob es ihn gab oder nicht, das hier war ein Wink mit dem Zaunpfahl.
Denn worüber hatte er sich noch vor einer Stunde mit seinem Begleiter unterhalten? Richtig, über die Notwendigkeit einer Waffe für professionelle Entführer, wie sie es beide sind! Jawohl!
Jetzt konnten sie sich die Mühe sparen, eine Pistole zu besorgen, um die Erpressung abzusichern. Schließlich wurde hier ein wertvolles Stück auf dem Präsentierteller präsentiert. Jetzt mussten sie nur noch den Pistolenbesitzer überwältigen und schon waren sie im Besitz eines professionellen Werkzeugs, einer Knarre.
Damit wäre ihre Rolle perfekt.
Blondy hatte eine Idee. Er eilte zu seinem Fahrrad zurück und fischte drei Dinge aus seiner Fahrradwerkzeugtasche: eine Taschenlampe gegen die einbrechende Dunkelheit, Kabelbinder und einen zylinderförmigen Schraubenschlüssel zum – für was, werden wir ja sehen.
Als er zum Parkplatz zurückkam, war der Fremde verschwunden.
Oh Gott, er war ihm entwischt. Aber er musste in der Nähe sein, schließlich war der Parkplatz der Ort seines Interesses.
Entwarung!
Zum Glück stellte sich der seltsame Vogel auch noch dumm an. Er war nicht sehr geschickt im Verstecken, denn offensichtlich konnte er nicht still sitzen: Ständig bewegte sich ein Busch.
Blondy vermochte sein unverschämtes Glück kaum zu fassen, dass es der Heini von Hobbydetektiv nicht schaffte, sich schnell und richtig im Unterholz auf die Lauer zu legen. Dass dort noch, wo die Bewegungen zu sehen waren, auch junge Birken standen, war ebenfalls ein Wink des Schicksals. Es war ein deutlich zu erkennendes Merkmal.
Warum war Otto so nervös?
Folgende Gedanken quälten ihn: 'Hätt ich mich nur nicht darauf eingelassen. Hätt ich mich nur nicht auf diese leichtsinnige Spiel eingelassen.'
So zu denken, war gelinde gesagt übertrieben. Es war zudem falsch. Derjenige, der sich dieses Spiel ausgedacht und angestoßen hatte, war nämlich Otto, der Verkehrspolizist und Neffe des entführten Chefarztes. Punkt.
„Filmt die beiden ein bisschen. Und dann verschwindet!“
'Ja, die Rechnung ohne den Wirt gemacht, du Idiot!'
Er war sehr wütend, sehr verärgert auf sich selbst.
Er meinte damit nicht, dass er hierher gekommen war, sondern dass er sich auf den Deal mit den Süchtigen eingelassen hatte. Mussten sich diese auch als Kleinkriminelle und Erpresser der übelsten Sorte entpuppen? Wer konnte das ahnen? Er hatte es nur auf den Neffen abgesehen. Er wollte dem überheblichen Verwandten nur bisschen ans Bein pinkeln, mehr nicht.
Unerkannt. Heimlich. Hm!
Von Entführung und Erpressung hatte er nichts gesagt.
Aber jetzt saß er ganz schön in der Klemme. Nicht auszudenken, wenn herauskam, dass er es mit denen zu tun hatte. Dann konnte er einpacken. Aber in mehrfacher Hinsicht.
Der Verfolger Blondy jubelte derweil insgeheim.
'Umso besser, dass dieser aufgescheuchte Vogel hier herumschwirrt. Den muss ich nicht lange suchen, dem schleiche ich einfach hinterher.'
Doch das war schwieriger als gedacht.

Blondy, dessen Gegner sich gerade auf der anderen Seite postiert hatte, zog sich einige Meter zurück und ging dann hinter den Büschen und etwa fünfzig Meter hinter dem dichten Wald einen kleinen Pfad entlang. Dann bog er rechtwinklig in Richtung Gebüsch und Wald ab, der hier mit dichtem Unterholz noch unpassierbar schien. Dies änderte sich allerdings nach einigen zwanzig Metern, als nur noch Unterholz auftauchte, ein Zeichen dafür, dass er sich dem Gebüsch und der zu verfolgenden Person näherte.
Als Blondy sich anschlich, was bedeutete, dass er sich langsam bewegen musste, begann es zu regnen. Er hielt einen Moment inne und lauschte dem langsamen, gleichmäßigen Tropfen des Regens.
Stille trat ein.
Eine Minute verging.
Dann fuhr ihm der Schrei eines Eichelhähers durch alle Glieder.
Der Verfolger jubelte. Er kannte das Verhalten der Tiere des Waldes. Er wusste, dass dies der Schrei des Eichelhäher war, ein Wächter, ein Warner. In der Nähe musste der Verborgene sein. Also stellte er sich vor, dass dem Ruf des Eichelhähers folgen brauchte, um an sein Ziel zu gelangen.
Doch das war schwieriger als gedacht.
Denn der Ruf war nicht zu orten.
Somit musste er sich entscheiden, wohin er gehen sollte.
Er sah ein dichtes Gebüsch. Dazwischen standen junge Birken. Das war es, dort hatte er vorhin den Zappelphilipp gesehen. Er beschloss, seinen Fuß dorthin zu setzen.

Er bewegte sich auf eine Buschgruppe zu, die noch weit entfernt war.
Als spürte, dass er nahe genug heran war, um gehört zu werden, blieb er stehen.
Es war unvermeidlich, er musste auf allen Vieren kriechen. Es war erniedrigend wie eine Echse zu kriechen, besonders bei diesem regnerischen Wetter.
Die nassen Blätter und Zweige und bald auch seine Füße fühlten sich schwammig an, natürlich, es hatte die ganze Woche geregnet. Der Boden mit seinen Blättern, Zweigen und Moosen hatte das Wasser wie einen Schwamm aufgesogen. Daher roch es nach dem beißenden Modergeruch – direkt vor seiner Nase. Zudem tröpfelte es und tropfte es von allen Seiten und ein Windstoß ließ zu allem Überfluss noch einen Schwall Wasser von den Ästen herab.
Er bemühte sich, den Kopf auf dem Boden zu halten. Er atmete den würzigen Geruch von feuchtem Laub und moderndem Holz ein. Der Geruch von Kiefernholz hier und Fichtenharz dort brachte ihn fast um den Verstand. Und der Schweiß begann in seinem geröteten Gesicht zu brennen.
Er verfluchte die Tatsache, dass er nicht daran gedacht hatte, einen Anorak mit Kapuze anzuziehen. Hätte er nicht damit rechnen müssen, jemanden zu verfolgen, anzupirschen, aufzulauern – so wie jetzt? Hinterher zu jammern half nicht.
Er hustete.
Um jeden Preis zu vermeiden.
Also hustete er noch einmal, noch heftiger. Er hielt den Atem an, bis er laut ausplusterte. Verfluchtes Rauchen.
So ging das nicht.
Was er einmal in einer langen Entwöhnungstherapie gelernt hatte: Yoga. Yoga bedeutete unter allen Umständen gleichmäßig zu atmen. Er drehte sich auf den Rücken und starrte durch die Baumwipfel in den grauen Himmel. Aber nein, er wurde nur nasser, obwohl der gleichmäßige Blick der Meditation alles um ihn herum vergessen ließ. Er drehte sich wieder um und starrte auf den Boden direkt vor seiner Nase.
Tatsächlich half es ihm jetzt. Nach einiger Zeit ging sein Atem gleichmäßiger, der Hustenreiz war verschwunden.
Wer hätte das gedacht! Insofern hatte diese behördliche Entwöhnungsmaßnahme heute Sinn gemacht. Aber sonst nicht, er rauchte und trank wie immer
Als er zwischen den Zweigen, Bäumen und Sträuchern etwas zu entdecken meinte, das sich farblich von der Umgebung abhob, drückte er sich näher an den Boden und begann, wie man es beim Militär lernt, wie ein Reptil über den Boden zu kriechen. Es war fast unmöglich, sich geräuschlos zu bewegen. Alle paar Meter hielt er inne, hustete ein wenig, atmete bewusst gleichmäßig und lauschte den Vögeln, dem Gewürm und dem Getier, das sich über und um ihn herum tummelte.
Ein Vogel piepte laut.
Aber halt, verriet er ihn? Machte das schrille Piepsen auf aufmerksam, auf die Kreatur da unten im Unterholz?
Von wegen!
Blödsinn!
Irgendwo über den Bäumen im grauen Himmel dröhnte ein Flugzeug.
Er schob einen tropfenden Kiefernzweig beiseite. Zu dem stechendem Gefühl kam die Nässe.
In den nassen Socken begannen seine Füße zu jucken und die durchnässte Hose scheuerte klebte an seinen Beinen, scheuerte schließlich, wenn er sie wieder bewegte, bis er vielleicht wund wurde, alles Empfindungen, die ihn daran hinderten, sich lautlos und unhörbar fortzubewegen.
Unter den ausladenden Ästen einer Fichte sah er ihn endlich stehen, ihm den Rücken zugewandt.
Jetzt musste er besonders vorsichtig sein.
Doch unwillkürlich kam ihm seine Unbeholfenheit in den entscheidenden Momenten zugute. .
Er hatte keine Kapuze. Der Verfolgte aber schon, was für Blondy von Vorteil war, denn er hatte sich durch das Überziehen der Kapuze fast taub gemacht. Aber natürlich rechnete er nicht einem Indianer, der von hinten anschlich und ihn überwältigen würde. Er bildete sich ein, er müsse nur ein paar Meter weiter dem Parkplatz mit dem Auto im Blickfeld haben.
Falsch gedacht: Lautes Knacken, heftiges Scharren, ruckartiges Husten und kehliges Hüsteln waren für ihn unhörbar geworden.
Aha, deswegen wurde er nicht entdeckt.
Das war gut so, sehr gut sogar.
Wieder einmal war ihm das Glück, der Zufall, der liebe Gott zu Hilfe gekommen.
Vor lauter Freude hatte Blonde Mühe, ruhig zu bleiben. Seine Raucherlunge regte sich wieder. Er versuchte sich zu beruhigen, indem er immer wieder die Körperhaltung wechselte: auf den Rücken, auf den Bauch.
Aber die Lunge keuchte wie ein Reibeisen. Und immer wieder musste er husten.
Doch der Kapuzenmann war wie eine taube Nuss.
Blondy bildete sich plötzlich ein, dass der Wind plötzlich drehte. Das konnte gut oder schlecht sein, je nachdem, wohin er die Geräusche trug, auf den Fremden zu oder von ihm weg. Da Blondy das nicht einschätzen konnte, beeilte er sich. Jetzt merkte er, dass es sehr dunkel geworden war. Er spürte auch, dass der Regen stärker geworden war.
Sollte seine Glückssträhne nun reißen?
Trotz der Düsternis und des Regens war die Sicht nicht so schlecht, dass Blondy nicht nahe genug an den Polizisten herankommen konnte, um abzuschätzen, wann er seine Mordwaffe einsetzen musste. Diese befand sich in einer übergezogenen Weste, die er erst öffnen musste. Dazu hatte er einen Kabelbinder mitgebracht.
Endlich konnte er dem komischen Kauz vor ihm den kalten Schraubzylinder in den Rücken drücken. Es musste sich anfühlen wie ein Pistolenhals.
„Bleib, wo du bist und rühr dich nicht, dann passiert dir nichts“, raunte er ihm gefährlich ins Ohr. Schweigen war eigentlich völlig überflüssig, aber es entsprach dem Ernst und der Dringlichkeit der Situation.
Der Polizist hatte kurz den Kopf über die Schulter nach hinten geworfen und seinen Gegner mit einem Ah angesehen. Es half nichts. Das gefährliche Rohr des Schraubenschlüssels sprach für sich. Es spielte keine Rolle, dass er ihn erkannt hatte. Dass er derjenige war, den er vor ein paar Wochen mit seinem Kumpel bei einer Verkehrskontrolle getroffen hatte und sie dann diesen Deal vereinbart hatten. Es war auch nicht wichtig, dass Blondy wusste, mit wem er es hier zu tun hatte.
Alles, alles egal.
Kein Denken, nur Handeln war jetzt angesagt, schnell, präzise und unerbittlich.

Und der Polizist gehorchte.
„Jetzt Hände auf den Rücken!“
Der Polizist tat wie ihm geheißen.
Dann fesselte Blondy ihn mit einem Kabelbinder.
„Rühr dich nicht, dreh dich nicht um, bleib wo du bist!“
„Ich rühr mich nicht, dreh mich nicht um, bleib wo ich bin!“
„So ist gut!“
„Ja, das ist gut!“
„Alles?“
„Ja, alles ist gut!“
„Wunderbar!“
Von hinten fischte er die Pistole aus der Pargatasche des Gefangenen. Schließlich, als Blondy die Waffe an sich genommen hatte, verabschiedete er sich mit eindringlichen Worten: „Bleib eine Viertelstunde hier liegen. Äh, oder besser, zähl bis tausend, bevor du aufstehst! Verstanden!“
Der Polizist nickte ergeben.
„Bis Tausend zählen!“
„Mindestens!“
„Mindestens und höchstens eine Stunde liegen bleiben.“
„Sehr guuut! Du kapierst schnell!“
„Ja, ich hab verstanden!“
„Ja, dann haben wir uns verstanden.“
„Wir verstehen uns!“
„Wenn du mich verfolgst, dann schieß ich! Verstanden!“
„Natürlich nicht. Nicht verfolgen. Ich hab's ja verstanden!“
„Guut!“
Er drückte etwas fester zu. Konnte ja nicht schaden. Auch wenn der Polizist wie ein Papagei alles nachplapperte, was man ihm sagte, hieß das noch lange nicht, dass er verstanden hatte. Das versteht sich von selbst, wenn man wie Blondy etwas von Psychologie versteht.
Jedenfalls nickte er und drückte nun den Übertölpelten mit dem Gesicht tiefer ins Unterholz, der sich nicht mehr rührte und sich unendlich schämte.
Blondy stellte seinen Fuß auf den Rücken des mit dem Gesicht auf dem Boden Liegenden und betrachtete die Pistole mit liebevollen Augen. Plötzlich fühlte er sich tausendmal besser als je. Er hielt die Pistole an seine Nase, schnupperte an ihr, ob sie nach Schmauch roch, betrachtete den Lauf von außen und sah, dass er schwarz war. Er wischte dieses Rohr nicht etwa an der Hose, wo seine Oberschenkel waren, oder am Ärmel seiner Jacke, nein, sondern, so merkwürdig es klingen mag, er putzte den Lauf tatsächlich hinten ab. ja wirklich, mitten dort, wo sein Hintern war. Vielleicht nicht genau in der Mitte, vielleicht etwas mehr seitlich, an einer Arschbacke entlang, so abstrus es klingen mag.
Dann lugte er in den Lauf der Pistole, kniff das Auge zu, um besser fokussieren zu können, war zufrieden. Er konnte wohl keine Metallstücke, verirrte Kiesel oder dicke Schmauchspuren entdecken, die Funktionsfähigkeit der Pistole beeinträchtigt und blockiert hätte.
Dann hielt die Waffe hoch, den Arm fast senkrecht ausgestreckt.
Schießen?
Nein! So dumm war er nicht.
Aber er hielt die Pistole lange so in die Luft gestreckt. Er spürte, dass sich etwas unter ihm regte und drückte mit seinem ganzen Körpergewicht auf den Liegenden unten. Der schrie natürlich vor Schmerz auf.
„Halt's Maul!“
„Ja!“
„Halt's Maul!“
Endlich verstand er und tat es.
Die Pistole da! Sie kam ihm vor wie ein Glied seines eigenen Körpers. Es keimten Phantasien auf, was man mit einem solchen Glied alles anstellen könnte. Es sei so viel verraten, dass er dabei an die Krankenschwester im Keller dachte. Erstaunlich, dass für Blondy ein Fremdkörper wie diese Frau plötzlich ein lustvoller, erregender und freudiger Gegenstand sein konnte.
Aber diese Pistole war für ihn wie eines seiner wichtigen Körperteile.
Dann machte sich Blondy langsam auf den Weg und dachte: 'So ein Ding in der Hand, an der Hüfte, am Körper gibt Halt und Sicherheit und macht einen zu einem aufrechten Menschen. Super!'
Schritt für Schritt ging er weiter, über Gebüsch, Steine, Moos, Flechten, Efeu, Gestrüpp, einfach über die ganze Welt schwebte er.
Er vergaß alles um sich herum, gar sein Opfer, dass nur wenige Meter hinter ihm lag. Fast wie ein stolzes Pferd mit aufrechtem Hals und angewinkelten Knien ritt er aus dem Gebüsch und dem Wald heraus als absolvierte er eine Kür. Es fehlte nur noch, dass er vor Freude wieherte.
Als er aus dem Wald auf den Parkplatz trat, sozusagen wieder ins Licht der Öffentlichkeit, spürte er, wie sich seine Gedanken eintrübten und er sich sehr beklommen fühlte. Irgendetwas musste er übersehen und vergessen haben bei alldem. Das musste so sein, denn alles war ein bisschen zu schnell gegangen. Zu glatt und reibungslos. Kurzum, er konnte sein Glück nicht fassen und es wurde ihm unheimlich!
Stolz, beschwingt und aufrecht wie noch nie in seinem Leben lief er zu seinem Fahrrad, öffnete den Werkzeughalter am Sattel und steckte die Pistole hinein. Aufgeregt und beschwingt schwang er sich darauf.
Hatte er einen Fehler gemacht?
Hätte er den Polizisten besser niedergeschlagen?
Jetzt würde er ihm bestimmt heimlich folgen. Vielleicht! Schnell, schnell.
Er warf sich in die Pedale und kämpfte sich mit seinem Fahrrad durch das Gebüsch über schmale Waldwege zum Tunnel unter den Bahngleisen, der der kürzeste Weg nach Hause war.
Kurz davor hatte er die zündende Idee.
Er schob sein Fahrrad durch den kleinen Tunnel, stellte es zur Seite und öffnete das Fahrradschloss.
Die Unterführung hatte auf beiden Seiten schmiedeeiserne Türen, die offen standen. Manchmal musste der Durchgang aus irgendwelchem Grund geschlossen werden. Er brauchte sie nur abzuschließen, nämlich mit dem Fahrradschloss, dann würden keine zehn Pferde das Eisentor aufbrechen und sein Fluchtweg wäre gesichert.
Das tat er.
Dann eilte er davon.
Der Fremde mag ihm in gebührendem Abstand gefolgt sein, aber vor dem Tunnel war Ende Gelände! Bei Regen und Dunkelheit die Gleise zu überqueren, ist glatter Selbstmord.
In dem Moment, als Blondy das Haus betrat, wurde ihm schrecklich klar: Die Geiseln mussten erschossen werden.
Unbedingt!
Der Gedanke schnürte ihm die Kehle zu. Das war eine Dimension, in der ihm die Luft wegblieb. Die Sache nahm jetzt Ausmaße an, die sein Fassungsvermögen überstiegen. Er fühlte sich wie in der Luft hängend, ohne Boden unter den Füßen, während er gleichzeitig mit Lichtgeschwindigkeit in eine Zukunft geschleudert wurde, die er sich nicht vorstellen konnte.
Wo würde er mit den Füßen landen?
Ihm wurde schwindelig, sein Puls raste.
Aber kein Problem. Kein Problem? Sagte er sich. Dabei wog und streichelte er die schöne, schwere Waffe in seinen Händen liebevoll wie einen Goldbarren. Oder er klammerte sich verkrampft wie ein Kind an die Handgelenke der Mutter?

Pentzw
Kalliope
Beiträge: 950
Registriert: 11.04.2011, 19:59

13. Frivole Küchenspiele/14. Ein Held kennt keine Schmerzen ....

Beitragvon Pentzw » 24.05.2021, 18:17

13. Frivole Küchenspiele

Für den Verlauf nicht so relevant/Siehe E-Book

14. Ein Held kennt keine Schmerzen...

Blondy geriet in Panik.
Waren sie zu gierig?
War es richtig, das Lösegeld noch einmal zu erhöhen?
Das hatten sie beim letzten Kontakt mit der Ehefrau gefordert und ihr gesagt, sie solle das Auto abschließen, nachdem sie das Geld abgelegt hatte. Dann sollte sie den Türgriff herunterdrücken und sich mit dem Körper gegen die geschlossene Tür stemmen, damit sie auch wirklich zu war. Schließlich könnte ja jemand zuschauen oder ein Passamt das Fahrzeug nach Verwertbarem durchsuchen und am Ende auf die teuren Scheine stoßen.
Vielleicht hatte die Ehefrau trotz Warnung längst die Polizei verständigt? Die hatte die Anrufer schnell ausfindig gemacht. Wurden sie schon observiert? Wenn sie den letzten Anruf nicht zurückverfolgen konnten, dann wussten sie zumindest, wo das Auto stand. Wo hatten sie sich versteckt, diese blauen Männchen vom Mars?
Blondy scannte das Gelände um den Parkplatz Zentimeter für Zentimeter. Aber nichts, nichts, nichts. Zum Verrücktwerden!
Wie gingen die Behörden vor? Was war ihr Ziel? Die Entführten möglichst unversehrt befreien? Warten, bis die Entführer fliehen? Oder vorher zuschlagen? Beobachten und ermitteln, bis die Anklage hieb- und stichfest war? Die Verfolgten sollten sich bei der Vernehmung nicht herausreden können. Verdammt, wie war wohl die polizeiliche Vorgehensweise?
Diese Unsicherheit!
Er langte an die Pistole an seiner Seite und fühlte sich ein wenig entspannter.
Sie würden es der Polizei nicht leicht machen, sie zu kassieren, das war klar.
Doch plötzlich fühlte sich Blondy unter scharfer Beobachtung, spürte förmlich die Kameraobjektive und Peilsender wie unsichtbare Pfeile auf sich niedergehen.
Ruhe bewahren! Kuhl bleiben!
Ängstlich und übervorsichtig schlich er eine ganze Weile auf Abstand um den Parkplatz herum wie die Katze um den heißen Brei. Er traute sich einfach nicht, an das Lösegeld heranzugehen.
Er musste verdammt auf der Hut sein.
Schließlich hielt er es nicht mehr aus, torkelte ziellos wie ein Betrunkener auf das Cabrio zu, täuschte einen Schwächeanfall vor, stützte sich mit einer Hand am Fahrzeug ab, taumelte erst einmal wie ein Betrunkener herum und warf verstohlene Blicke ins Innere. Verflucht, nichts, keine Spur von dem Geld. Fluchtartig verließ er den Ort.
Legte sich erneut auf die Lauer und wartete ungeduldig auf den Einbruch der Dämmerung. So dunkel wie möglich sollte es sein für den optimalen Moment, das Geld zu holen …
Er verlor die Nerven.
Ging zielstrebig auf das Auto zu, tat so, als wolle er es öffnen, schien es sich dann aber anders zu überlegen und entfernte sich wieder vom Auto. Plötzlich blieb er stehen, stampfte mit dem Fuß auf, jetzt war ihm alles zu blöd, zu dumm geworden - alles egal, egal - er kehrte um und riss die Autotür auf.
Das Geld war da!
Oder?
Auf der Fußmatte lag ein Briefumschlag.
Er bückte sich, nahm den dicken, geöffneten Umschlag, hielt ihn an die Brust, als wollte er verhindern, dass man ihn ihm wegnahm, spitzte hinein, sah die Blüten, faltete den Umschlag wieder, stopfte ihn in die Hosentasche, bewegte den Oberkörper aus dem Auto, schlug die Tür nicht zu, sondern drückte sie so sanft wie möglich zu, drehte den Kopf blitzschnell hin und her, um das Terrain zu checken – und machte sich zum Fahrrad auf.
Er war sich des neuralgischen Punktes sehr wohl bewusst.
Sein ausgeschaltetes Handy sendete zwar nicht direkt, aber doch irgendwie Signale, wenn es sich wie jetzt im Ruhemodus befand. Er hatte mal davon gehört: Handys im Offline-Modus sind trotzdem intakt.
Verflixt, man wusste einfach nicht, welche Möglichkeiten die Behörden hatten. Gegen die heutige Technik war man machtlos.
Und die Verfolger konnten ihm jetzt auf den Fersen sein, hinter diesem oder jenem Busch oder Baum sitzen. Verdammt, die hatten unendlich viel Personal!
Blitzschnell drehte er sich um, sah niemanden, nicht dort, nicht hier, nirgendwo. Als wäre er allein auf der Welt.
Aber das täuschte. Er war nicht dumm. Zumindest gegen Verfolger konnte er etwas tun.
Der kürzeste Weg war durch den Tunnel.
Er machte sich nicht einmal die Mühe, Haken und Zickzack zu schlagen, sondern fuhr auf direktem Weg dorthin.
Hier würde er einen Plan in die Tat umsetzen.
Bereits auf dem Hinweg hatte er sein Fahrradschloss mitgenommen.
Was einmal funktionierte, würde auch wieder funktionieren.
Das war das Ende der Fahnenstange für den Verfolger.
Er verriegelte wieder die Tunneltür, schob sein Fahrrad durch die stickige, stinkende Röhre bis ans andere Ende. Stellte das Fahrrad zur Seite. Dann legte er sich zwischen Büschen des Bahndamm auf die Lauer. Der einzige Weg zu ihm führte über die Bahngleise, ein gefährliches Unterfangen bei diesen Hochgeschwindigkeitszügen.
Aber man wusste ja nie. Und man musste mit allem rechnen.
Mit der Pistole im Anschlag verharrte er einige Minuten auf dieser Seite gut versteckt.
Bald wusste er, seine Glückssträhne dauerte noch immer an. Niemand kam.
Exakt zwei Minuten verstrichen. Das müsste reichen. Wenn jetzt noch niemand aufgetaucht ist, wird es auch keiner mehr tun.
Glücklich sprang er auf sein Fahrrad und fuhr schnell nach Hause. Es flackerte hinter ihm weit sichtbar das Fahradlicht.
Ein Glückspilz weiß oft erst hinterher, dass seine Glückssträhne vorher zu Ende gegangen ist. Nur nicht den Grund dafür. Dabei ist das Pech allzu oft selbst verschuldet, weil man unachtsam wird. Vielleicht steigt einem das Glück zu sehr in den Kopf?
Hier wurde etwas übersehen, was nicht hätte übersehen werden dürfen.
Das Rücklicht des Fahrrads brannte trotz Stillstand sehr stark. Es warnte den Verfolger auf der anderen Seite des Bahndamms.
Dieser versteckte sich und wartete, bis die Luft rein war.
Es lag an diesem neuen Gerät, einer Lampe, zweifelsohne ein technische Highlight-Erfindung, die noch einige Zeit nach Tritt auf das Pedal leuchtet, weil es elektronisch aufgeladen ist.
Dieser Punkt wurde im Plan nicht berücksichtigt ...

Ernst stand bereits mit seinem Transporter auf dem Parkplatz. Zuvor hatte er das Lösegeld wie angeordnet in den Cabrio gelegt. Mit Argusaugen suchte und prüfte er das ganze Umfeld ab. Vor Eintritt der Dämmerung ließ sich noch vieles erkennen. Zur Sicherheit hatte er das Fernglas eines befreundeten Jägers mitgenommen.
Merkwürdiges Verhalten, was tat dieser Mensch dort? Ein Betrunkener? Ein harmloser Passant? Ein Autodieb?
Oder einer der Entführer?
Ernst war nicht überrascht. Er rechnete mit allem. Die Täter würden es gerade darauf anlegen, ihn zu täuschen. Aber er war sich sicher, dass es dazu nicht kommen würde. Er war sehr, sehr selbstbewusst. Er ahnte, dass dies sein Triumpf werden würde. Er freute sich schon unbändig auf den „Sieg“. Das würde ein Fest geben!
Bingo – ein Entführer! Aber er hatte es eilig.
Schnell, die Kapuze überziehen, leise den Lieferwagen öffnen, der dies aber nur quietschend tat und sich hinter der Karosserie bereithalten, bereit für die Verfolgung. Bis zum Ort der Entführung.
Bis vor den Tunnel konnte er den Gauner verfolgen. Die Eingangstür, oh Mann, oh Mann, war mit einem Vorhängeschloss versperrt. Aber er hatte sein Fernglas mitgenommen. Er zögerte nicht lange, robbte in Sekundenschnelle den Bahndamm hinauf und richtete das Fernglas aus.
Dort drüben blinkte deutlich ein Licht. Trotz Zwielicht. Das musste das Fahrrad sein. Tolle Technik!
Jetzt hieß es warten.
Nach zwei Minuten tanzte das Licht in der Ferne, sich immer weiter entfernend.
Schweiß bildete sich auf seiner Stirn.
Links und rechts konnten Züge kommen. Gut, links, die Züge, die aus dem Bahnhof fuhren, waren kein Problem, weil sie gut zu sehen waren und langsam fuhren. Aber das war ein Irrtum, dessen sich Ernst nicht bewusst war. Der Bahnhof der Kleinstadt war zwar ein ganzes Stück entfernt, aber die Hochgeschwindigkeitszüge fuhren sehr schnell durch. Schließlich hielten sie nur in großen Bahnhöfen, nicht in Kleinstädten. Das hatte Ernst leider nicht bedacht, als er begann über die Bahngleise zu springen. Er ging davon aus, dass jeder Schnellzug erst einmal langsam aus dem Kleinstadtbahnhof herausfahren musste und bevor er richtig in Fahrt kam, war er schon längst drüben.
Und jetzt zur rechten Seite. Ernst meinte, es wäre diejenige, von der am ehesten Unheil drohte. Kaum fünfzig Meter entfernt war eine Kurve, schlecht einsehbar, und von dort konnten plötzlich Züge um die Ecke brausen und sich nähern, dass man gar nicht mehr reagieren konnte.
Es war russisches Roulette.
Er musste sich entscheiden. Ein Blick nach links genügte, um festzustellen, dass von dort keine Gefahr drohte: Kein Zug stand im Bahnhof. Dann wandte er seinen Blick nach rechts, lauschte angestrengt und verengte gar seine Augen zu Sehschlitzen.
Er hörte nichts, sah nichts.
Würde alles gut gehen – trotz der Gefahr?
Er erinnerte sich, in Abenteuerromanen gelesen zu haben, dass man einen herannahenden Zug am besten daran erkennen könne, dass man sein Ohr auf die Geleise legte und dann ein Eisenschwingen hörte.
Sollte er das tun?
Irgendwie kam ihm das übertrieben vor.
Die Zeit drängte.
Er musste es einfach schaffen, allen beweisen, was für ein Mann er war und so stolperte er los, über die Gleise, wie ein Reh durch das dichte Gestrüpp, von einem Hindernis zum anderen – und ein Zug raste hinter ihm vorbei, dass der Wind ihn umwarf. Sofort sprang er auf, mit zwei Geleisen vor sich, bitte sehr, und hüpfte weiter. Am Ende fiel er mit den Händen voran den Schotterhügel hinunter. Hautabschürfungen, Kratzer und Schrammen waren nur die Insignien eines Helden. Seine Knie schmerzten fürchterlich, die Innenflächen der Hände taten es ihnen nach, er fühlte sich wie Jesus am Kreuz und empfand wahres Glück!
Auf der asphaltierten Straße kam er zum Halt und landete auf dem Bauch liegend. Er hatte sich Hosen, Hemd und was alles noch aufgerissen.
Aber egal!
Seine Freude war größer als der Schmerz. Ha, er lag so flach, dass er schwer erkennbar sein würde. Umso besser jedoch konnte er die Straße überblicken.
Dort, hundert Meter entfernt, ein blinkendes Licht und eine schattenhafte Gestalt, die ein Gartentor öffnete. Sogleich verschwand sie wieder, das Licht hinter ihm. Mit letzter Kraft und Mühe humpelte er dorthin, zum Gartenzaun, dahinter stand ein Haus und durch die erleuchteten Fensterläden bewegten sich dunkle Gestalten hin und her.
Volltreffer!
Tatsächlich?
War der Flüchtende da drin?
Geduckt ging er den Gartenzaun entlang. Dies musste unbedingt das Zufluchtshaus sein. Es grenzte nur an ein anderes Grundstück. Wer geht schon durch einen fremden Garten, krabbelt dort über den Grenzgartenzaun, um in sein Revier zu gelangen?
Nein, in diesen hier, im Vorderhaus zur Straße, spielte die Musik.
Er duckte sich hinter den hohen Ginstersträuchen auf der anderen Straßenseite, verharrte in kauernder Haltung, eine unvorteilhafte Stellung, aber auf den Boden setzen, dazu war es zu nass.
Er war sehr zufrieden mit sich. Selbst Schmerzen an Händen, Knien und am Gesicht spürte er kaum. Nur wegen der Kauerstellung machten sich allmählich die Kniekehlen bemerkbar. Aber er richtete sich dann wieder auf, machte Kniebeugen auf und runter, rannte auf der Stelle, als würde er auf einem Förderband laufen oder verschränkte seinen Oberkörper mal nach rechts hinten und nach links hinten.
Viele Gedanken schwirrten in seinem Gehirn herum.
Sollte er die Polizei benachrichtigen, seinen Neffen, den Polizisten anrufen, nein, sich die Butter vom Brot zu nehmen - nicht mit ihm!
Stattdessen Killerinstinkt beweisen – wie seinerzeit 7. Kanzlerin Angela Merkel, die sich rechtzeitig vom 6. Kanzler Helmut Kohl distanzierte, um sich selbst die Macht zu hieven. Obwohl er ihr Vorbild gewesen war ...
Ernst schrie plötzlich vor Schmerz auf, weil er jetzt alle seine Wunden auf einmal überall spürte..
Er sah nach unten und stellte fest, dass die Stoffhose an der Hosentasche aufgerissen war. An einer Schürfwunde an seinem rechten Knie, die ebenfalls aufgerissen war, sickerte Blut.
Ein Hochgeschwindigkeitszug donnert hinter ihm vorbei, so er betäubt wurde und keinen Schmerz mehr spürte.
Dafür aber Ohrenschmerzen.
Schmerz über Schmerz.
Ein Held!

Pentzw
Kalliope
Beiträge: 950
Registriert: 11.04.2011, 19:59

15. Operation "Jäger und Sammler"

Beitragvon Pentzw » 28.05.2021, 15:57

Blondy kommt heute mit dem Rad ans Einkaufszentrum. Er ist sehr erzürnt, weil Bully nicht einkaufen gegangen ist und nun alles an ihm hängen bleibt.
„Hast wohl etwas Besseres zu tun gehabt?“
„Allerdings!“
Diese unverschämte Antwort brüskiert Blondy seh. Als er auf dem Weg ins Einkaufszentrum ist, ist er geladen wie eine scharf gemachte Atombombe.
Warum musst er immer der Depp sein?
Die pralle Tüte mir Pfandflaschen am Lenker schlägt ihm gegen die Schenkeln. Seit dem Erhalt des Lösegeldes sind sie jetzt nicht mehr auf das Pfandgeld angewiesen, aber der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Fleisch muss her, sozusagen als Wegverzehr, ein gutes sicheres Fahrradschloss ist auf so einer Reise auch angebracht, damit kann man den Geldkoffer sichern. Es muss aber ein sehr stabiles sein, er hat da eines im Kaufhausprospekt entdeckt – eines mit einem Sicherheitscode.

Der Videomeister hat es heute nicht auf sexy Verkäuferinnen abgesehen, sondern auf schräge Vögel. Und ganz besonders auf Blondy. Die Kamera zoomt direkt auf ihn, als er zu den Pfandautomaten tritt. Er drückt einen Knopf, der Automat dahinter blinkt Alarm. Ein roter Schriftzug erscheint noch: „Operation 'Jäger und Sammler“. Das ist einer der vielen Gags des Videomeisters und eine Botschaft an den Lageristen, einen ehemaligen Stasi-Mitarbeiter, der freudig grinst, als er das liest.
Endlich ist es soweit. Das Mammut geht in die Falle. Heute wird es erlegt.
Seit Wochen wird Blondy dafür präpariert. Meistens mit kleinen Sticheleien, meist Pfandflaschen nicht angenommen. Dass Blondy sich aus dem Loch kitzeln lässt, liegt daran, dass er schwach ist und zu Wutausbrüchen neigt. Zudem zu arglos. Zudem zu unwissend.
Der Lagerist hat auch den Lehrling einen versteckten Tipp gegeben: „Den musst du dir genauer anschauen!“ Das Standbild einer Videoaufzeichnung zeigt recht deutlich Blondy.
„Seine Pfandflaschen sind manipuliert. Die Etiketten sind gezinkt!“ Ein glatte Lüge!
Blondy ärgert sich wieder über die Maschine. Sie weigert sich, eine Falsche anzunehmen. Und die bereits eingegebenen hat sie nicht mit einem Bon gutgeschrieben.
Der Lehrling kommt vorbei, Billy bittet um Hilfe. Der Lehrling erkennt Bully. Er ist gewarnt.
„Da muss ich den Chef fragen.“
„Sie sehen doch. Der Automat blinkt Störung. Meistens ist der Behälter voll. Daran entweder etwas rütteln oder ihn entleeren, dann geht's.“
„Trotzdem! Ich muss den Chef fragen!“ Der Azubi dreht sich um und geht ins nahe Büro des Abteilungsleiters, kommt wieder heraus und an Bully vorbei: „Der Herr Abteilungsleiter telefoniert noch. Er kommt gleich. Warten Sie bitte so lange!“
Blondy wartet und wartet.
'Was soll das, der telefoniert und telefoniert. Und ich muss mir die Beine in den Bauch stehen.'
Er wurde immer wütender.

Schließlich drückte er auf den dicken Knauf an der Flaschenmaschine und eine weibliche Roboterstimme ertönte: „Ein Mitarbeiter bitte zum Flaschenautomaten!“
Nichts geschah. Wieder drückte er, nichts, wieder, wieder nichts. Währenddessen hörte der Chef den Lärm, wie die sterile, monotone Maschinenstimme unentwegt die ganze, lange Halle beschallte. Das würde die ganze Kundschaft aufscheuchen wie Hühner. Aber ein wichtiges Telefongespräch hielt ihn fest.
Warum spuckte der Automat nicht den Bon aus? Der Kunde schlug jetzt mit dem Fuß gegen das Armaturenbrett.
In diesem Moment trat der Abteilungsleiter prompt aus dem Nebenraum und machte Blondy nieder: „Können Sie nicht mal warten, wenn ich telefonieren muss!“
„Wer ist hier König, der Kunde oder der Verkäufer?“
Der Kaufmann unterdrückte seine Wut, händigte dem Kunden zähneknirschend den 4-Euro-Pfandgut-Bon aus, murmelte aber verständlich: „Schau, dass dich schleichst, du räudiger Hund, du!“
Blondy unterdrückte seine Wut und nahm die nächsten Flaschen heraus.
Wieder signalisierte die blöde Maschine Störung mit unaufhörlichem roten Geblinke. Zur Abwechslung weigerte sie sich eine Flasche in seinem hohlen, schwarzen Loch zu verschlingen.
Blondy drückte erneut auf den Knopf mit der Maschinenstimme.
Nun trat der Lagerist aus dem Hinterraum, erbot sich zunächst recht freundlich, natürlich sofort nach der von der Maschine verschluckten Flasche zu suchen.
„Warten Sie hier. Bin gleich zurück!“
„Warten“, dieses Wort brachte Blondy mittlerweile in andere Zustände. Schon wieder warten. Außerdem, ziemte sich dies für einen Millionär, der er mittlerweile war? Damit musste jetzt Schluß sein, allzu oft hatte er wegen der Unzuverlässigkeit des Flaschenautomaten mit Mitarbeitern Scherereien gehabt. Aber er durfte nicht auffallen. Noch waren die Millionen nicht in trockenen Tüchern. Aber gefallen lassen musste er sich auch nicht alles deswegen.
Wieder kommt der Lehrling vorbei.
„Ich geh mal schnell zur Metzgerei davorne. Wenn dein Chef kommt...“
Der nickte zwar, fuhr aber unverdrossen mit seinem Hubwagen weiter. Auch er hatte es eilig, wie jeder Beschäftigte hier im Kaufhaus. Wo käme man schließlich hin, wenn man sich mit Sonderwünschen solcher verrückter Kunden abgeben würde? Außerdem, der Vogel ist eh zum Schuss freigegeben worden, und das zu Recht – der piept doch nicht mehr ganz richtig.
Warum spuckte der Automat die Quittung nicht aus? Er schlug mit dem Fuß gegen das Armaturenbrett.
In diesem Moment kam der Abteilungsleiter prompt aus dem Nebenraum und fuhr Blondy unhöflich an: „Können Sie nicht mal warten, wenn ich telefonieren muss!“
„Wer ist hier der König, der Kunde oder der Verkäufer?“
Der Abteilungsleiter unterdrückte seine Ärger, händigte ihm zähneknirschend den 4-Euro-Pfandgut-Bon aus, murmelte aber verständlich: „Schau, dass die schleichst, du räudiger Hund, du!“
Blondy unterdrückte seinerseits seinen Ärger und schob die nächsten Flaschen ins Loch..
Wieder signalisierte die blöde Maschine Störung, diesmal wollte sie partout keinen Flasche mehr in seinen hohlen Bauch aufnehmen.
Blondy drückte wieder auf den Knopf, der die Maschinenstimme ertönen ließ.
Jetzt kam der Lagerist aus dem und bot sich zunächst recht freundlich an, natürlich sofort nach der von der Maschine verschluckten Flasche zu suchen.
„Warten Sie hier. Bin gleich da!“
„Warten“, dieses Wort brachte Blondy mittlerweile in Wallung. Außerdem, ziemte sich das für einen Millionär, der er inzwischen war? Damit musste jetzt Schluss sein, zu oft hatte er Ärger mit dem Personal gehabt. Aber er durfte nicht auffallen. Die Millionen waren noch nicht in trockenen Tüchern. Aber er durfte sich deswegen auch nichts gefallen lassen.
Wieder kommt der Lehrling vorbei.
„Ich geh mal schnell in die Metzgerei. Wenn dein Chef kommt ...“
Der nickte, fuhr aber unverdrossen mit seinem Hubwagen weiter. Auch er hatte es eilig, wie alle Beschäftigte hier im Kaufhaus. Wo käme man denn hin, wenn man sich mit Sonderwünschen solcher verrückter Kunden abgeben würde? Außerdem ist der Vogel eh zum Abschuss freigegeben. Zu Recht.
Also, ab der Fisch!
Jedenfalls war er längst woanders, als der Lagerist aus der Tür neben dem Raum hinterm Automaten trat und weit und breit kein Kunde zu sehen war. Auch er stand unter Zeitdruck. Wenn das sein Verhalten erklären würde. Aber jetzt musste er warten. Das tat er so gern, dass er ihn, der mit einem eingewickelten Stück Hackfleisch von der Fleischdecke zurückkam, mit einem Schulterzucken und allzu barschen Tonfall begrüßte : „Da hat sich keine Flasche gefunden!“
„Das heißt, ich bekomme keinen Bon gutgeschrieben, oder? Dann ruf ich ihren Chef.“ Schon wandte sich Blondy dem Geschäftsbüro zu.
„Halt!“ Er blickte in das grinsende, verlogene Gesicht des Kaufhausangestellten. Er hielt bereits einen vorbereiteten, handgeschriebenen Zettel in der Hand.
Ganz schön dreist. Blondy hätte am liebsten zugeschlagen.
Aber er hatte noch eine zweite Flasche in petto.
Auf der fehlte seltsamerweise das Pfandemblem.
„Da kann ich wirklich nichts machen!“
„Aber...!“
„Wirklich. Tut mir leid!“
„Kommen Sie mal mit. Ich zeige Ihnen etwas!“
Blondy lief wütend um die Ecke, zu den zu verkaufenden Flaschen. Dort war eine, wie er sie in der Hand hielt.
„Okay, dann bleiben sie stehen!“
Der Lagerist lachte und zeichnete die leere Flasche gegen.
Blondy kochte das Blut in den Adern. Wie man hier behandelt wurde. Man musste sein Recht regelrecht erkämpfen. Wütend rannte er zur Kasse und unterließ es in seiner Wut, das zu bezahlende Fleischprodukt zu begleichen. Es steckte unsichtbar in seiner Jackentasche. Er ließ sich den Pfandbon auszahlen und verließ fluchtartig das Geschäft.
Als er aus dem Kaufhaus trat, spürte er eine eiserne Hand auf seiner Schulter.
„Kommen Sie mit, junger Mann!“
Der stinkende Abteilungsleiter und der unseriöse Lagerist forderten ihn mit Nachdruck auf, mit ihnen zu kommen.
„Wieso?“
„Wir müssen ein paar Dinge klären!“
Sie hatten sein Nichtzahlen gefilmt, verfolgt und wollten ihn jetzt anzeigen. Sie riefen die Polizei.
Während Blondy allein im Aufenthaltsraum der Angestellten auf die Beamten wartete, dämmerte ihn allmählich seine Lage. Vernünftigerweise sagte er sich zwar, dass es ihm letztlich „scheißegal“, sein konnte. Was war schon so eine kleine Strafe für diesen Bagatelldiebstahl im Vergleich zur Höhe des Erpressungsgeldes?
Aber, je länger er wartete, desto nervöser wurde er.
Wenn sie Verdacht schöpften, wenn die Arztfamilie vielleicht doch die Polizei einschaltete und nicht die vereinbarten fünf Tage Stillhalten einhielte, könnte er vielleicht erkannt werden. Die schönen Scheine und herrliche Freiheit wäre unwiederbringlich verloren. Was war mit dem faulen Herumliegen auf einer Insel, die vielen schönen Tussis und dem ausschweifendem Luxusleben?
Stattdessen das bekackte Leben in engen Gefängnismauern!
Mensch, höchste Zeit sich zu verdünnisieren.
Er spürte seine Pistole in der Westentasche, das erste Mal, seit er hier war.
Das beruhigte ihn ungemein.

Er schaute aus dem Raum, sah den Abteilungsleiter und den Videomeister, die an den knapp unter der Ecke hängenden Rohrleitungen Muskelübungen wie in einem Fitnesscenter machten, was bei ihrer korpulenten Leibesfülle aussah, als hingen Rindviecher herum, nur wie im Schlachthaus nicht umgekehrt mit Kopf voran. Zu allem Unglück kam jetzt auch noch eine hübsche Verkäuferin herein, um sich etwas zum Essen aus dem Kühlschrank zu holen. Sie lächelte verlegen.
Ist er denn jetzt der totale Depp?
Gute Miene zum bösen Spiel und er fletschte die Zähne in Richtung des schönen Engel, der aber schnell wieder wegflog.
Dann kamen zwei schneidige Polizisten in den Flur, wo Geschäftsleiter und Videospitzel ihre männliche Schaustellung zelibrierten.
„Zum Videoraum?“
„Da gehen wir rein!“
Blondy war ihnen entgegengetreten, aber weg waren sie. Der Videoraum war mit einer schweren Eisentür verschlossen. Alles ging zu schnell, Blondy hatte keine Chance.
Was würde nun geschehen?
Er war ein Spezialist im Videoschnitt, wie der selbstgedrehte Porno bewies. Er wusste, dass Videobilder nahezu unbegrenzte Möglichkeiten der Manipulation boten, selbst der Timecode, die Zeitangabe am unteren Rand des Films konnte manipuliert werden. Wer weiß, welche Szenen die Kaufmänner den Polizisten präsentierten? Wahrscheinlich keine, die für ihn sprachen.
Was würde Management und Polizei wohl miteinander aushecken?
„Vergessen wir mal die Szenen, wo wir den komischen Vogel provozieren, nicht die feine Art, klar, aber dafür wird die nächste Lieferung Grillfleisch für euer Betriebsfest doppelt so groß ausfallen, zum gleichen Preis, versteht sich.“
Wenn die Polizei überhaupt besagte Bilder vorgeführt bekommt, das war die Frage!
„Ja, wirklich, ich bin der totale Depp!“
Zwei Meter entfernt am Ende des Flurs versperrte jemand den Ausgang, der ehemalige Stasi-Provokateur, breit grinsend, Hände vor der Brust verschränkt, breitbeinig dastehend und mit einem Fuß, der leicht nach außen gewinkelt war, auf dem Boden einen Takt tippend. Das Signal, das er aussendete, war eindeutig: Komm nur her und greif mich an, ich warte nur darauf!
Blondy ging wutschnaubend in den Personalraum zurück und setzte sich an einen langen Pausentisch. Darauf lagen verschiedene Dinge: eingewickelt, belegte Brote, Gemüse oder Obst. An der Wand darüber hingen Fotos von lustig dreinschauenden Menschen, vom Kaufhauspersonal bei Betriebsfeiern, Ausflügen oder Kaufhaus-Event. Die schnuckligsten Verkäuferinnen lächelten nur so sexy drein, dass Blondy sich ganz anders fühlte. Dazwischen hing ein Kalender, ein Putz- und Abwaschplan.
Und inmitten dieser bunten Wand aus Fotos, Plänen und Flyern hing ein Foto mit einem bekannten Gesicht, zerfix - von ihm, oder?
Aber das war unmöglich!
Abrupt sprang er auf und näherte sich dem Bild.
Man konnte den Ansatz seiner Tonsur erkennen. Die langen Haare schienen so unter Blitzstrom zu stehen, dass sie wie bei dem Filmhelden aus David Lynch Eraserhead sternförmig wegstanden – tatsächlich, er selbst, Blondy war es, in all seiner Pracht und Schönheit!
Darüber stand in bunten Lettern: „Operation JÄGER UND SAMMLER“.
Und darunter: MOST WANTED.
Doch damit nicht genug.
Man hatte ihm mit rotem Filzstift eine Clowns- oder Pappnase ins Gesicht gemalt.
Er kam lange nicht aus dem Staunen heraus. Hier war er tatsächlich als der größte Clown, die größte Pappnase, der größte Trottel weit und breit öffentlich verhöhnt und an den Pranger gestellt worden.
Manches merkwürdige Verhalten der Verkäuferinnen lief vor ihm wie ein Film ab: verwegene Blicke, die ihm dreist und direkt trafen und Gesichter, dies sich verschämt von ihm abwandten, nach dem sie ihn hinter vorgehaltener Hand angegrinst hatten.
Plötzlich überkam ihn Angst, Angst vor dem, was er am liebsten getan hätte, nämlich ein paar Geiseln zu nehmen, mit dem Pistolenlauf an die Schläfen durch die Menge draußen im bunten Kaufhaustreiben zum Schrecken aller zu gehen, um sich den Weg freizuhalten.
Das Bild von der Schießerei im Supermarkt erschien filmreif: Tomatendosen explodierten mit rotem Schwall durch verirrte Kugeln – das Glas der Wursttheke zersprang in tausend Scherben wie eine Explosion in Zeitlupe und die Besinnung verlierende Menschenleiber plumpsten träge auf die Fleisch- und Wurstauslagen.
Von dieser Vorstellung erregt, lief er schnell zum Toilette im hinteren Teil des Personalaufenthaltsraums und erlöste sich mit einem lauten Plippfff. Muffensausen hatte ihn am Wickel. Angst am Kieker. Panik versetzt in einen Zustand, in dem er kaum noch vernünftig denken konnte.
Denn die Polizei war da. Kaum einen Meter von ihm entfernt. Nur eine Wand trennte ihn von ihnen. Und mit denen hatte er schon seine Erfahrungen gemacht. Das waren Profis. Unerbittlich würde sie ihm in zunächst gebührendem Abstand folgen, nicht locker lassen, egal welche Kapriolen er schlagen würde.
Wieder erzeugte sein Durchfall einen hohen Laut.
Er griff nach seiner Pistole in der Seitentasche, zog sie hervor und legte sie flach auf die Handfläche. Musste man dieses Gerät nicht entsichern, bevor man es benutzte? Er öffnete die Trommel und vergewisserte sich, dass sie Patronen enthielt. Die Trommel klickte ein.
Da war so ein Hebel, den er umlegen. Jetzt müsste sie schussbereit sein.
Er nahm sie fester in die Hand und richtete sie gegen die verschlossene Klotür.
Nein, cool bleiben, Nerven behalten, erst mal schauen und abwarten.
Automatisch wanderte dann sein Blick die Tür hinauf, über die Decke, bis er im äußersten Winkel etwas Licht erblickte, ein Klappfenster. Sofort sprang er auf, zog die Hose hoch, steckte die Pistole weg und sah sich die Öffnung genauer an.
Aufklappbar nach außen - wunderbar!
Das war's - ab die Wurst!
Er klappte den Klodeckel zu, stieg darauf und machte sich am Fenster zu schaffen. Es ließ sich leicht öffnen und er konnte sich wie bei einer Stangenübung hochziehen – das tägliche Krafttraining lohnte sich. Verdammt, dann stieß er gegen ein Gitter. Es war eingerostet und ließ sich nicht öffnen. Aber er rollte sich zusammen wie ein Embryo, drehte sich im Fensterrahmen um 180 Grad und stieß mit einem Tritt das Rohr aus seiner rostigen Verankerung.
Der Weg war frei!
Draußen auf dem Hallendach lief er über 50 Meter diagonal in eine äußere Ecke, schaute erst vorsichtig nach unten, ob der Weg frei war. Zum Glück ging dort unten kein Mensch.
Wie ein Affe hangelte er sich am Regenrohr nach unten. Schnell sprang er um die Ecke zum Fahrrad, öffnete das Schloss und fuhr los.

In seiner Aufregen und Freude über seine Flucht sah er sich nicht nach Verfolgern um.
Plötzlich kam ihm der Gedanke: Folgt ihm die Polizei, dann bekämen sie heraus, wo er wohnt. Wenn sie dann das Haus stürmten, würde alles tödlich enden. Was für hässliche Szenen würden sich abspielen? Sicher, sie hatten jetzt ein Gewehr, aber keinerlei Erfahrung im Umgang damit. Wie sollten sie sich gegen solche alten Hasen wehren können?
Die Millionen würden sie in Luft auflösen.
Unmöglich. Verteidigung – aussichtslos! Chancenlos!
Er musste j e t z t die Verfolger abwimmeln!
Nur wie?
Natürlich!
Kurzerhand steuerte er den Tunnel an. Es war zwar noch nicht sicher, ob sie ihn tatsächlich verfolgten, aber wie sollte er das auch wissen? Das waren Profis. Er würde es nicht merken – klar!
Sicher ist sicher ...
Was konnte er aber in diesem Bahnhofstunnel, dieser kleinen Röhre schon machen? Sich darin verstecken? Auf die Lauer legen, um zuzuschlagen ...
Es war nur so eine Ahnung, die ihn dort hin zog, bis es ihm aufging wie die Morgensonne am Äquator.
Der Tunnel war das Ende der Fahnenstange für die Polizei - denn dort konnte er seine Verfolger in eine Falle locken – ja genau, die Türen, die Schlösser!
Er versteckte sein Fahrrad im Gebüsch, hängte ein Fahrradschloss an die erste Tür, ohne sie zu verschließen und eilte zum anderen Tunnelende, um dort die Tür mit dem neu gekauften Zahlenschloss zu verriegeln. Die Tunneltür war mit der Riegelkonsole in die Betonwand eingelassen. Das hielt!
Danach hastete er wieder zurück, versteckte sich hinter dem dichtesten Gebüsch bei dem anderen Tunneleingang.
Aber plötzlich hatte er Angst. Was, wenn die Polizei nicht durch den Tunnel ging. Warum sollten sie? Also musste man sie dazu bewegen, dort hinein zu gehen.
Aber wie?
Eine Idee kam ihm,
Sie in eine Falle locken!
Er nahm sein Fahrrad, rollte es zum Eingang des Tunnels und kippte es davor um. Die Polizei sollte, wenn sie das Rad hier liegen sah, glauben, der Verbrecher sei vom Rad gesprungen, um in den Tunnel zu flüchten und besser durch den Wald entkommen zu können. Denn ein Fahrrad würde die Flucht durch den dichten Wald erschweren.
Dann stellte er sich wieder hinter das dichte Gebüsch.
Wenige Sekunden später, er traute seinen Augen kaum, tauchte langsam ein Polizeiauto hinter der Kurve auf.
Gleich würde es sich entscheiden!
Zwei Uniformierte sprangen heraus, als sie das am Boden liegende Rad sahen, der Abteilungsleiter des Kaufhauses ebenfalls und alle drei stürmten kopflos in den Tunnel. Blondy sprang sofort die Böschung hinunter, näherte sich der vorderen Tunneltür und machte sie mit dem zweiten Schloss dingfest.
Drei Fliegen mit einer Klappe geschlagen!
„Verrecken sollt Ihr, Ihr elenden Kanalratten! Arschgeigen!“, brüllte er in den Tunnel hinein. Kein Echo antwortete – dieser Hohlraum war als Klangkörper zu klein. Dafür war es für die Betroffenen um so verständlicher.
Wer konnte es ihm versagen, dass er jubilierte?
Aber sich schnell jetzt zurückziehen, die Polizei konnte gleich mit ihren Knarren im Anschlag an diese Tür heranspringen und dann – Gnade ihm Gott! Sie würde nicht zögern, ihre Waffen einzusetzen.
Schnell rollte er sein Rad auf die andere Seite, postierte sich erst einmal hinter den Eingangspfeiler seiner Stammkneipe, die sich dort befand. Er wollte zum Schluss in aller Ruhe sein Meisterstück genießen.
Die Ratten saßen in der Mausefalle, konnten weder vor noch zurück und schmorten in ihrem eigenen Fett. Es war dunkel, kühl und vor allem stank es fürchterlich. Es roch nach Urin von Hunden und Menschenkot. Dafür konnte er sich verbürgen. Schließlich hatte er dort selbst schon sein Geschäft verrichtet und das war noch gar nicht so lange her.
Ob sie bald eine Funkverbindung durch diese dicken Mauern herstellen konnten?
Und wenn nicht?
Wie lange würde es dauern, bis Passanten eintrafen?
Nicht vor morgen früh!
Sie würden überleben.
Was für ein schöner Gedanke, dass die Polizei dort drinnen im wahrsten Sinne des Wortes versauern würde.
Unter dem Vordach seiner geliebten Stammkneipe dachte er an ihre Bequemlichkeit.
Hatte man zu viel getrunken, lief man aus dem Wirtshaus heraus, über die wenig befahrene Straße in den Tunnel, in dem man sich hemmungslos, sorgenfrei und ungehemmt auskotzen konnte.
Plötzlich hatte er Zukunftsangst. Wie würde es wohl werden, in den Ballermann-Regionen? Jeder Rausch musste doch raus! Konnte man sich auch auf Mallorca, Thailand oder auf tropischen Inseln so ungezwungen auskotzen wie in der Heimat?

Pentzw
Kalliope
Beiträge: 950
Registriert: 11.04.2011, 19:59

D. Dienstag

Beitragvon Pentzw » 30.05.2021, 21:19

16. Abschied fällt immer schwer …

24 Stunden noch

Es durfte keine Zeit verloren gehen, die Koffer mussten gepackt und spätestens morgen losgefahren werden. Bis dahin sind bestimmt schon die Polizisten aus dem Kloaken- und Kotztunnel befreit worden. Dir Folge wird sein, das Streifen pausenlos um die Blocks herumfahren, da vermutet wird, dass der Flüchtling in der Nähe wohnt. Und das stimmt ja auch. Bei ihrer Flucht war also höchste Vorsicht geboten, nicht aufzufallen und den Bullen in die Hände zu geraten.
Also Flucht – war ja klar! So bald wie möglich!
„Ewig können wir nicht in der Mausefalle schmoren!“
„Was, sind wir Mäuse oder was?“
„Äh, schon gut. Auf gut Deutsch: Was sollen wir tun?“
Sie konnten einen Flug buchen. Last-Minute-Flug. Und so hatten sie bis dahin: 24 Stunden. Zeit zum Planen und für Zwist. Aber zunächst einmal saßen sie zugedröhnt vor der Glotze, während in ihrem Innern ein ganz anderer Film ablief.
Jetzt, wo es der Abflug, der Abschied von hier, immer näher wurde, wuchs in ihnen ein mulmiges Gefühl im Magen. Sie würden ihren angestammten Platz, ihre Stadt, ihr Land verlassen – vielleicht für immer. Und zu allem Übel lief auch noch jetzt ein Film im Fernsehen, der diese Ungewissheit, dieses Gefühl der Unsicherheit, kurzum diesem Streufeuer Öl hineinschüttete.
Es lief ein Dokumentarfilm über die englischen Zugräuber, die in den 60iger Jahren einen einzigen langen Zug generalsstabsmäßig überfallen hatten und mit dem Geld ungehindert ins Ausland fliehen konnten.
Diese Engländer!
Und mit der ganzen riesigen Beute, hunderte von Geldsäcken mit Blüten ungehindert ab nach Übersee. Ohne von den Behörden erwischt zu werden. Und dort führten sie sorgenfreies Leben in Luxus und Freiheit.
Dann das Interview mit dem Kopf der Geldräuber. In einer Kneipe in Lateinamerika. Umringt von vielen kleinen, süßen Schnecken. Er mit einem Que am Billardtisch und plötzlich schaut er, aus dem schmutzigen Fenster der Spelunke, aus dem Fenster in die Ferne. Der Reporter hat ihn gefragt, ob er sich nicht manchmal nach dem good old England sehnt.
„Doch jeden Tag. Klar, das Leben hier ist bequem. Aber ich habe es mittlerweile satt. Leider kann ich aber nicht mehr zurück in meine Heimat, England. Die englische Lebensart und alles Drumherum, die Sprache, London, oh nein! Sie verstehen, das fehlt mir schon sehr!“
Das klang deprimiert und deprimierend.
Sie dachten daran, wie sie sich fühlen würden, nach ein paar Jahren in Tailand oder welchem Touristenparadies auch immer. Dabei sprachen sie keine Tailändisch, geschweige nicht einmal Englisch. Und Deutsch wird wohl kaum gesprochen. Sie würden sich mit der Zeit fremd vorkomimen. Und dann, dann würden sie auch nach einiger Zeit zurück nach Hause sehnen? Und würden niemals zurückkönnen! Das war schmerzhaft klar.

12 Stunden noch

Der Flug war für zwei Personen. Für drei wohl kaum. Sicher, eine Geisel musste zur Sicherheit bis zum Flughafen mitgenommen werden. Aber fliegen würden nur er und Bully.
Es musste entschieden werden, wer mitkommen würde. Bully votierte für die Krankenschwester – natürlich; Blondy für den Mediziner. Für wen sprach was?
„Hast wohl Geschmack an dieser Schwester gefunden?“
„Red kein Blech!“
„Ist schon gut. - Der Arzt hat aber den höchsten Preis.“
„Wie?“
„Schleppen wir aber die Krankenschwester mit und die Polizei findet den Arzt hier vor, ist unser Faustpfand … hm ...“
„Was?“
„Unser Druckmittel flöten gegangen, meinst nicht? Warum wohl?“
„Tja... Aber klar, hast Recht, das Lösegeld ist schon gezahlt. Der Mediziner ist uns keinen Pfifferling mehr wert!“
„Pfifferling?“
Bully wiederholte „Pfifferling“ und dachte darüber nach: „Ist das nicht ein Pilz. Ein kleiner, gelber, den man im Wald findet und mit Eiern, Speck und Nudeln essen kann? - Was hat ein Pilz mit Lösegeld z u tun? - Na klar, weil es ums Essen geht. Pfifferlinge schmecken so gut wie Lösegeld gut ist. - Muss ich mir merken. Etwas ist keinen, keinen Pfifferling mehr wert.“
„Wenn die Tussi mitkommt...“ Blondy versuchte sich in Bully hineinzuversetzen. „... ach, ich versteh! Das hättest du wohl gern! Du möchtest, dass ich dir zustimme. Die Krankenschwester kommt mit. Das wäre Wasser auf deine Mühlen!“
Was Bully jetzt überhaupt nicht verstand.
„Was, was. Wasser? Und was für Mühlen?“
„Hä!“
„Habe ich eine Mühle oder so was? Bin ich ein verdammter Holländer, oder was?“ Bully war kurz davor, seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen, sprich seiner Wut über diesen kryptischen Schwätzer Luft zu verschaffen.
Es hätte noch explosiver wernden können, wenn Blondy ausgesprochen hätte, was er dachte: „Dir geht’s doch nur ums Ficken!“Um Sex wäre es ihm beim Arzt auch gegangen, aber das hätte er natürlich niemals zugegeben.
Stattdessen machte er vage Anspielungen in eine andere Richtung: „Ja ja, so eine Sexsklavin … „
„Wie meinen?“
Blondy schwieg lieber, bevor er sich eine Watschen einfing. Dann schmollte er. Er fühlte sich wieder einmal abgehängt und benachteiligt.
Vor seinem inneren Auge lief folgender Film ab: Sie fuhren über die ebenen, gut ausgebauten Straßen. Die Karre rumpelte und schunkelte nur so. Während er sich mit dem Lenken des Cabrios abmühte, befand sich Bully mit der Schwester hinten im Fond …
Das Bier floss an diesem Abend in Strömen und Blondy ließ nicht locker.
„Überleg mal, wenn uns etwas zustößt. Ein Unfall, ein Reh, das uns ins Auto läuft, irgendetwas Unvorhergesehenes geschieht. Wie könnte uns dann der Arzt helfen, uns nämlich verarzten … “
„Was soll uns schon zustoßen? Ein Reh! Das ich nicht lache. Da muss du schon mit etwas besseren kommen.“
„Na gut, ein Querschläger von einem Pistolenschuss ...“
„... aus der Waffe eines Polizisten ....“
„... du sagst es …“
Bully wurde misstrauisch und fragte: „Sag mal, warum hast du an dem Arzt solch einen Narren gefressen.“ Bully hatte diesen Ausdruck schon gelernt und verwendete ihn gern zielsicher. Das Misstrauen Bullys ging zu weit. Wenn er den Stab für den Arzt weiter bricht, würde er sich verraten.
Am Ende entschied wieder einmal Bully, Argumente hin oder her. Die Schwester kommt mit, basta!
Die Frage blieb: Was wird mit dem Arzt gemacht? Es wäre vernünftig gewesen, ihn zu töten, um Spuren zu verwischen, Zeugen zu beseitigen. Es musste seine guten Gründe geben, dass man so im kriminellen Milieu vorging? Aber sie gehörten nicht dazu. Sie waren bedürftige Menschen in Not, die es als ihr gutes Recht ansahen, sich bei den Reichen und Wohlhabenden (Geldsäcken) zu bedienen, um ein menschenwürdiges Leben führen zu können. Nachdem es so gekommen ist, wie es gekommen ist. Eins aufs andere.
Sie konnten es jedoch nicht über sich bringen, sozial und menschlich wie sie waren, dem Arzt die Gnadenkugel zu geben. Neben ihrem sozialen Gewissen spielte dabei auch eine gewisse Rolle ihre Spielernatur, die ihnen sagte: Lass geschehen, was geschehen muss, aus, fertig, Amen. Sie beschlossen, den Doktor seinem Schicksal zu überlassen. Wenn er entdeckt würde, bevor er verhungerte, wäre es gut für ihn. Es wäre schlecht für sie, die Entführer, aber – die Polizei würde den Tatort früher oder später sowieso ausfindig machen - hoffentlich nicht zu früh! Sie hofften, dass sie in der Luft waren, bevor dies geschah.
Damit war alles geklärt.

17. Adlerauge verfolgt Dich!

Ernst hatte es die ganze Nacht hinter den Büschen nicht durchgehalten. Dies wäre auch zu übermenschlich gewesen. Er hatte sich schließlich durch den Tunnel, den Büschen und Bäumen zu seinem Lieferwagen durchgeschlagen. Das war nur möglich, weil er sich als Schüler in den Pausen, Frei- und Leerstunden hier die Zeit vertrieben hatte. Seine Digitaluhr hatte ihn rechtzeitig zur Morgendämmerung geweckt und nun stand er in Startposition, sozusagen in der günstigen Poolposition.
Es konnte losgehen.
Er saß wie auf glühenden Kohlen, obwohl er das Gefühl hatte, sein Allerwertester wäre auf Grundeis gestoßen, so fühlte er sich selbst körperlich an und besonders an jener Stelle. Aber war für ein starker Kerl er doch war! Er hätte nie gedacht, dass solche Kräfte in ihm schlummerten!
Er spürte Rückenschmerzen. Auf einer Holzbank im Bus zu schlafen war ziemlich unbequem gewesen.
Endlich kamen zwei oder drei Fremde aus dem Haus. Sie eilten an ihm vorbei und er duckte sich schnell hinter seinen Busch. Durch die Zweige sah er ein paar Personen, sich entfernten.
Aber wie viele?
Es war zu schnell gegangen.
Er trat einen Schritt aus dem Gebüsch, um die Flüchtenden besser sehen können. Doch was er sah, war nur noch ein Mann, der dort stand, sich der Tunnel befand.
Zum Glück schaute er in die entgegengesetzte Richtung, sonst hätte er auch Ernst gesehen.
Wahrscheinlich wollten die Flüchtenden so ihre Flucht absichern. Einer ging voraus, der andere blieb vorerst zurück.
Das vermutete Ernst. Woher sollte er wissen, dass die beiden eigentlich nur deshalb Mann für Mann vorgingen, weil vielleicht der Tunnel irgendwie von der Polizei nicht besetzt, aber überwacht oder sonst wie kontrolliert wurde?
Der mit der Waffe musste vorangehen. Natürlich die Geisel im Schlepptau.
„Will sie türmen, töte ich sie mit einem Schuss! Türmt sie bei dir, dann hat sie eine Chance.“
Das überzeugte.
Also wartete Bully außerhalb des Tunnel auf das Freizeichen.
Sollte Ernst ihn sich kaschen?
Mit einem würde er schon fertig werden ...
Das war die erste Nagelprobe.
'MIT DEN HERAUSFORDERUNGEN WÄCHST MAN IM AMT!'
Er zog die Schirmmütze tiefer ins Gesicht, senkte den Kopf und ging im Laufschritt, als würde er joggen. Er blieb stehen, ging in die Knie, breitete die Arme aus, fuchtelte mit den Händen, zog die Arme wieder ein, ließ sie vor dem Oberkörper baumeln, während er jetzt langsam den Kopf wieder hob und sich der Zielperson näherte.
Der Widerpart war verschwunden!
Mensch, da stand niemand mehr – er hatte sich bei Joggen ganz auf seinen Körper konzentriert und nicht nach vorne geschaut.
'NACHTIGALL ICH HÖR DIR TRAPSEN!'
Aber da war wirklich niemand mehr, weder vor dem Tunnel noch im Gebüsch.
Natürlich war der Mann jetzt auch im Tunnel, wenn nicht schon am anderen Ende wieder heraus.
Zögernd näherte er sich dem großes, schwarzen Loch, dem Eingang des Durchlaufs.
Was erwartete ihn dort? Ein Verfolgter mit einer Knarre in der Hand?
'MENSCH, SEI NICHT ZÖGERLICH, SONST VERPASST DU DEN ABSPRUNG!
Augen zu und durch!'
Und schon bückte er sich mit seinen190 cm Körpergröße und verschwand in dem röhrenförmigen Tunnel. Dort rutschte er auf etwas aus, das ein Polizist am Vortag zurückgelassen hatte und versuchte vergeblich, sich mit den Händen abzufangen. Doch er fand an den gewölbten Wänden keinen Halt und rutschte ab. Als er auf dem Boden aufschlug, griff er nach etwas Klebrigem, das er sich, auf dem Hosenboden sitzend, entsetzt vor die Augen hielt. Angewidert von dem penetranten Gestank sprang er schnell auf, schüttelte heftig die Hände, so dass das schmutzige Papier abblätterte, nicht jedoch die braune Substanz daran. Er rannte wieder los, rutschte auf dem feuchten Unrat aus, konnte sich aber wieder fangen und erreichte glücklich das Ende des Tunnels.
Draußen sah er das Weiß und das Braun an seinen Schuhsohlen.
Er wischte die pappigen Fremdkörper an einem Busch ab und stürmte los wie ein humpelnder Hüftgeschädigter, ein verletzter Spitzensportler oder ein erschöpfter Marathonläufer. Er spürte die Kraft, die Energie, aber jetzt auch den Schmerz, den er sofort unterdrückte, indem er die Lippen zusammenpresste. Der einzige Weg nach dem Tunnel, war links in Serpentinen einen schmalen, steilen Waldweg hinauf. Auf diesem stolperte er, prallte gegen eine dicke, hervorstehende Kiefernwurzel, stürzte, verletzte sich aber nicht ernsthaft und kroch noch wie ein Schimpanse auf allen Vieren weiter. Das war ein beeindruckende Leistung, diesen steilen Hang hinaufzuklettern.
Dann stand er an einer Weggabelung.
Er blickte in zwei Richtungen.
Sah in der Ferne einen tanzenden gelbgrauen Farbfleck, einen Anorak, eine Kleidungsfarbe, jemanden, höchstwahrscheinlich einen Flüchtling.
Los, schnell aufschließen, aber in sicherer Entfernung bleiben.
Er erkannte drei Personen. Wer waren sie?
Eine Person war weiblich.
Mit einer Frau als Bösewicht hatte er nicht gerechnet.
Aber umso mehr musste er auf der Hut sein, niemanden unterschätzen, auch keine Frau. Jeder konnte gefährlich sein. Ob die Geiselnehmer, diese Frau und der Dritte, seinen Bruder als Geisel hielten? Ob der Dritte überhaupt sein Bruder war?
Egal, diese zwei oder drei, wie auch immer, überwältigen, übertölpeln, unschädlich machen. Irgendwie. Wenn der Dritte sein Bruder war, brauchte er nur zwei Gegner außer Gefecht setzen. Das war schon mal gut. Auf seine Hilfe konnte er dabei nicht rechnen, wahrscheinlich war er gefesselt und behindert.
Wenn man das nur genau wüsste! Wie sollte man sich da einen Überblick verschaffen?
Dafür war es ohnehin bald zu spät. Die drei näherten sich jetzt dem Parkplatz. Sobald sie das Cabrio erreicht hatten, war die Chance vertan.
SCHLECHTE KARTEN, MEIN GUTER!
In seinem Kopf drehte sich alles. Was tun? Was tun? Was?
Nein, die Chance, hier und jetzt noch jemanden zu überlisten, war zu gering. Leider. Also entschied er sich, in seinem Überwachungsfahrzeug Schutz zu finden und damit den flüchtenden Mercedes Benz zu verfolgen.
Hoffentlich war der Wagen schnell genug. Hoffentlich soff er ihm nicht ab. Alt genug war er. Obwohl er vom Werkstattmeister seiner Firma gründlich durchgecheckt und auf Vordermann gebracht worden war, Öl, Luftfilter und Bremsflüssigkeit erneuert, traute er diesem nicht. Außerdem, drückten die mit ihrem Mercedes Benz auf die Tube, dann hatte er das Nachsehen. Da brauchte er sich keinen Illusionen hingeben.
Sein Atem ging mühsam und schwer, sein Herz schlug schnell und hart, ihm war plötzlich übel.
Der Motor sprang mit einem leisen Knattern an, er legte den Gang ein, ließ die Kupplung kommen, gab Gas und der Wagen rollte los. Mit einem Mal fühlte er sich wieder beschwingt wie der Frühlingswind.


Mensch, wo sind meine Pillen? Dort, wo sie immer sind und sein müssen; dumm, hab's ins Handfach gelegt, wo sie liegen würden, wenn's das gewohnte Fahrzeug wäre, aber ist ja nicht - was, wenn diese Verfolgungsjagd länger dauert? Wie reagier ich darauf? Körper, Psyche, Geist? Bedeutet, ich muss so bald wie möglich zuschlagen.
Verflixt, ich hab sie auf dem Armaturenbrett liegen, richtig.
Ist während der Fahrt nicht einfach aufzukriegen. Man muss sich auf den Lenker stützen, darauf achten, was im linken Blickfeld geschieht und mit dem rechten Auge das Öffnen der Schachtel überwachen. In den Händen halte ich die Schachtel, aber ich seh am Blickrand nur etwas Weißes davon. Dann muss ich mich halt auf meinen Tastsinn verlassen, zerfix, dann geht's schon.
Genau, darin müssten die Bedarfstabletten sein!
Greifen geht ja noch, aber wie sie öffnen, ohne hinschauen zu müssen? Die Papierschachtel aufreißen, den Streifen mit Pillen rausziehen und – ja, egal, die Schachtel kann ruhig auf den Boden fallen, nur nicht die Pillen. Die Folie jetzt mithilfe Daumen und Zeigefinger aufreißen!
Aber hoppla, immer auf den Verkehr achten, lieber Ernst. So!
Ach, das geht gut? Besser als gedacht!
So und jetzt hau sie dir rein und am besten in einem Zug runterschlucken, weil die ganz schön bitter sind. Und die nächste Schachtel. Läuft ja wie geschmiert.
So, aber verflixt, eine ist daneben gefallen, hoffentlich nicht die gegen den zu hohen Blutdruck. Ich kann jetzt auf den Boden gucken, zu gefährlich, muss immer auf den Verkehr achten. Na hoffentlich schießt mein Blutdruck nicht durch die Decke ohne Pillen, kann man nur hoffen!
Regen, Regen, Regen, und jetzt beschlägt's auch noch die Scheibe.
Dadurch muss ich näher ranfahren. Aber egal, die Wahrscheinlichkeit, entdeckt zu werden in diesem , ist gering.
Mist, ich bin zu dicht aufgefahren, nur gut, dass ich gebremst hab, leider auch gleichzeitig wieder aufs Gaspedal gedrückt. Hoffentlich haben die vorne nicht das aufheulende Motorengeräusch gehört!
Nein, drehen nicht den Kopf um. Glück gehabt!
Jetzt bräuchte ich mein Scheibenwischer-Leder, da könnt ich den Glasbeschlag abwischen, so aber reib und reib ich mit dem Oberarm, dass er mir schon schmerzt. Das ist richtig gefährlich, weil ich mich nicht so gut aufn Verkehr konzentrieren kann. Warum beschlägt die Scheibe? Schwitz ich etwa? Hoher Blutdruck? Ja, ich schwitz, verdammt. Hoffentlich hält das meine Konstitution aus, sonst – auweh! Kind den Bauch runter ...
Oh, ich hör da so ein Rascheln und Pfeifen. Im Gebläse? Gestern wurde doch der Luftfilter gewechselt. Was kann das sein? Ölwechsel auch, spielt hier aber keine Rolle. Der alte Motor wird einiges ertragen müssen bei dieser Verfolgungsfahrt, aber ist gut überholt, wie mir der Werkstattmeister versichert hat. Und die Bremsen? Na, gerade vorhin, da haben die Bremsen noch gefunzt, wunderbar ... Bremsen sind ultrawichtig.
Ich fixiere meinen Blick ganz stark durch die angeschlagene Frontscheibe, um zu erkennen, wer die Person im Cabriohintersitz ist. - Scheint sich um eine Frau zu handeln, eigenartig, dort sollte doch der Entführte, also mein Bruder sitzen? Demnach wär diese Frau auch eine Geisel. Aber wo ist mein Bruderherz? Aber vielleicht bedroht ihn die Frau von hinten mit einer Pistole an der Schläfe? Mehr waren es nicht, mehr als drei habe ich doch nicht gesehen, als ich sie am Parkplatz sah!? Oder wo sonst ist Brüderchen?
Irgendetwas vibriert hier. Ach so, das klingelnde Handy in meiner Hosentasche. Soll ich's während der Fahrt rausfischen? Bestimmt mein Neffe! Lieber nicht, ich muss mich auf die Straße konzentrieren, sonst springt mir der Erfolg noch von der Schippe...
Berlin!!!
Berlin wartet auf mich! Wie lang wird die Entführung dauern? Ausgerechnet jetzt, kurz vor dem Ziel. Aber es ist 'ne Chance, diese Ergreifung der Entführer, wahrscheinlich hilft sie mir, meine zweite Chance zu nutzen: Bundespräsident zu werden.
Bundespräsident!!!
Jetzt kandidiert jeder in meiner Partei um die Nachfolge, um zur Wahl des Präsidentenamtes nominiert zu werden, Mann o Mann. Da zählt jeder Tag, wo ich in die Hauptstadt komm, heiliger Birnbaum! Wenn ich da den Termin verpass, was für eine historische, nationale Katastrophe, nicht auszudenken. So entscheiden Zufälle, Glücksfälle oder Pechsträhnen Einzelner über das Schicksal ganzer Nationen, Völkern und Kontinente.
Die Geschichte lehrt uns dies, jawohl!
Aber aufpassen!
Ist da vorne nicht eine Ampel? Fahre näher ran, schließe auf, damit ich noch bei Gelb über die Ampel komm. Denk nicht an einen Unfall! Alles wird gut! Ich schaff's!
Dies hier und die Aufstellung zur Präsidentenwahl!
Wäre noch schöner! Gelacht wäre das! Ha!!!
Ich schwimme durch jeden Fluss der BRD – als gewählter Bundespräsident. Zuerst den Vater Rhein. Dann mit der Mutter, heißt das so?, mit der Donau. Der Rhein, die Donau, also richtig! Aber nicht den Rheindurchbruch, nein, ich meine den Rheinfall bei Schaffhausen, das ist natürlich zu gefährlich. Ich lasse mich vielleicht dort abseilen und so, total spektakulär! Oder soll ich gleich Bungee-Springen machen? Nein, das ist zu undeutsch!
Also, wenn ich mir die Pressemitteilung vorstell: Präsident überwindet den Rheinfall, oder PRÄSIDENT ERNST MEISTERT LOCKER DEN RHEINFALL. Das klingt schon phänomenal. Oder: UNSER PRÄSIDENT DURCHSCHWIMMT DEN RHEIN BEI SCHAFFHAUSEN. Da denkt man, der Präsident hat den Rheinfall eigenhändig überwunden - ha, ha. Das steigert die Auflagen, so 'ne Halbwahrheits-Verkündigung, weiß man ja!
Jedenfalls, würde diese Tat über alle Grenzen hinweg und bis in allen Ecken und Winkeln der Erde hinein Aufsehen sorgen, wie einst der große chinesische Parteiführer und Staatspräsident Mao-Tse-Tung im Meer schwamm und dieses Bild die ganze Welt eroberte.
Wo sind sie jetzt?
Sind sie mir entwischt?
Ernst, du musst besser aufpassen!
Schnell aufs Pedal getreten. Ich überhol den PKW, ah ja, geschafft, ha, heute gelingt mir einfach alles, das ist mein Tag, jetzt ist's klar! Kein Blinken des Gegenverkehrs, kein Hupen, es läuft einfach wie geschmiert. Und da sind sie ja, so ist's gut – jepp! Ich hab sie wieder.
Ein Bundespräsident muss ein Programm haben, auf das sein Volk mit Bewunderung schaut und so wird mein erster Programmpunkt sein, alle Flüsse unseres Landes zu durchschwimmen. Dazu muss ich mich gut beraten lassen, was Impfung gegen Verschmutzung angeht, ich bin ja so anfällig für Krankheiten. Und auch an meine Tabletten muss gedacht werden. Aber im Allgemeinen darf der Präsident nur die Flussstellen durchschwimmen, die a) am wenigsten gefählich sind und b) am wenigsten verschmtzt. Dieser Aspekt der Auswahl darf natürlich nicht an die Öffentlichkeit dringen, weil das ein schlechtes Licht auf die heimischen Flüsse wirft.
Das muss man sich immer vor Augen halten: Nur das Positive darf öffentlich werden, nie das Negative.
Uns geht’s gut, unser Land ist super in Schuss, vergiss die Öko-Nörgler und ...
Grr...
Oh Mann, diese Bremsen, die könnte der Chef auch mal austauschen lassen.
Wo fahren die überhaupt hin? Zum Flughafen? Dann müssten sie nach Nürnberg fahren. Hm. Kann sein. Oder nach München. Oder Neumarkt in der Oberpfalz ...
Jetzt geht’s wieder los, jetzt kuppeln, jetzt ...
Ich bin fit für die Herausforderungen des Präsidentenamtes: Ich kann jeden Fluss durchqueren, bei uns gibt es ja keinen Mississippi, Amazonas, Yangtse, Sambesi, der ist in Afrika, oder den Nil, der auch, jedenfalls, die sind so breit, dass mir die Puste ausgeht. Klarm mein regelmäßes Langlaufen, Krafttraining und Schwimmen hat schon was gebracht und zahlt sich dann aus. Aber ich müsste noch viel, viel fitter werden. Neulich hatte ich wieder einmal Glück, dass ich nicht abgesoffen bin, als ich in der Bugwelle des verbeischippernden Tankers durchgeschüttelt worden bin und der Kapitän an Deck vielleicht gebrüllt hat: „Bist du verrückt? Was suchst hier? Ein Kanal ist kein Freibad, Mann!“ Hatte mehr Angst als unsereiner, dass ich ersauf. Und neulich an der Schleuse, da hätt mich doch glatt ein starker Song hinuntergezogen, wo ich ganz schön geschreddert und gedrecht worden wär.
Brrrrr...
Warum halten die auf dem Parkplatz vom Discounter?
Noch ist meine Ampel rot.
Wo soll ich denn jetzt halten?
Ah, ich seh's! Stell den Wagen dort da rechts ab, keine zehn Meter von den anderen weg, hinter dem großen Laster, dann sehen die mich nicht. Dann warten, bis sie weiterfahren und weit genug weg sind, um sich dann wieder unbemerkt an ihre Fersen zu heften.

Aber was haben die, was machen die? Die Ampel ist jetzt grün, aber ich seh, sie fahren wieder aus dem Parkplatz heraus und wieder in die Hauptstraße hinein, um so besser, da kann ich ihnen wieder locker vom Hocker folgen wie der Hund dem Herrn, ha!
Wie schön!
Mann fahr schneller! Gar nicht so einfach, sich wieder in den fließenden Verkehr einzufädeln. Die Leute sind heute so egoistisch, die lassen niemanden vorbei.
Los!
Ha, läuft ja wie geschmiert.
Die fahren bestimmt auf die Autobahn.
Hab ich's nicht gesagt? Aber trotzdem, könnten ja irgendwo in den Wald abbiegen... Hm. Aber jetzt geht's erst mal, wie's aussieht, geradeaus, so dass ich mein Handy ausschalte..n...könnte.
Hm, vielleicht doch nicht Handy ausschalten, wenn mir was passiert, sieht's schlecht aus mit der Erreichbarkeit; stell dir vor, ich komme vom Fahrweg ab, rase in so ein Maisfeld rein, überschlage mich, bin verletzt, geh- und bewegungsbehindert, dann sieht's nicht rosig aus.
Nee, Handy muss sein!
Denk positiv!
Am Ball bleiben. Bleib bei der Stange.
Du gewinnst! Der Sieg ist dir sicher! Die Party wird steigen!
So, jetzt geht’s s an der Autobahn vorbei. Sieh einer guck, die fahren auf der Bundesstraße in die tiefste Oberpfalz rein. Ist besser wie auf der Autobahn, da ist schon so mancher Unfall passiert beim Anhalten von Verdächtigen, obwohl da weniger Leute um einem herum sind, da würde so ein Polizeiüberfall leichter von der Hand gehen, weil weniger aufsehenerregend … Aber in so einer Stein-, Sand-, Wald- und Einödwüste wie in der Oberpfalz hinwiederum … Hm, ist auch nicht überall so dort, gibt viel Kiefernwald, aber wenn die sich ablegen zum Schlafen, dann könnt man sich anschleichen und einen nach dem anderen außer Gefecht setzen – man wird sehen.
Jetzt einen größeren Abstand halten, ein Verfolger ist auffälliger wenn weniger Verkehr ist, aber i ch muss so nah dran bleiben, dass ich sehen kann, wo sie hinfahren. Zum Beispiel, wenn sie plötzlich in einen Feldweg abbiegen.
Verdammt, jetzt duscht es aus allen Kübeln, ich sehe kaum etwas. Ich schalte das Licht an und fahre näher ran. Und jetzt fahren die links in eine asphaltieren Feldweg, nach Heubeck oder wie das Kaff heißt, und da können sie sich nicht verstecken, da fahren sie vielleicht weiter. Hinter mir ist ein Auto. Ist der verrückt bei dem Sauwetter zu überholen. Aber bitte schön, selbst sollst du der Meister deines Todes sein – deutsche Freiheit!
Unbegrenzte Fahrgeschwindigkeit auf allen Straßen und Autobahnen, da müsste ich auch mal ein Gesetz machen, was ich als Präsident aber leider nicht machen könnt, der Präsident segnet nur die Gesetze ab. Aber vielleicht ist der doch berechtigt, selbst solche Gesetze anzustoßen, mal sehen.
Mensch, wenn es doch endlich so weit wäre!
Aber Heiliger Antonius, bitt für uns Sünder, jetzt fahren die glatt in den Seeplatz. Ob sie bei dieser Regendusche im Terrassenrestaurant Schutz suchen? Geld haben sie jetzt genug, diese Saubackenpeter.
Sie steigen aus, die Frau bleibt im Auto, aha!
Heißt das, die Frau ist die Entführte? Oder steht sie Schmiere? Sicher nicht, sie ist eine Entführte. Mit einer Geisel zeigen sich diese Schlawiner nicht in der Öffentlichkeit. Interessant! Ich schau sie mir an, wenn die anderen weit weg sind.
Nen Regenschirm wär nicht schlecht.
Hab ich.
Und noch ein Aqua Mineralwasser mitnehmen.
Aber die Idee, die mir gerade kommt! Genial! Messer, wo bist du? Denen lass ich jetzt ein bisschen die Luft raus, damit sie nicht mehr so leicht entkommen können. Ha – dann sitzen sie in der Falle, in der Mause-, Mausefalle, huhu!
So, jetzt geh ich mal hin, und auweh, die Frau ist gefesselt und geknebelt, aber noch bei Bewusstsein, so wie die mich durch die Fensterscheibe anglotzt.
„Ich komm später wieder!“
Ob die mich da drinnen hört?
Ich klopfe an die Scheibe. Sie nickt. Gut, dann hat sie mich gehört.
Wo sind die anderen?
Dort drüben!
Zurückbleiben! Nicht verfolgen! Noch nicht.
Zuerst in die Reifen stechen. Aber aufpassen, dass die entweichende Luft nicht explodiert und mich umhaut. Das hat schon manchen aus den Socken gehauen.
Der erste Streich, ha!
Und der zweite folgt sogleich.
Der dritte und der vierte jetzt!
Und den dreien!
Man sieht sie noch. Die gehen, ich hab's ja, ins Restaurant, machen sich ein leichtes Leben, ist ja klar! Andererseits, bei dem Wetter, wohin sonst?
Wenn ich denen hinterherlaufe, was mach ich da, weil, ich hab kein Geld dabei, merke ich jetzt. Aber immerhin, ich kann mich ja auf die überdachte Terrasse setzen, oder? Die werden mich nicht gleich verjagen, wenn's so regnet!
Und da sitzen sie.
Und wohin mir mir? Kaum Platz, dicht gedrängt, aber ein freies Plätzchen ist da. Dann man zu. Über die beiden Holztreppe, auf das Podest, wo so viele Holzstühle und Rattantische stehen.
„Darf ich?“
„Natürlich!“
„Danke!“
„Saumäßiges Wetter!“
Nicken, aber nichts sagen. Passt mir ins Konzept, 'spart mir zu reden, konzentriere mich lieber auf die beiden Typen. Die schweigen und schauen sich bloß misstrauisch um sich.
Wenn ich an ihrer Stelle wäre, hätte ich weiß Gott Grund genug dazu!
Die Getränkekarte! Aha, aber gesalzene Preise haben die schon. Hoffentlich kommt keiner. Tresenverkauf haben die glücklicherweise, wie ich durchs Panoramfenster sehen kann. Da steht's auch noch unübersehbar auf dem Schild. Das ist schon ein bisschen groß geraten. Die müssen es scheinbar nötig haben.
Aber Umsatz muss sein, stimmt schon!
Ich kann leider dazu nichts beitragen.
Hoffentlich kommt niemand!
Aber, nanu! Achtsamkeit ist geboten! Die Stunde der Wahrheit naht!
DAS SCHICKSAL DER NATION SCHLÄGT!
Die Sternstunde meines Lebens!

18. Wer zu spät kommt, bestraft das Leben...

'Ohne Familie sind meine Karten fürs Bundespräsidentenamt schlecht. Bundespräsidenten brauchen eigentlich eine, um repräsentieren zu können. Wenn ich sage, ich will meine Person nur in den Dienst für unsere Bevölkerung stellen, hm, meine Kraft und Energie aufopferungsvoll … voll und ganz … genau ... wie ein katholischer Priester. Nee, das kommt im mehrheitlich protestantischen Deutschland nicht gut an. Außerdem hätte ich da auch gleich Pfarrer werden können. Nur das jetzt die BRD, der Sprengel BRD mit der Schafherde Deutsches Volk oder Bevölkerung, hat die Lebenden, die auf dem jetzigen Territorium der Bundesrepublik – heißt das heute noch so? Oder? Wie denn, bin mir unsicher, muss meine Cousine, die Stadtverwalterin fragen.
Es duscht und duscht, Mann o Mann.
Aber was tut sich dort?
Da kommt ein Mann auf sie zu. Sieht imposant aus, breite Schultern, die Arme etwas auseinander, um Platz für die explodierenden Muskelpakete zu haben. Wahrscheinlich der Wirt, Pächter des Cafés oder Restaurants hier. Er klopft einem hinten auf die Schulter. Schlechte Kinderstube, würde ich sagen. Ich glaub, er hätte es lieber sein lassen. Er ahnt nicht, in welche Gefahr er sich damit begibt, der Arme.
„Ich mach mal eine Ausnahme. Aber das mitgebrachte Getränk hier muss weg!“
'Hätt'n was holen sollen, genau. Wie ich, hab's auch nicht getan. Zu mir ist er zum Glück nicht gekommen, bestimmt, weil ich zu unauffällig bin. Aber der komm noch.
Aber der Eraser-Head-Typ, Halbglatze und abstehende Haare, der ist natürlich ein echter Blickfang. In einem öffentlichen Lokal etwas zum Trinken mitbringen, das geht nicht, hat er recht, der Wirt!
Guck mal, der springt jetzt plötzlich auf!
„Ich hab die Schnauze voll von diesen egoistischen Schweinen in diesem Land. Nicht mal im Regen kann man sich unterstellen, ohne Geld zu blechen. Euch hat man doch ins Hirn gefickt, dass ihr alle nur nach Geld lechzt wie Huren nach geilen Schwänzen, ihr Halsabschneider!“
Mann, er hält dem Kraftprotz eine Pistole unter die Nase. Sein Kamerad steht jetzt auf und versetzt ihm jetzt einen Faustschlag, der ihn voll auf den Boden knallen lässt, zum Glück ist es nur Holz. Kracht aber ganz schön. Aber er wird sich nicht verletzen, bei diesen Bohlen und Brettern.
Manche Leute stehen auf, trauen sich aber nicht, dazwischen zu gehen. Klar, würd ich auch nicht, der Pistolero zeigt abwechselnd mit der Pistole mal hierhin, mal dorthin. Geht sogar in die Knie, wie in 'nem richtigen Mafiafilm, Mann oh Mann.
„Kommt her, ihr feigen Schweine! He, he! Vielleicht du, oder du, oder du?“
Das ist der Hammer. Das ist ultrabrutal. Ultragefährlich. Wenn das außer Kontrolle gerät, gibt es ein Blutbad.
„Aua!“
Und der Terrassenchef am Boden kriegt von dem Spezi voll eine in die Seite mit den Schuhen, ein-, zweimal – oh Mann, hör auf! Ich kann gar nicht hinschau'n!'
„Schieijie!“
O Mann, das muss ganz schön wehtun, bei dem schrillen Schrei. Klar, so eine Fußspitze in die Nieren und, oh nein, jetzt auch noch gegen den Schädel – der ist nicht zimperlich, der nicht!
Und jetzt hau'n die ab.
Hinterher, aber langsam.
Aber wie?
Ohne, dass sie mich seh'n?
Ganz professionell ziehen sie aber, der eine vorneweg, der andere immer zurückblickend, mit der Pistole fuchtelnd und zielend. Ich aber, ich muss ihnen folgen, auch wenn's gefährlich ist wegen dieser Pistole, Mann o Mann, wer rechnet gleich mit so etwas?
Besser klotzen als kleckern, oder wie man so schön sagt, jedenfalls nichts überstürzen, schneller als man denkt wird man zu Hackfleisch verarbeitet und landet in der Tonne.
Apropos Hackfleisch? Wo ist mein Bruder? Klar, den haben sie bestimmt im Haus gelassen; hoffentlich unversehrt.
Apropos Tonne!
Jetzt duscht es aus Kübeln.
Die anderen rennen bestimmt schnurstracks zum Auto. Wenn ich nur vor ihnen da wäre? Wo ist der kürzeste Weg.
Eine Abkürzung? Dort durch die zwei Hütten des Segelvereins, da am Segelboot vorbei. Windig ist es auch, Schulter hochgezogen und gebückt los.
He, wie schnell die schweren Wolken am Himmel ziehen. Man muss sich mit aller Kraft gegen Regen, Schauer und Sturmböen stemmen, um überhaupt die paar Terrassenstufen hinunterzukommen. Am Geländer festhalten und nach unten ziehen, dann schaffe ich es.
So – und jetzt durch die Mitte der beiden Holzhäuser. Der Regen pladdert auf das Blechdach, dass es richtig laut ist.
Wo parkt ihr Auto? Dahinter verstecke ich mich, wenn ich vor ihnen angekommen bin.
Es gießt nicht schlecht aus Kübel und weil der Asphaltparkplatz leicht gesenkt zum See hin abfällt und von zu vielem Wasser überschwemmt wird, entsteht Aquaplaning. Und die Rohre laufen voll, der Kanal hält das viele Wasser nicht aus, das so viel Druck aufbaut, dass es dort, dort aus dem Gully in Kaskaden heraussprudelt. Wenn das nicht mal zu Rohrbrüchen führt! Das gibt wieder Arbeit für unsere Spezialfirma, juhe! So gesehen. Aber soll sich nicht über Schäden anderer freuen!
Ist schon ein beeindruckender Anblick, so ein Unwetter, auf jeden Fall.
Und außerdem habe ich jetzt auch einen leichten Schaden, nämlich leicht durchnässte Schuhe, igitt!
Jetzt bläst der Wind schon so stark, dass ich mich richtig dagegen stemmen muss, um ein paar Meter vorwärts zu kommen. Da stemmen sich bestimmt 50 Kilogramm gegen mich, mannomann!
Dort steht auch ihr Auto.
Dahinter verstecken!?
Aber halt, das ist keine gute Idee, sich dahinter auf Lauer zu legen, denn erstens könnten sie um das Auto herumgehen und zweitens, was, wenn sie losfahren? Mit plattem Reifen? Auf keinen Fall. Die steigen aus und schauen, was los ist und entdecken mich natürlich.
Nee, lieber zurück in meinen Beobachtungswagen.
Jetzt aber schnell, bevor die da sind – aufstehen wie ein Springteufel und laufen wie ein Hase, weiter und ganz schnell!
Und jepp, Tür auf, Tür zu. Nein, auflassen, wenigstens eine auflassen, um sie anzulocken - mit Speck fängt man Mäuse. Und Schlüssel stecken lassen. Ich krabble hinten in den Transporter, zum Ausguck!
Da, den Platten erkennen sie sofort. Einer zeigt auf den Reifen. Schau'n ganz blöd aus der Wäsche, haha. Mach'n die Tür auf, zerr'n die Frau raus, stoß'n sie vor sich her und komm'n auf mich zu. Die werden tatsächlich angelockt, super. Die Falle schnappt zu!
Wohin? Unter die Bank, da ist 'ne Decke drüber. Schnell!
Und dunkel wird's, wunderbar! Wie ein Hecht, ein Fisch, der den Kopf ins dunkle Loch steckt, nur der Schwanz schaut noch heraus. Also rein mit den Füßen.
Was liegt denn hier für'n Krempel rum? Ach, zum Glück nur weiches Zeug. Mappen, Ordner, Broschüren, Kopierschablonen. Auch gut, das dämpft beim Fahren, wenn's holpert und stolpert ...
„Wohin mit der Schnalle?“
„Da, auf die Bank!“
„Bleib ruhig, sonst polier ich dir die Fresse, du Schlampe, verstanden!“
„Die kann nicht reden, die hat 'nen Pfropfen im Maul, Mann!“
„Ich weiß! Aber nicken kann sie.“
„Die macht das!“
„Sag ich doch!“
'Die sitzt über mir. Über mir. Aua, das ist ein ganz schöner Krach, wenn sie die Schiebetür zuhau'n. Da kriegt man gleich Ohrenschmerzen.'
„Da steckt sogar der Zündschlüssel!“
„Lass das Auto schon an! Worauf wartest du noch?“
'Soll ich der Frau an die Füße fassen? Sicher, das beruhigt sie, wenn sie weiß, dass jemand bei ihr ist. Schreien kann sie nicht, sie hat einen Knebel im Mund. Also kann ich es machen.
Vorsicht, sie schlägt zurück. Aber jetzt hört sie auf. Zuerst hat sie sich gewehrt, bis sie gemerkt hat, dass ich es bin. Ihr. Ihr Retter, ihr Helfer, ihr Erlöser.
Hab Geduld, Mädel. Dein Messias kommt.
He, die fahr'n wie die gesenkten Säue, da muss mich irgendwo festhalten, sonst werd ich wie nasse Säcke hin und her geworfen. Ich leide eh schon wie Jesus am Kreuz. Fehlt nur noch der Essigschwamm im Mund.
Aua, bald spüre ich nichts mehr, nur noch ein großes Ziehen und Schmerzen im Schmerzzentrum. Ich werd zehn Kerzen in unserer Kirche opfern, wenn ich das heil übersteh, das schwöre ich!
Und ich merk schon, wie ich bald anfang zu weinen. Das ist nur der Schmerz! Ist aber immerhin besser als schrei'n!
Ruhig bleiben, auch wenn sie bei dem Tempo eh nichts hören.
Eigentlich läuft alles gut. Gut, dass ich meine Feinde so dicht bei mir habe. Jetzt können sie bestimmt nicht mehr entkommen und wegfahren.
Ha!
Und ich fühl mich so stark. Ja, ich bin kräftig. Ich bin stabil. Ich bin cool, weil diese Gefahr, diese Herausforderung, die macht mich so richtig stark.
Was für ein Heulen? Sirenen. Klar, die Polizei. Die hat der zusammengeschlagene Wirt gerufen und die schnappen mir jetzt den großen Hecht vor der Nase weg – wenn ich nicht schnell mach.
WER ZU SPÄT KOMMT, BESTRAFT DAS LEBEN!, sagte der 4. Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland Willi Brandt zum Fall der Mauer.
Sagen wir „Wende“ oder „Fall der Mauer“?
Ach, liebe Cousine, nach diesem Abenteuer habe ich einige Fragen an dich.
Vergiss jetzt alles andere und fühl deine Stärke!
Ja, ich fühle sie, ich kann es, jetzt muss ich zuschlagen!
So, krieche ich aus meinem Versteck – he, ich tu's wirklich und bleib lieber auf allen Vieren, ja, ja, so ist's richtig und krabbel zum Vordersitz. Ja, die Knie tun nicht schlecht weh! Und jetzt mit dem Rücken an die Cockpitwand.
Geschafft! Hat auf die Frau bestimmt nicht so cool gewirkt, wie ich da auf den Knien durch den schaukelnden Bus gerutscht bin, oder? War aber effektiv.
Und nun?
Jetzt langsam, langsam aufstehen und dem Beifahrer mit irgendwas auf den Kopf schlagen.
Aber wie? Eher womit? Harter Gegenstand, wo bist du?
Ein Schraubenschlüssel wäre gut.
Aber wo hier?
Keine Ahnung, hm.
Oder 'n Drahtseil, irgendwas verdammt und zugenäht!
Tja, Präsidenten; Politiker müssen Ideen haben, jede Situation meistern, reagieren können, egal, was kommt.
So!
Mir fällt einfach nichts ein...
Aber ich bin stark, stark, und die Sirene wird lauter und lauter. Da traue ich mich aufzustehen.
Ja, aber ohne mit etwas zu schlagen hat auch keinen Sinn.
Wie die Frau mich anstarrt?
Ja, dein Retter naht! Ich bin es! Das kann ich dir leider nicht sagen. Aber, du weißt schon.
Vielleicht Daumen hoch, damit alles klar ist, wie Nero das gemacht hat und die Gladiatoren wussten, die Freiheit winkt.
Glaub mir, Sklavin, die Freiheit winkt!
Noch nicht, sie ist noch nicht frei. Die Hände sind nach hinten gefesselt, wahrscheinlich Kabelbinder.
Aber ich seh's genau, du hast verstanden.
Alles wird gut, Mädel!
Ja, nick nur kräftig, du hast Grund zur Freude.
Alles wird gut, bald bist du erlöst, aber übertreibe es nicht mit dem Nicken, sonst sehen es die Entführer im Rückspiegel und merken, dass etwas nicht stimmt.
Ich nehm lieber die flache Hand und senk sie. Bedeutung: Immer mit der Ruhe!
Siehst du, es ist gut, du beruhigst dich ...
Aber wo ist ein Gegenstand?
Auf dem Boden liegt nichts, was man benutzen könnte. Und an den Wänden hängen die Sachen der Handwerker. Eine Eisensäge, Bohrer, Zangen, Drahtschneider, Scheren, eine ölverschmierte Schürze. Andere Sachen sind Lederbeutel und Etuis, meist mit Klettverschluss. Wenn ich sie öffne, macht es ein Geräusch und ich verrate mich.
Aber ist es wirklich so laut? Sind die Fahrgeräusche nicht lauter?
Aber da liegt doch ein Eisenrohr.
Wenn ich mich aber bemüh, rutsch ich vielleicht. Wenn ich aufstehe und auf sie zugeh, sehen die mich im Rückspiegel. Vielleicht verlier ich das Geleichgewicht bei diesem Geschunkel und wumms lieg ich wieder flach wie Ebbe nach der Flut.
Ich habe aber keine Zeit mehr. Das ist das Problem. Ich muss jetzt reagieren, unbedingt und brauche jetzt einen harten Gegenstand, verflixt noch mal.
Das Heulen kommt immer näher. Wenn ich den Fahrer zum Anhalten bringe, habe ich gewonnen!
Moment, jetzt blüht euch etwa!
Ja, ich schaffe es trotz des Schaukelns aufzustehen und kann brüllen: „Halt, oder ich schlag zu!“
Ach, Mensch, bin ich blöd. Ich hab ja noch nichts zum Schlagen. Was jetzt?
Aber da falle ich über die Kante direkt auf den Beifahrer, das ist auch nicht gut!
Meine Füße hängen dem einen vor der Nase und vorm Gesicht, so dass ich ihm die Sicht versperre.
Und draußen schüttet es wie aus Eimern. Die Scheibenwischer kommen gar nicht nach. Die Sicht ist nicht frei. Ein Wasserfilm verdeckt die Scheiben.
Man sieht nicht genau, was vor einem passiert. Ist das nicht ein LKW, der auf uns zukommt?
Und der Idiot von Fahrer drückt jetzt noch voll aufs Pedal, statt auf die Bremse. Unter diesen Umständen ist es verdammt gefährlich so schnell zu fahren.
Das ist die reinste Kamikazifahrt!
Autsch, der greift mir brutal in die Seite.
Aber warte, dir tret ich ins Gesicht. Auch wenn du der Fahrer bist. Vielleicht bremst du dann endlich!
Tatsächlich, der tritt aber jetzt voll auf die Bremse, dieser Blödmann. Das Fahrzeug driftet nach links auf die andere Fahrbahn.
Zu spät!
Der dicke Brummer kommt auf uns zu. Er hupt. Er blinkt auf mit seinen großen Scheinwerfern, rauf und runter und …
Oh Mann oh Mann ...

19. Wenn Engel im Himmel singen...

Der Zusammenstoß mit dem Lkw auf der Gegenfahrbahn macht die Kühlerhaube platt, dass sie bis zur Windschutzscheibe eingedrückt wird. Scheibensplitter fliegen überall wie gefährliche Geschosse herum. Selbst Teile und Trümmer aus Eisen und Plastik, die die Karosserie zusammenhalten, purzeln durch die Gegend. Fahrer und Beifahrer sind sofort tot. Ernst hat Glück und prallt über den Sitz nach hinten auf den Boden, mit einem Knall, einer Wucht und einem Schmerz, dass er das Bewusstsein verliert.
Die Krankenschwester überlebt den Unfall unverletzt. Durch die Schräglage und der Verformung des Fahrzeugrahmen fällt sie vom Sitz Richtung Ernst. Sie entgeht nur einem Aufprall auf Ernst, indem es ihr gelingt, sich beim Fallen mit den Füßen voran an der Blechwand abzufangen und gleichzeitig die Beine zu spreizen. Der reglose Körper von Ernst liegt unversehrt zwischen ihren gespreizten Beinen.
Sie verharrt in dieser Haltun, die Schultern an den schiefen Karosserierahmen gelehnt. Ihr Rücken schmerzt in einem Punkt heftig, aber sie kann nicht zurückschauen. Ist es ein spitzer oder stumpfer Gegenstand, der sich in ihren Rücken bohrt und drückt? Sie verdreht die Augen, bis sie sieht, dass da zum Glück nichts ist, was den Schmerz verursacht. Sie hat nur Schmerzen.
Verkrampft, starr und steif liegt sie eine Weile in aufrechter Haltung über Ernst. Sie ist völlig gelähmt. Der Schock steckt ihr wie Blei in den Gliedern. Mit dem langsam zurückkehrenden Leben setzt ihr Verstand ein und sie denkt sofort an das Naheliegendste, an die Erstversorgung des Verletzten und will das tun, was unter diesen Umständen zu tun ist.
Aber - Erste Hilfe, Betreuung und medizinische Erstversorgung – wie ist das wieder?
Es ist lange her, dass sie in einer solchen Notsituation professionell gehandelt hat, muss sie sich eingestehen. Wird schon werden, das Wissen kommt mit dem Tun. Darauf musste sie zunächst vertrauen.
Zuerst fühlte sie mit dem Daumen den Puls von Ernst: noch intakt.
Das Gesicht war übersät von schrecklichen Platzwunden verschiedener Größe. Hämatome! Sein Atem rasselte wie ein Sägewerk, aber sie hatte weder ein Stethoskop noch eine Sauerstoffmaske zur Hand. Sie kannte die Fachbegriffe, erkannte die Symptome, wusste, welche Werkzeuge es gab, aber konnte nichts tun. Ihr waren die Hände gebunden. Ein unangenehmes Gefühl.
In der Ferne der Ton einer Sirene. Sie atmete durch. Gerade noch rechtzeitig kam Hilfe. Was konnte sie jetzt noch tun? Wie helfen? Alles vorbereiten, was man tun muss, wenn ein Notarzt im Anzug war.
Vielleicht erst einmal für frische Luft sorgen! Bewegung für den Verletzten! Auch für sich selbst.
Nicht vergessen, die Erstversorgung für Sanitäter und Notarzt, so gut wie möglich vorbereiten: Türen öffnen, freueb Zugang zum Patienten schaffen ...
Sie bewegt sich zur klemmenden Tür, die trotz Drücken blockiert ist. In der fast waagrechten Lage und im schrägen Raum ist sie sehr eingeengt. Ihr bleibt nichts anderes übrig, als die Tür mit den Füßen aufzubrechen. So heftig gegen die Tür treten, dass sie aufspringt. Das geht nicht ohne Lärm. Blech kann ganz schön laut sein!
Während sie zur Tat schreitet, hält sie sich die Ohren zu.
Vorsichtig schlüpft sie aus dem Bus, mit dem Hintern voran, spürt den Boden unter ihren Füßen, dreht sich um und langt in den Bus hinein. Sie nimmt die Decke von der Sitzbank und legt sie vor dem Bus auf den Boden. Dann robbt sie zu Ernst zurück, vorsichtig, um sich nicht an den tausend kleinen Splittern zu verletzen. Sie packt Ernst von hinten, mit den Händen unter dem Arm und zieht ihn vorsichtig zur Tür. Sie ist die Erste, die aus dem Bus kriecht. Dann zieht sie den schweren Körper heraus und legt ihn auf die Decke am Boden.
Zum Glück hat der Regen aufgehört, es tröpfelt nur noch.
Ernst hat die Augen geschlossen. Sie beugt sich ihm und legt ihr Ohr an seine Brust, um seinen Herzschlag zu hören. Aber in dem Lärm um sie herum, ist sie sich nicht sicher, ob sie etwas gehört hat. Sie fühlt den Puls an seinem Hals und spürt, wie die Aorta unter ihren Fingern kräftig schlägt. Das ist beruhigend. Da ist noch viel Leben drin. Sie hebt die Lider und nähert sich den Pupillen, die ziemlich verengt und leblos sind.
Mensch, was bedeutet das?
Ein komatöser Zustand!
Sie überlegt, was zu tun ist. Ein Verbandskasten? Der Bus müsste doch einen haben. Aber wo? Vorne oder hinten, unter der Sitzbank, mit einem Gummiband befestigt?
Wieder hört sie schrille Signale.
Ein Krankenwagen rast heran, ein Mann springt vom Beifahrersitz, er trägt eine leuchtend rote Jacke. Ihm folgt auf der Fahrerseite ein anderer, er trägt eine leuchtend grüne Jacke und hält blinkende Warnlichter in Hand, mit denen er die Unfallstelle absichert.
Der erste ist inzwischen zum Heck des Rot-Kreuz-Busses geeilt, hat die Heckklappe geöffnet, ist in das Fahrzeug gesprungen und schließlich mit einem Rollwagen herausgekommen, mit dem er zu Ernst und der Krankenschwester fährt.
Die Schiebetür des Busses öffnet sich, ein weiß gekleideter Arzt springt heraus, gefolgt von zwei Sanitätern, die mit einem tragbaren Beatmungsgerät bewehrt sind, das sie Ernst über das Gesicht stülpen und am Ohr hinten fixieren, damit es durch die Fahrbewegung nicht verrutscht. Der Arzt holt ein Stethoskop hervor und hält es Ernst, dessen Hemd zerrissen ist, an die nackte Brust.
Es dauert einen Moment, bis er ein zufriedenes Gesicht macht.
Inzwischen spürt der Verunglückte, zerzaust und zerwühlt, zerkratzt und verwundet, den warmen Körper eines Menschen, der ihn umarmt, das beruhigende Streicheln einer Hand über seine erhitzte Stirn, den warmen Atem, der wie ein sanfter Windhauch aus seinem Mund in sein Gesicht weht. Er öffnet die Augen und blickt in ein Engelsgesicht. Die Muskeln entspannen sich, der Schmerz lässt nach, er bettet seinen Kopf in die Arme des Engels, liegt entspannt da und lächelt das Wesen an.
Er hat immer gewusst, dass es einen Gott gibt und dass er in den Himmel kommen wird. Aber dass es so schön sein würde, dass er die Berührung eines anderen Wesens als so liebevoll, warmherzig und herzerwärmend erleben würde, wo er doch in seinem irdischen Dasein weiß Gott nicht mit körperlicher Zuneigung und Zärtlichkeit verwöhnt worden ist, das hätte er nicht im Geringsten geahnt.
Aber Engel.
Halt!
Vor lauter Glück wird er wieder ohnmächtig. Halbohnmächtig. Er will gar nicht aufwachen, so wohl fühlt er sich.
Irgendwann muss auch der größte Held selbstkritisch werden. Sicher, seine Heldentat war nicht wie im Bilderbuch verlaufen, aber er hatte Heldenmut bewiesen. Schließlich war er es, der die Bösewichte zur Strecke gebracht hatte. Zwar mit viel Lärm, Blut und gebrochenen Rippen. Aber das Ziel war erreicht - und nur das zählte.
Weitere Heldentaten sollten folgen!
In Berlin und mit weniger Materialverschleiß, dafür mit mehr Worten, das wäre gewiss! Ob seine Partei ihn wegen dieser Heldentat als Kandidaten aufstellen wird? Wenn ja, wird man noch viel von ihm hören. Das ist gewiss!
Er hat bewiesen, dass etwas in ihm steckt!
Im Moment liegt er wie tot auf dem Asphalt - keine Sorge, die Unfallstelle ist abgesichert – dafür sorgen Männer in knallroten und knallgrünen Jacken, weißgekleidete Sanitäter und grell-blinkende Rettungswagen mit rotierendes Blaulicht. Ein Polizeiwagen und ein blauer Bus des THW komplettieren das Sicherheitsszenario.
Dann wird der Patient in den Rettungswagen geschoben. Ein Bild der Hoffnung.
Die Krankenschwester muss sich kurz am Rahmen des ramponierten Transporters abstützen. Sie keucht, spürt die ganze Aufregung und fühlt sich so schwach, dass sie sich gegen das Blech lehnt. Sie bekommt kaum noch Luft.
Langsam fährt der Bus an, ganz vorsichtig, so dass man durch die noch offene Tür sehen kann, wie Ernst eine Druckmanschette um den Oberarm gelegt und ein Blutzuckersensor auf einen Zeigefinger gesetzt wird, bevor sie die Tür schließt. Der Bus fährt in einem Bogen los und als er beschleunigt, ertönt wieder das rot-blaue Martinshorn.
Um sie herum wuseln nun viele Männer und Frauen. Leichen werden aus dem Wagen gezerrt, sie müssen freigelegt werden. Dazu sprühen Funken aus einer Flex, Hämmer verbiegen Blech.
Plötzlich liegt ein Toter zu ihren Füßen. Man hat ihn absichtslos hier abgestellt.
Es ist Bully.
Sein Kopf ist sehr verrenkt, fast nicht mehr dran, jedenfalls sehr weit nach links gedreht. Die Halswirbelsäule scheint völlig überstreckt zu sein. Er hat die Augen geöffnet und einen wirren, toten Blick mit Augäpfeln, die seitlich ganz nach oben gewandert sind, als wollten sie aus den Augenhöhlen fliehen.
Der Arzt dreht ihn vom Rücken auf den Bauch.
Sie sieht, dass sein Rücken schwer verletzt ist, wahrscheinlich ist die Wirbelsäule gebrochen. Arme, Knöchel und Handgelenke sind bis zum Äußersten gebeugt, verrenkt und verschoben. Mehrere Körperteile sind plattgedrückt. Überall sieht man Rot, Blut und herausquellendes Fleisch.
Angewidert schaut sie auf das Gesicht, das im Todeskampf zu einer bösen Fratze mit herausgestreckter Zunge verzerrt ist.
Sie schließt die Augen. Sie spürt Erlösung. Aber keine Genugtuung.
Dazu müsste ein anderer hier zu ihren Füssen liegen. Müsste leiden, wie sie gelitten hat. Das war doch nur ein frommer Wunsch, oder?

Pentzw
Kalliope
Beiträge: 950
Registriert: 11.04.2011, 19:59

F. Tage später

Beitragvon Pentzw » 13.06.2021, 17:15

Kapitel 20 und 21 nicht besonders relevant für den Ablauf, im E-Book nachlesbar

Pentzw
Kalliope
Beiträge: 950
Registriert: 11.04.2011, 19:59

22. Lieber rächen als klagen ...

Beitragvon Pentzw » 15.06.2021, 13:50

Die Besucherin schleppt sich in den Büroraum, als hätte sie Bleiklumpen an den Schuhen. Die Kleider hängen locker an ihr, hier ein Knopf von der Bluse abgerissen, dort ein anderer in den falschen Haken gesteckt. Sie schlürft mit den Füßen, als könne sie sie vor Erschöpfung kaum heben. Dazu der gebeugte Rücken, auf dem zwei Zentner Betonsäcke lasten würden. Ein zu starkes Parfüm raubt einem den Atem.
Sie wirkte so verloren, als frage sie sich, was sie hier zu suchen habe.
Rasch erhob sich der Kriminalbeamte, ging um seinen großen Schreibtisch herum, stellte sich hinter sie und nahm ihr den Mantel ab. Er bat sie, Platz zu nehmen und angesichts ihrer steifen, abgehackten und unsicheren Bewegungen rückte er ihr den Stuhl aufmerksam zurecht. Sie plumpste darauf.
Ein Häufchen Elend.
Ein paar rote Kratzer auf der rechten Stirn. Die Haare stehen ab wie eine Krone. Unkontrolliert wandern die Hände mal hierhin, mal dorthin. Am Handgelenk eine fleischige, rosa-rote Schürfwunde, die an eine Fessel erinnert. Die Augen über den violett leuchtenden Krähenfüßen flackern unstet. Die Stirn ist in Falten gelegt.
Mit einem plötzlichen Ruck verschränkt sie die Finger wie zum Gebet und legt sie auf den Tisch.
Der Kriminalbeamte deutet das als Aufforderung, das Gespräch zu beginnen. Nur weiß er noch nicht, wie. Er ist befangen, kann sich noch nicht von der Peinlichkeit ihres Anblicks lösen.
Plötzlich kommt ihn eine Idee. Er muss sich vorher räuspern, als er sagt: „Möchten Sie einen Kaffee?“ Diese Ausflucht in ein konventionelles Handeln, war gut. Damit vermeidet er es, mit der Tür ins Haus zu fallen und gewinnt Zeit. Es ist klar, dass man mit diesem zerbrechlichen Wesen sehr vorsichtig umgehen muss.
Während der Kriminalbeamte alle Utensilien für den Kaffee herbeischafft, hat er Zeit, sich eine Strategie für das kommende Gespräch zu überlegen. Er tappt völlig im Dunkeln.
Der Anblick dieses Häufchens Elend scheint zu beweisen: Sie ist keine Täterin. Dazu ist sie schlecht weggekommen und zu sehr die Leidtragende der ganzen Unternehmung. Bei den Familienmitglieder dagegen, dem Arzt, seinem eigenartiger Bruder Ernst und dem Neffen, dem Polizisten, finden sich kaum körperliche Spuren der Entführung. Außer den oberflächlichen roten Striemen am Hals des Arztes ist das alles.
Aber sie hier. Allein psychisch. Soweit man das sagen kann. Nein, wirklich, so wie diese Frau auf ihn wirkt, muss man sagen: Es hat sie bis ins Mark hinein getroffen, was da in der letzten Woche vonstatten gegangen ist.
Aber nach einem Schluck kommt er zu dem Schluss, dass die Ermittlungen weitergehen müssen. Sonst müsste er diese Person erneut vorladen. Er hat nicht beliebig Zeit.
„Ich muss Ihnen ein paar Fragen zur Entführung stellen. Sind Sie damit einverstanden?“ Vorsichtiger geht es kaum.
Sie reagiert nicht, als wäre sie von einer dicken Mauer umgehen. Ist die Frage überhaupt zu ihr durchgedrungen? Ihre Finger krallen sich krampfhaft um den Henkel der Tasse und sind schweißnass. Ihr Kopf schwankt leicht.
Gleichgewichtsstörungen? Oder von den Tabletten, den Beruhigungs- oder Schmerzmitteln?
„Ich verstehe, dass es Ihnen nach dem, was Sie durchgemacht haben, schwerfällt, meine Fragen zu beantworten, aber leider muss es sein. Ich muss ermitteln. Ich hoffe, Sie verstehen? ...“
Das war jetzt ein taktischer Fehler: Mit „ich“ zu sprechen. Es ist immer besser, das unpersönliche Pronomen „man“ zu verwenden. Das klang nach Sachzwang. Und das war es hier auch, könnte man sagen.
In Wirklichkeit wusste er überhaupt nicht, in welche Richtung seine Fragen gehen sollten. Aber das war ein anderes Problem. In dem er allgemein formulierte, hoffte er wenigstens Stichworte zu erhalten, auf die er sich beziehen und an die er anknüpfen konnte.
Woher kamen die Verbrecher? Wie wurden sie von ihnen entdeckt? Sackelzement, irgendetwas in dieser Richtung.
Er atmet auf, als er endlich eine zaghafte Stimme vernimmt, die ihn etwas fragt, wenn auch nur ganz allgemein. Die Frage deutet an, dass sie nur gestellt wurde, damit die Fragende die bedrückende Stille, die auf ihr lastet, etwas auflockern kann.
„Wie ist der Stand der Ermittlungen?“
Was denn genau sagen?
„Wir tappen ziemlich im Dunkeln, muss ich gestehen.“
Er wiederholt sich sogar: "Ja, wir tappen noch ziemlich im Dunkeln, muss ich gestehen."
Soll er seine Vermutung einer Verschwörung noch andeuten?
"Aber alles deutet darauf hin, dass es sich um eine geplante Tat, ein ausgeheckter Komplott gehandelt haben muss."
In dieser Aussage schwingt Zuversicht mit, mehr noch, die Gewissheit, dass der Ermittler bereits belastende Beweise in der Hand hält. Doch dem ist nicht so.
Der Kriminalbeamte beginnt wieder zu zweifeln, ob das nicht sein zweiter taktischer Fehler war.
Zu spät.
Schließlich hat er keine Namen von Personen genannt, zum Beispiel den Arzt, den Verkehrspolizisten, den verrückten Bruder. Außerdem könnte es ja sein, dass unbekannte Dritte im Hintergrund die Fäden gezogen haben. Aber sehr unwahrscheinlich!
Das war wieder ein Versuch der Selbstbeschwichtung gewesen, musste er sich eingestehen.
Aber auch die Krankenschwester selbst könnte doch dahinter stecken.
Ihre Verletzungen, die dagegen sprachen?
Na ja, vielleicht war ihre selbst geplante Entführung aus dem Ruder gelaufen und sie hatte ungeplant einiges abbekommen.
Wer weiß?
Alles ist möglich!
'Mensch, du bist Profi, da musst du doch auf alles vorbereitet sein!'
Die Krankenschwester starrt aus dem Fenster, als wäre sie nicht da. An ihrem Blick konnte man kaum erkennen, ob sie nachdachte, ob sie etwas beschäftigte, ob überhaupt etwas in ihr vorging. Genauso gut konnte sie an gar nichts denken, so starr war die Gesichtsmaske.
Doch plötzlich bewegte sich etwas in ihrem Gesicht, ja, sie begann offensichtlich nachzudenken. Ihre Augen wurden schmaler. Es schien, als versuche sie nachzuspüren, was ihr verloren gegangen war. Hoffentlich dachte sie über das Geschehene nach.
Sie dachte in der Tat nach, aber über etwas, von dem die Vermutungen des Kriminalbeamten meilenweit entfernt waren. Um Rache kreisten ihre Gedanken. Nur darum.
'Wie kann ich mich rächen? Rächen. Rächen.'
Endlich fiel ihr Blick auf ihr Gegenüber.
„Ja!“, sagt sie. „Diese Entführung könnte ein abgekartetes Spiel gewesen sein. Dieser Ernst hat sich so merkwürdig verhalten.“
Der Polizist beugt sich vor. Er ist gespannt wie ein Flitzebogen. Jetzt kommt etwas, endlich wird es heiß.
„Wie?“
Zuerst kommt nichts. Er muss sie anscheinend anstupsen, ermutigen, also nickt er jetzt übertrieben. Immer wieder. Er sagt jetzt nichts wie zum Beispiel: „Was, sagen Sie schon!“ Das wäre kontraproduktiv.
Tatsächlich redet jetzt die Schwester von sich aus.
„Als wäre er ein Held, ein Retter, ein Lebensretter."
„Was wollen Sie damit andeuten?“ Es kommt verzögert, er will sie ja nicht gleich entmutigen, da sie schon einmal angefangen hat, überhaupt zu reden.
Es kommt die langsam gesprochene, aber sehr bestimmt klingende Antwort: „Der ist nicht normal! Größenwahnsinnig ...“
Dann erstirbt ihre Redefreudigkeit wieder und endet mit einem stummen Blick aus dem Fenster, über die grauen Haare des Beamten hinweg.
Natürlich waren sie und Ernst sich inzwischen näher gekommen. Sie hatten ein fast freundschaftliches Verhältnis. Sie hatte sich auch nach dem Unfall weiter pflegerisch um ihn gekümmert, der durch schwere Schürfwunden und Prellungen verletzt und geschwächt war. Sie besuchte ihn regelmäßig an seinem Krankenbett in dem Krankenhaus, in dem sie arbeitete. Sie pflegte also eine lose Verbindung zu ihm. Und mittlerweile besuchte er sie nun regelmäßig in ihrem Schwesternwohnheim, das dem Krankenhaus angeschlossen war und nicht nur, wenn zur medizinischen Nachbehandlung dorthin musste.
Warum sie sich auf ihn einließ, weiß sie nicht genau. Bestimmt wieder ihr Helfersyndrom. Denn auch ihr ging es schlecht. Auch sie hätte Ruhe, Erholung und Schonung gebraucht.
Aber sie fühlt sich nicht als Verräterin, wenn sie sagt, dass Ernst etwas seltsam, labil und psychisch krank ist. Schließlich gehört er zur Familie jenes Mannes, der ihr so übel mitgespielt hat, jenes Chefarztes, der sich ihrem Schicksal gegenüber so gleichgültig, gefühllos und tatenlos gezeigt hat. Die bestialischen Vergewaltigungen, Demütigungen und Erniedrigungen, denen sie ausgesetzt war, hatten ihn völlig kalt gelassen.
Seine Gleichgültigkeit hat sie bis heute nicht verwunden. Im Gegenteil, das Geschehene brennt wie eine infektiöse Wunde.
Und der Arzt musste für all das büßen, das wurde ihr immer klarer – und wenn es dabei seinen Bruder traf, diesen Ernst, dann traf es auch ihn. Also war es richtig, dass sie ihn verriet, dass sie ihn schlecht machte, wenn sie behauptete, Ernst sei nicht normal. Es stimmte schließlich auch.
Der Polizist hatte sich inzwischen zurückgelehnt und sich seine eigenen Gedanken gemacht.
Er meinte, die Behauptung, Ernst sei nicht ganz richtig im Kopf, passe trotzdem ganz gut in seine Version, dass alles geplant gewesen sei. Auch wenn die Entführung im Grunde genommen ein einziges Desaster gewesen ist. Natürlich gingen sie vom Gegenteil aus. Dass alles klappen würde.
Aber recht besehen, konnte das von vornherein nicht gutgehen. Mit diesen Stümpern von Entführern, diesen Drogensüchtigen und Kleinkriminellen wie sie im Buche stehen.
Verdächtig war doch, dass dieser Ernst, den er bislang nur ein einziges Mal erlebt hatte, trotz der desaströsen Begebenheiten ziemlich fröhlich, geradezu euphorisch wirkte. Weil der Plan, den sie unter sich Brüdern ausgeheckt hatten, aufgegangen war? Zum Ende. Letztendlich. Und vor allem, weil er jetzt bald nach Berlin kommen konnte?! Das war es doch, was diesen Ernst antrieb, diese politische Karriere in Berlin.
War die Entführung die Voraussetzung dafür?
Damit hätten die Brüderbande ihr Ziel erreicht.
Hm?
Aber! Großes Aber!! Sehr großes!!!

Es klingelt.
„Entschuldigung!“
Während er spricht, blickt er direkt in die Augen der Krankenschwester und sie blickt zurück. Wahrscheinlich dreht sich das Gespräch um sie. Ja, sie glaubt wohl zu wissen, wer der Anrufer ist.
Das ist empörend, sehr empörend.
Der Kriminalbeamte schaut jetzt ein paar Mal ganz schüchtern in die eine oder andere Ecke, was ihre Vermutung bestätigt.
Ihr Zorn, ihr Hass, ihre Rachsucht wachsen.
Der Beamte legt auf, die Krankenschwester sagt: „Ich glaube zu wissen, wovon Sie gesprochen haben.“
Er schaut sie einen Moment fragend an, antwortet aber nicht.
Jetzt hat sie Sicherheit.
„Habe ich recht?“
„Wie meinen Sie?“
Was sie noch mehr ärgert, dass der Beamte, obwohl er genau weiß, was sie andeutet, Mein-Name-ist-Hase-ich-weiß-von-nichts spielt.
„Sie haben über ein Video gesprochen.“
Zögernd stimmt er zu. Einerseits ist es ihm hochnotpeinlich, andererseits weiß er zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht, was es mit ihr gemacht hat. Er hätte besser getan zu schweigen.
Damit war es klar für die Krankenschwester. Sie platz vor Ärger und Wut. Die Finger ihrer Hand krallen sich in das Fleisch der Handinnenfläche, ihre Handknochen sind leichenblass. 'Ich muss mich rächen, rächen, an ihm rächen...'

Pentzw
Kalliope
Beiträge: 950
Registriert: 11.04.2011, 19:59

23. Ein Besuch öffnet Schleusen

Beitragvon Pentzw » 18.06.2021, 10:23

Eines Tages stand Besuch vor der Tür.
„Elvira, das ist aber ein Überraschung.“
Hildes Kollegin und ehemalige Schwesternschülerin hielt ein Glas Sekt und einen Blumenstrauß in Händen.
„Zu Ostern!“
„Wie bitte?“
„Na, auf deine Wiederauferstehung.“
Es dauerte einen Moment, bis Hilde den Witz verstand.
„Danke!“ Das Geschenk und der Besuch waren sehr nett, erfreulich und heiter. Es versprach ein gemütlicher, tröstlicher Nachmittag zu werden.
Gerührt, erfreut über die Anteilnahme ließ sie sie herein.
„Nimm Platz!“
Sie holte eine Vase, in die sie den Orchideenstrauß stellte. Dann ging sie zum Küchenbuffet, um Sektgläser zu holen. Während sie damit beschäftigt war, ertönte bereits ein Wortschwall der sichtlich erregten Besucherin: „Diese Entführung. Wie musst du dich gefühlt haben?! Scheußlich!“
Das traf den Nagel auf den Kopf und Hilde war betroffen: „Ich kann dir sagen, das wünsche ich meinem ärgsten Feind nicht. Schlimmer als jeder Sonntagabendkrimi."
Sie brachte gerade die Champagnergläser heran, als die andere schon wieder losplapperte und dabei lachte: „Das glaube ich dir aufs Wort. Ja, diese Krimis im Fernsehen sind nur halb so schlimm wie die grausige Wirklichkeit, nicht wahr? Die hängen mir auch schon zum Hals raus.“
Es klang ungefähr so: Ich brauche einen Adrenalin-Kick! Deshalb bin ich gekommen. Lass dich bitte nicht lange bitten, erzähl schon!
„Allerdings!“
Hilde stellte die beiden langstieligen Gläser in die Mitte des Tisches, um dem herum sich eine Zweipersonen-Couch und ein kleiner Sessel reihte. Der Pfopfen wurde entkorkt und silbrig schäumende Flüssigkeit sprudelte heraus. Rasch wurde eingeschenkt.
"Auf dich, Hilde! Und darauf, dass du heil aus dem Schlamassel herausgekommen bist!"
"Danke, das war wirklich knapp, kann ich dir sagen. Das hätte ganz schön ins Auge gehen können."
„Verstehe, verstehe!“
Sie verschluckte beim Sprachen beinahe die Worte, so aufgeregt war sie.
„Aber zuerst stoßen wir mal an!“
„Prost!“
„Prost!“
Sie tranken.
Kaum hatte die andere das Glas abgesetzt, schien die andere vor Neugierde zu platzen: „Stimmt das wirklich? Du hattest also auch ein Verhältnis mit dem entführten Arzt? Stimmt's?“
Kurze Pause.
„Ihr wurdet bei eurem Techtelmechtel im Auto erwischt, auf frischer Tat sozusagen, oh Gott wie aufregend?“ Damit war der eigentliche Zweck des Besuches klar. Es war leicht möglich, dass der Gast sogar im Auftrag eines Teils der Schwesternschaft des Klinikums abgesandt worden war, um sie auszuhorchen.
Hilde blieb sich wie immer treu, sie war heute nicht nur einsilbig, weil es ihre Art war. Sie machte den Mund nicht auf, weil sie die Fragen für indiskret empfand. Die andere aber redete und redete und merkte nicht, dass Hildes Schweigen den Wunsch ausdrückte, über dieses Thema zu schweigen. Schließlich kannte sie sie nicht anders, als dass man Hilde fast jedes Wort aus dem Mund ziehen musste. Hilde hatte sich offensichtlich kein bisschen verändert und wenn es auch diesmal so viel zu erzählen gab, so musste sie doch fast zum Reden wenn nicht gezwungen, so zumindest überredet werden.
"Du bist immer noch so zurückhaltend, Hilde. Aber der Arzt muss doch..."
Genau diese Eigenschaft wurde ihr nun von der anderen vorgeworfen, da sie nicht bereit war, sich zu öffnen. Sie solle endlich ein paar Dinge über ihre Beziehung zum Arzt offenbaren. Aber diese Erwartungshaltung machte alles nur noch schlimmer und bewirkte Verstocktheit. Kein Wunder, der Schock der Entführung saß ihr noch in den Knochen. Die Erinnerung an die schrecklichen Dinge raubte ihr noch immer den Schlaf.
„Hilde, hast du nicht Stein und Bein geschworen, nie mit einem Arzt in die Kiste zu steigen. Erinnerst du dich nicht mehr?“
Hilde erinnerte sich natürlich noch sehr gut.
Es war der letzte Tag ihrer Ausbildung. Zum letzten Mal gingen die befreundeten Schwesternschülerinnen in ihr geliebtes Stammcafé. Das war allen bewusst. Es herrschte eine merkwürdige Zurückhaltung und Stille. Es hieß Abschied nehmen von einer tollen Zeit.
Dann kam das Thema auf, wie die Realität der Schwesternberufes wohl aussehen würde: der Umgang mit den Patienten, die Abhängigkeit zur Verwaltung und vor allem das Verhältnis zu den unmittelbar vorgesetzten Ärzten.
Da Hilde sonst sehr wenig sprach, typisch für eine Landpomeranze, war ihre Offenheit, ihr Bekenntnis, der in einem Ausbruch von Ehrlichkeit glich, einmalig und sensationell gewesen. Heute war ihr nur noch peinlich.
"Niemals! Niemals würde ich mit einem Arzt, na ihr wisst schon!" Das erfolgte aus einem Impuls heraus, viel zu laut noch dazu. Die Schwestern um sie herum kicherten vernehmlich.
„Was meinst du damit, Hilde? Was sollen wir denn wissen?“
„Ich würde nie mit einem Arzt f...“
Jetzt kannte die Heiterkeit keine Grenzen mehr. Überall ertönte Gelächter. Sie erschrak über sich selbst. Aber sie meinte, was sie sagte.
Eine andere unterstützte sie mit den Worten: „Hilde hat Recht. Du weißt nie, ob ein Arzt es ernst meint oder dich für einen leckeren Schnäck hält, wenn er dich f... “
Hilde wurde rot. Ihre Mitschülerinnen machten sich oft einen Spaß daraus, in ihrer Gegenwart vulgäre Ausdrücke zu benutzen, um sie zu beschämen.
Aber jetzt nickte Hilde heftig und fügte hinzu: „Genau. Man weiß nie, was in so einem eingebildeten, geilen Affen vorgeht!“ Ihre Rede speiste sich natürlich aus den Erfahrungen ihrer Praktika.
Und wieder staunten alle und waren paff. Ohs und Ahs ertönen. So etwas aus dem Munde einer eisernen Jungfrau vom Lande zu hören ...
Aber was tut und sagt man nicht alles, wenn man jung, dumm und unerfahren ist. Zudem, es war am Ende eines Lebensabschnitt, dem Ende der Ausbildung und da war man nun einmal besonders sentimental.
Aber jetzt damit konfrontiert zu werden, ist sowieso nur noch blöd, peinlich, wenn nicht gar hundsgemein.
„Und wer ist es?“ Die andere ließ nicht locker. Wahrscheinlich verbarg sich hinter der Neugierde auch eine gehörige Portion Neid.
Aber Hilde schwieg.
„Lass mich raten?“ Jetzt schien sich eine bigotte Sumpfblume der Phantasie aufzutun.
„Der Chefarzt?“ Schweigen.
Es war anzunehmen, dass die Klatschtante sehr wohl Bescheid wusste.
„Was ist der noch einmal? Gynäkologe, Urologe, Kardiologe.“ Gekicher. Schweigen.
„Das macht doch einen Unterschied. Oder? Ich meine im Bett.“ Unterdrücktes Lachen. Schweigen.
„Ach komm, Hilde, sei doch nicht so. Spielverderberin. Ich will dir auch eine Geschichte erzählen, die mir mit einem Arzt passiert ist. Aber seinen Namen verrate ich nicht.“
Als ob das Hilde interessiert hätte.
„Es war vor zwei Jahren. Beim Betriebsausflug zum fünfzigjährigem Bestehen der Klinik. Als wir zur Veranstaltungshalle kamen, sind ein Arzt und ich noch drinnen sitzen geblieben, weil wir so vertieft ins Gespräch waren. Dann haben wir es hinten auf der breiten Rückbank getrieben. Und der Hammer war, als wir gerade fertig waren, rief der Busfahrer nach hinten: Seid Ihr endlich fertig? Ich habe euch lange genug zugehört. Ich bin 8 Stunden gefahren. Ich habe genug. Dann euer Geschrei! Lasst mich endlich schlafen. - Ob du's glaubst oder nicht, ich bin noch nie so schnell angezogen gewesem und losgesprungen. - Stell dir vor, der Busfahrer saß vorne auf dem Fahrersitz und hat alles mitgehört, wie wir es getrieben haben! - Er hat gelauscht! - Ähm. - Er war so höflich, dass er geduldig gewartet hat, bis wir fertig waren. - Das war nett von ihm! - Ha, ha!“
Hilde fand das weniger sensationell als langweilig und peinlich. Aber für die Erzählerin war es ein Ereignis, mit dem sie prahlte. Ihre Absichten waren zwar ehrenwert: Sie wollte mit ihrer Offenheit Hildes Anspannung lösen. Aber sie bewirkte genau das Gegenteil Die Zuhörerin war nun völlig erstarrt und blockiert.
Die nächste Bemerkung, so nett sie auch gemeint war, war nicht besser. „Na ja, es war kein Caprio, nicht so luxuriös wie bei dir natürlich. Eigentlich war es ziemlich unbequem. Ich hatte danach noch tagelang Kreuzschmerzen. Haha.“
Hildes Augen verengten sich zu Schlitzen.
„Ich will nicht sagen, dass das mit deinen Tortouren zu vergleichen ist...“
Da redete sie sich bereits um Kopf und Kragen.
Wenigstens hielt sie jetzt inne. Ein gutes Zeichen dafür, dass bei ihr noch nicht alles an Anstand und Feingefühl verloren gegangen war. Trotzdem lachte sie in Erinnerung versunken kurz auf. Vielleicht dachte sie nicht an die Kreuzschmerzen, sondern daran, wie sie von einem staunenden Voyeur beobachtet worden war.
Neben den schmalen Augen zeigte Hilde nun tiefe Falten zwischen den Brauen.
„Aber was soll's. Es war wunderschön, wirklich!“
Dieses „wunderschön“ konnte Hilde beileibe nicht nachvollziehen.
Und weiter ging's im Galopp, dass man befürchten musste, sie würde sich beim Sprechen die Zunge brechen.
„Als wir zurückkamen, war Schluss. Ich sag dir, der hat so getan, als ob ich gar nicht existierte. Seine Gattin hatte auf dem Busparkplatz auf ihn gewartet. Ich hab natürlich gemerkt, der hat Angst. Na ja, aus den Augen, aus dem Sinn. - So! Und jetzt, Hilde, jetzt kannst du mir auch ein bisschen was erzählen. Nur ein klitzekleines bisschen.“
Aber Hilde war, wie sie war. Sie sagte nichts mehr. Konnte wahrscheinlich auch nichts mehr, so bedrückt war sie geworden.
„Jeder Arzt hat sein Spezialgebiet, meist Körperöffnungen, denk an den Hals-Nasen-Ohren-Arzt. Oder den Urologen.“
Dabei verbarg die Fragerin ihren Mund hinter den Händen. Ihre Phantasie ließ sie mehrere Sekunden in dieser Haltung verharren, eine bemerkenswert lange Pause angesichts ihres Drängens und Plapperns.
Hildes Augen weiteten sich dagegen wieder ein wenig und sie murmelte: „Ich weiß gar nicht, was du von mir hören willst!“
Die dumme Quasselstrippe ahnte immer noch nicht, was sie mit ihrem Tun anrichtete und lächelte ihr breitestes Lachen: „Ach komm, du weißt schon, Hilde, sag schon!“
Hilde war im Allgemeinen kaum aus der Reserve zu locken, immer die Ruhe in Person und galt auf jeder Station, auf der sie eingesetzt war, als ruhender Pol, aber das war zu viel. Sie stand auf, zog sich das Sweatshirt über den Kopf, drehte sich um und kehrte der anderen den Rücken zu: „Siehst du, was hier ist? - Siehst du! - Und das hat mir kein Arzt zugefügt, kann ich dir flüstern!“
Zwei lange, schorfrote Striemen überzogen den Rücken.
„Ah, ja!“
Die andere war einiges gewohnt, aber dennoch schockiert.
„Und jetzt verlass mein Appartement! Aber auf der Stelle!“
Endlich hatte die Besucherin angesichts der dicken violetten, krustigen Striemen Hildes kapiert, was Sache war. Sie packte so schnell ihre sieben Sachen zusammen, um aus dem Zimmer zu stürzen, wie wahrscheinlich damals im Bus, als sie von dem Voyeur aufgescheucht worden ist. Nicht einmal zu einer Entschuldigung war sie fähig.
Es war die Höhe!
Hilde ahnte, welche Lawine ihre Entführung losgetreten hatte. Nach dieser Begegnung mit ihrer Kollegin war klar, dass ihr Ruf nicht nur ruiniert war, sondern man sich über sie lustig machte.
Sie galt nunmehr als Witzfigur.
Trotz ihres Martyriums.
Sie hörte Stimmen, die über sie lästerten: „Ausgerechnet die Hilde. Die, die am lautesten geschrien hat, treibt es am ungeniertesten mit einem Arzt. Und das seit Monaten, wenn nicht Jahren. - Da sieht man mal. Die am meisten schreien, sind die Schlimmsten!“
„Sagt man nicht: Stille Wasser sind tief!“
„Das sagt man wahrlich nicht umsonst!“
In solchen Reden steckte nicht nur Häme, Erbostsein und Neid. Das war Rufmord, wenn auch zu Recht. Ihr Image war definitiv beschädigt.
Aber das war allein seine Schuld.
Keineswegs hatte er Hoffnungen geweckt, keineswegs hatte er sie anfangs verführt, keineswegs so lange gebaggert und sich bemüht, dass er bei ihr gelandet wäre. Etwa weil sie als zäher Brocken gegolten hätte. Nein, keine Schmeicheleien, keine Bitten, keine Geschenke, keine Blicke, keine Einflüsterungen, Ermunterungen erfolgten, kein Jagdtrieb des Jägers in ihm trieb ihn, sie, das scheue Reh des Waldes zu erlegen.
Es war ganz anders.
Wer täglich mit dem Tod konfrontiert ist, sieht das Leben mit anderen Augen. Prinzipien, Schwüre und gute Vorsätze bleiben schnell auf der Strecke, in einem Beruf, in dem man tagtäglich miterlebt, wie Menschen von einer Minute auf die andere sterben, die in den Tagen und Wochen zuvor so liebenswert waren und trotz Schmerzen wie ein Stern voller Güte und Lebensfreude leuchteten. Da standen sie nun, sie, die Krankenschwester und er, der Arzt, die sich so einmütig um ihn bemüht hatten und wussten nicht mehr weiter. Sie sahen sich in die Augen und dachten, das Leben ist viel zu kurz, um etwas zu versäumen und fielen sich in die Arme. Und rissen sich die Kleider vom Leib, ohne zärtliche Gesten ...
Danach hatte sie sich peu-a-peu dieses Wolkenkuckucksheim an Wünschen und Hoffnungen aufgebaut.
Seine Frau werden zu können!
Wo sie doch keine Chancen hatte.
Das hatte er ihr schließlich im Keller schamlos ins Gesicht geschleudert. Und sein Verhalten deutlich genug bewiesen, was sie ihm wert war, nämlich null und nichts. Absolut nichts. Die Vergewaltiger hatten mit ihr machen können, was sie wollten, während er gleichgültig wegschaute, nur darauf bedacht, mit heilem Haar aus der Sache herauszukommen. Seiner Familie zuliebe. Und zu seinem eigenen.
Jedem ist sein Hemd am nächsten.
OH, HILDE, DU SAUBLÖDE GANS, DU!
Immer wieder wich ihr das Blut aus dem Kopf, bis sie schneeweiß war, wenn sie daran dachte. Ein anderes Mal fiel sie in ein tiefes Loch, in dem sich literweise Tränen sammelten, um sie zu ertränken.
HILDE, DU BIST DOCH KEIN HASENFUSS!
Ihre Hände ballten sich zu Fäusten.
Der Gedanke war unerträglich. Sich vorzustellen, was die Leute über sie redeten. Wie sie sich das Maul zerfransten.
„Ein Chefarzt erkort so eine Dummerchen von Krankenschwester zu seiner Mätresse. Diese bildet sich bald ein, sie würde von ihm zu seiner neuen Gattin erwählt werden. Dabei war der Mann schon glücklich verheiratet und stolzer Vater zweier wohlgeratener Kinder.“
Sie sieht jemanden abwinken und sagen: „Ach geh! Solche Geschichten kenne ich Dutzende. Obwohl sie gang jung gäbe sind. Es ist immer wieder erstaunlich, dass sie geschehen. Vor allem immer wieder unfassbar, dass es so dumme Gänse gibt.“
Man lachte über sie, spottete über sie, zog sich nach Strich und Faden durch den Kakao.
Aber bei ihr lag der Fall weit schlimmer. Sie war bekannt, dass sie sich entschieden dagegen ausgesprochen hat, mit einem Arzt ins Bett zu steigen. Sie hatte nicht nur ihr Wort gebrochen, sondern sich noch zum totalen Esel gemacht, als sie glaubte, dann vom hohen Herrn gnädigerweise noch geheiratet zu werden. Dass er ihr wegen Haus, Ehefrau und Kinder aufgab …
„Wie blöd kann man sein?“
Ja, sie hatte sich ihre Schande selbst zuzuschreiben und das zu Recht!
Hilde, du giltst nun auch als "Flittchen".
Das konnte sie nicht auf sich sitzen lassen.
Langsam kamen ihr Überlegungen, die ihren Schmerz besänftigten. Ihr Gesicht verzerrte sich zu einem ausdruckslosen Klumpen Fleisch. Oh, der Hass, der Hass saß tief, sehr tief.
WER SICH NICHT WEHRT, DER LEBT VERKEHRT!
Sie konnte es nicht auf sich sitzen lassen.
Sie hatte viele Ideen, was sie tun könnte, was sie tun würde … Sicher, dann würde sie sich nur noch tiefer in den Sumpf reiten ...
Und wenn schon, dann würde der Arzt endlich auch so richtig in Verruf geraten. Bislang galt er bestimmt bloß als toller Mann, der sich halt eine Gespielin gehalten hat. Das war ein durchaus akzeptables Verhalten. Für eine Führungskraft nahezu ein Muss. Alle hatten sie doch eine Freundin, vom einfachen Fabrikarbeiter angefangen, bis ....
Das war eine Frage der Lebensqualität heutzutage.
„Hurenbock", "Ehebrecher", "Ausbeuter von Abhängigen"...
Ihr starres Gesicht entspannt sich, die vielen Fältchen glätten sich, aber ein Grinsen entsteht in ihrem Gesicht, als sich ihre Lippen zu einem schmalen, dünnen Strich verkneifen.
Sie war fest entschlossen, über eine Leiche zu gehen, wenn es dazu einer Entscheidung bedurft hätte. Doch in Wirklichkeit wurde sie von ihrem Rachedurst überwältigt und weggefegt, ohne Widerstand zu leisten.
Der Damm bricht und eine Schwall roten Zornes ergießt sich über ihr Gesicht.
HILDE, DU WIRST DICH RÄCHEN, RÄCHEN! JA, DAS WIRST DU!
Hilde, bislang giltst du als stilles, graues Mauerblümchen. Aber sie täuschen sich alle in dich!
Hilde, du kannst auch anders!
Wirklich?
Doch!
Ob es ihr gelingen würde, der stillen, zurückhaltenden, geduldigen Hilde vom Lande - diesem kalten Menschen gehörig eine auszuwischen?

Pentzw
Kalliope
Beiträge: 950
Registriert: 11.04.2011, 19:59

24. Rufschädigung ist eine Kunst

Beitragvon Pentzw » 22.06.2021, 21:11

Hilde fürchtete sich vor der Begegnung mit dem Chefarzt.
Sie durfte sich nicht verraten. Ihre Gefühle verraten. Da sie so eine ehrliche Haut war, würde ihr das schwer fallen. Wahrscheinlich würde sie dauernd auf den Boden schauen, wenn sie sich begegneten. Das würde dem Arzt wieder das Gefühl geben, er habe sie in der Hand und stünde über den Dingen.
Sie hatte zwar den unbedingten Willen, ihm zu schaden, nur wie? Noch hatte sie keinen Plan. Wenn sie sich nur Einzelheiten vorstellte, merkte sie, wie sie die Angst davor lähmte. Sie konnte gar keine klaren Gedanken fassen.
Aber ihr Unterbewusstsein spielte bereits sein eigenes Spiel.
Sie würde ihm entfliehen, so bald sie sah, wie er ihr auflauerte, hier und dort, wo es sich nicht vermeiden ließ, sich aufzuhalten. Es könnten Dutzende von Orten sein. Aber immer wieder konnte sich ihm entwischen - bis er eines Tages vor ihr stand und sich vor ihr aufplusterte: Würde sie vor Angst schmelzen wie Schnee im Frühling, sich am Ende erweichen lassen, keine Rachepläne mehr zu schmieden und zu verfolgen? Weil, weil sie seinem Charme erlag?
Nein, seinem Charme - Charme, Liebreiz, Aura oder was auch immer würde sie bestimmt nicht unterliegen. Wenn überhaupt je! Ha, ha, ha. Wo denkst sie hin? Nicht dieser technokratische Doktor. Hatte er nie für sie gehabt. Ihre Beziehung hatte nur dazu gedient, besser die Einsamkeit zu ertragen.
Sie erinnerte sich, wie sie verzweifelt über den Tod gewesen war, über den Tod anderer Menschen, die sie behandelt und gemocht und sich darüber in seine Arme geworfen hatte, um der Todeskälte zu entfliehen. Schließlich, darüber waren sie sich näher gekommen und wie sollte man dies bezeichnen: Wenn man etwas aus Angst vor dem Tod tut? Todesangst-Liebe?
Eine gute Grundlage?
Fraglich!
Aber egal.
Höchste Zeit, zur Tat zu schreiten, ihn zu treffen und verletzen, zu schlagen, zu geißeln und zu quälen, wie er es mit ihr getan hatte. Möglichst heimlich, aus dem Verborgenen heraus, wo immer es möglich ist.
Sie fürchtete seine Macht, seine Autorität, die er als Chefarzt in der mächtigen Krankenhaushierarchie hatte. Aber konnte er ihr beruflich schaden?
Eher zu verneinen.
Selbst der mächtigste Chef musste Gründe haben, um Personal zu kündigen. Immerhin gab es einen Betriebsrat. Schließlich waren sie eine öffentliche Einrichtung, eine Körperschaft des öffentlichen Rechts oder wie das hieß.
Er konnte nicht einfach etwas gegen eine unliebsame Kollegin unternehmen. Dazu bräuchte er Komplizen, Helfershelfer, Spitzel, die sich auf eine Hetzkampagne gegen sie einließen und ihn unterstützten. Sie mussten ihm Beweise liefern, Indizien, Fehlverhalten bezeugen und so weiter ...
Der Wind weht nicht von dieser Seite.
Und doch!
Sie dachte an die kürzliche Entlassung ihrer Kollegin Mächthilde. Eine Jüngere hatte ihren Platz eingenommen. Von einem Tag auf den anderen.
Alle wunderten sich. Aber niemand konnte es sich erklären.
Der Fall warf ein Schlaglicht auf die undurchsichtige Verwaltung des Krankenhauses. Wie diese Maschinerie funktionierte, war ein Buch mit sieben Siegeln. Die Einstellung von Personal schien ein Glücksspiel zu sein. Dahinter steckte natürlich Vetternwirtschaft. Aber niemand wusste, wie die Seilschaften funktionierten. Niemand von denen, die sie kannte. Schließlich, wer war sie auch? Ein kleines Rädchen nur.
Dann überkam sie wieder der Wunsch nach Rache.
Aber sie merkte, dass sie noch keinen Schritt weitergekommen war. Dass sie nur der Gedanken allein befriedigte, war nicht genug. Nur zu sehen, wie sie ihm gegenüber stand und merkte, wie er unter ihren Schlägen litt ... Ja, er sollte genauso leiden wie sie. Ihm sollte es genau so schlecht ergehen wie ihr in diesem Haus … in diesem … mit diesen Schweinen ...
Sie schloss die Augen vor Schmerz.

Zunächst musste sie schauen, ihm um jeden Preis aus dem Weg zu gehen, bevor sie endlich zu Potte kam mit einem Plan.
Nur wie?
Eine Begegnung konnte im Prinzip nur in der Mittagszeit stattfinden. Beim Mittagessen, zum Abendbrot. Um diese Zeit hielten sich in der Kantine immer viele Leute auf. Er konnte sich nicht einfach an ihren Tisch setzen, sie einladen oder ein Gespräch beginnen, das nur ihn und sie betraf. Nein, vor fremden Leuten über Probleme zu sprechen, würde er nicht wagen. Dazu kannte sie seine steife, verschlossene Art zu gut.
Außerdem ziemt sich das für einen Chefarzt? Nein, die hochgestellten Damen und Herren blieben lieber unter sich. Das sollte ihr recht sein.
Andererseits war es auch für sie nicht leicht, irgendwo im Speisesaal mit Hunderten von Besuchern jemanden zu finden, den sie ansprechen konnte. Im Falle, dass nicht, konnte sie immerhin das tun: Setz dich immer mindesten zwei Stühle neben einem anderen hin. Halte Kopf und Oberkörper immer in Richtung jemanden, so dass der Eindruck entsteht, man säße mit Freunden und Bekannten an einem Tisch, nur nicht allein. Das Wichtigste ist, dass es so scheint, als wärst du nicht alleine. Das heißt, immer wieder lächeln, hin und wieder nicken, versuchen, egal mit wem, auf Teufel komm raus ein paar Worte zu wechseln und ihn irgendwie in ein Gespräch zu verwickeln.

Doch plötzlich war es erstaunlich einfach, sich anderen anzuschließen. Die Entführung war in aller Munde und seit Wochen Gesprächsthema Nummer eins. Und Hilde war eine Hauptfiguren dieser ominösen, skandalträchtigen Entführung!
"Ach Hilde, schön, dass du da bist. Wir sind gerade bei der Frage, warum man euch entführt hat? Also, wie sind die Gauner darauf gekommen, dass man von euch, vielmehr von unserem Chefarzt so viel Geld erpressen kann? Man munkelt immerhin von einer Million Euro. So viel kann doch kaum jemand aufbringen.“
„Ich habe gehört, dass ihr in einem Cabrio entführt worden seid. Wer so ein Auto fährt, der muss ja auch Geld haben wie Heu!“
„Moment!“, entgegnete ein anderer. „Auch wenn jemand einen Mercedes Caprio fährt, ist er noch lange kein Millionär. Viele können sich zwar ein Luxusauto leisten, wohnen aber zur Miete und führen ansonsten ein ganz normales, bescheidenes Leben. Mit wenig ausgehen, kaum teuer essen gehen, höchsten alle paar Jahre Urlaub machen, mehr nicht. Sie beziehen kaum mehr als ein knapp überdurchschnittliches Einkommen. Also, ich frage mich: Wie kommen die Entführer auf die Idee, den Arzt und seine Familie zu erpressen?"
"Na ja, der Arzt schwimmt wirklich in Geld. Ich weiß das. Ihr könnte euch davon ganz leicht ein Bild machen, wenn ihr hört, was ich euch jetzt erzähle.“
Hilde senkt ihre Stimme zum Flüstern. Die anderen rücken ihre Stühle näher an den Tisch. Doch bevor sie spricht, schaut sie sich nach rechts und links um. Sitzen irgendwo unliebsame Zuhörer? Oder schleichen sich heimlich neue Zuhörer an, um zu lauschen, was sie so Wichtiges zu verkünden hat. Freilich, je mehr Zuhörer, vor allem unbekannte, desto besser.
„Also, es fing damit an, dass er paar Tausend Euro in bar einstecken gehabt hat. Wirklich! Volle Hunderter. In seiner Hosentasche. So viel Geld hat der mit sich rumgetragen! Das hätte ich auch nicht für möglich gehalten."
"Nicht wahr?"
"Oder es kann noch viel mehr gewesen sein. Auf jeden Fall eine ganze Menge Geld. Es hat förmlich aus den Hosentaschen gequollen."
„So muss es gewesen sein, das glaube ich dir aufs Wort!“
„Das haben halt auch die Gauner bemerkt und sich gedacht: Wer so viel in der Tasche mit sich herumträgt, der hat bestimmt noch viel mehr auf der Bank.“
„Logo!“
"Ich kann euch sagen, woher das stammte, das viele Geld. Aber bitte nicht an die große Glocke hängen.“
"Wir sind verschwiegen wie ein Grab, Hilde, das weißt du doch!"
Der Kreis schließt sich, einige rücken naher an die Tischplatte heran und stecken wie eine verschworene Gesellschaft die Köpfe zusammen. Von weitem sieht es aus: Da wird eine sehr heiße Suppe gekocht. Am wenigsten wollte sich da der Arzt die Finger verbrennen, wenn er Hilde als Köchin ausmachte.
Nun, mit diesen drei oder vier Leuten kann man so reden. Bei den Personen, die ihr gestern zugehört haben, hätte das wie Verleumdung geklungen. Sie musste aufpassen, wie sie das Essen antrug, damit der Schuss nicht nach hinten losging und sie als Waschweib, eifersüchtiger Hahnrei oder rachsüchtige, verlassene Geliebte dastand.
Seltsamerweise fragte keiner ihrer Zuhörer, welche Rolle sie in diesem ganzen Szenario gespielt habe. Unangenehme Fragen wurden ihr nicht gestellt: Warum warst du im Cabrio? Was haben die Entführer mit dir gemacht? Wie hast du eigentlich mit dem Chefarzt zu tun? Nichts. Das interessierte niemanden. Das war auch nicht interessant. Das war nicht spektakulär.
"Der Chefarzt hat ein ganzes Haus vermietet. Da geht er jeden Ersten des Monats persönlich hin und lässt sich das Geld bar auf die Hand auszahlen, ihr versteht. Und da hatte er an dem Tag der Entführung das Schwarzgeld in seiner Tasche gehabt. Und als die beiden abgebrannten Penner zufällig die aus der Hose herausstehenden Tausender erblickten, haben sie zugeschlagen. Wer kann es ihnen verübeln, hätte ich beinahe gesagt.“
„Na, na!“
„Ist ja gut. Ich mein's ja nicht so!“
"Ach ja. Schwarzgeld. Was verdient man eigentlich als Chefarzt?"
"Gute Frage. Aber für eine vierköpfige Familie dürfte es allemal reichen.“
„Das meine ich auch.“
"Und für die Unterhaltskosten eines zweistöckigen Einfamilienhauses mit riesigem Garten ..."
"Gepflegten Garten wohlgemerkt!"
"Gepflegt?"
"Hat der Chefarzt dafür noch Zeit?"
"Was glaubst du denn? Natürlich hat er einen Gärtner."
"Deshalb die akkurat geschnittenen Kunstwerke aus allen möglichen Sträuchern und Hecken."
„Und der künstlich angelegte Teich auf dem riesigen Gelände …“
"Mit Springbrunnen, nicht zu vergessen Wasserfontänen."
"Und der moderne Vorbau, wie eine Halle. Ist das die Überdachung eines Schwimmbeckens?"
"Ja, das habe ich mich auch schon gefragt, wozu die das gebaut haben.“
Man merkt, dass einige schon eigene Nachforschungen vorgenommen haben.
"Ich nehme an, dies ist wirklich ein Swimmingpool. Nur ist er schlecht einsehbar, weil er nach außen raus führt, zum angrenzenden Wald."
"Der hintere Teil des Hauses grenzt an einen Wald, der so dicht mit Büschen und Unterholz bepflanzt ist, dass man nicht hindurchgehen kann, um einen Blick in das Anwesen des Arztes zu werfen."
„Richtig!“
"Oder, um vor neugierigen Blicken geschützt und nicht belästigt zu werden."
"Da musst du entweder einen sehr guten Draht zur Gemeinde haben oder auch Eigentümer des Waldes sein.“
"Beides würde mich nicht wundern.“
"Muss toll sein, einen eigenen Pool zu haben mit einer großen halboffenen Terrasse nach draußen ..."
"Oh ja, das wäre schön."
"Zu schön..."
„Ich glaube, ich muss mal hinfahren und es mir aus der Nähe ansehen. Scheint etwas ganz Besonderes zu sein.“
„So etwas findest du im Umkreis von 200 Meilen kein zweites Mal, glaube ich.“
"Davon können wir Sterblichen nur träumen ..."
"So sieht's aus!"
„Und man glaubt gar nicht, dass Chefärzte so viel verdienen.“
„Tun sie auch nicht. Die haben noch ein paar Nebeneinkünfte. Was wir gerade gelernt haben.“
„Schwarzarbeit? Nein, das kann man in dem Fall auch nicht sagen.“
„Du sagst es. Es gibt Tätigkeiten, bei denen man sich nicht einmal die Hände schmutzig macht. Auch wenn die Begriffe Schwarzarbeit und Schwarzgeld das nahelegen.“
Es war erschreckend, was alles an Klatsch und Tratsch an die Oberfläche gespült wurde. Keine Wäsche war zu schmutzig, um nicht gewaschen zu werden.
Eigentlich widerlich.
Aber sie empfand eine überwältigende Befriedigung. Herrlich, dieser Duft, der aus dem brodelnden Sumpf der Gerüchteküche aufstieg.
Jedes Mal war sie danach völlig erschöpft.
Eigentlich war ihr dieses ganze viele Reden und Tratschen zuwider, denn es passte nicht zu ihrer von Natur aus zurückhaltenden Art. Aber was sein muss, muss sein.
Und das Schönste war: Endlich schlief sie wieder tief und fest.

Aber das war noch nicht alles. Das reichte noch lange nicht. Sie musste noch mehr tun, um ihn richtig zu treffen und zu verletzen.
Sie erinnerte sich daran, dass dieser Blonde doch dieses Video ins Internet gestellt hatte.
Sie griff zum Telefon.
„Herr Kommissar, ich hätte gerne den Link zu diesem Video. Ich möchte es mir anschauen. Schließlich bin ich eine Betroffene.“
Aha, sie sah das Video.
Aber, oh Freude, sie selbst war in dem Film nicht zu erkennen. Nur ihr Hinterkopf war zu sehen. Sie hatte sich nicht umgedreht, um zu sehen, was hinter ihr passierte und wer da hantierte. Stattdessen war sie rechtzeitig aus dem Bildausschnitt gehuscht.
Wunderbar.
Das war gut. Das war sehr gut. Das eröffnete neue Perspektiven.
Schnell reifte ein Plan. Der lag auf der Hand. Und am nächsten Morgen ging es los.
Sie hängte Flyer mit der Adresse der Website an die Pinnwände des Krankenhauses. Sie schickte aufklärende Briefe an die beiden Lokalredaktionen. Einen an die Pfarrei, der der Arzt und seine ganze Familie angehörten. Dann an die örtlichen Wohlfahrtsverbände. Sie konnte nichts falsch machen, dieser Familienclan tanzte auf jeder Hochzeit, ob ehrenamtlich oder bezahlt. Dann das katholische Altenheim in seiner Heimatstadt, in dem sicher einige nahe Verwandte von ihm untergebracht waren.
Und wenn es ins Leere lief, dann gab es wenigsten Klatsch und Tratsch. Rufschädigung ist in der Provinz der halbe Ruin, wie sie wusste.
Sogar das eine oder andere Geschäft in der Kleinstadt des Arztes belieferte sie.
Auch das Rathaus mit dem Bürgerforum, einer großen schwarzen Wand, an die jeder Bürger einen Zettel heften konnte, wurde gepinnt.

Pentzw
Kalliope
Beiträge: 950
Registriert: 11.04.2011, 19:59

25. Gutes zu schaffen ist die größte Kunst ...

Beitragvon Pentzw » 26.06.2021, 16:07

'Was hast du nur einer unschuldigen, unbescholtene Person angetan, die wegen dir so unsäglich gelitten hat?', so die Gedanken, die Otto immerfort quälten. Er musste sich bei dieser Hilde entschuldigen, unbedingt, um Verzeihung bitten und wenn er auf die Knie ging.
Er war schließlich Christ!
Der erste Stolperstein auf dem Weg zu dieser Hilde war das Krankenhaus. Aber die Auskunft weigerte sich, Informationen über ihre Beschäftigten weiterzugeben. Erstens war Otto kein Mitarbeiter, zweitens kannte er nicht einmal den Familiennamen.
„Sie heißt Hilde, mehr weiß ich nicht. So viele mit diesem Namen wird es nicht geben. Ich wollte nur wissen, auf welcher Station sie jetzt arbeitet. Oder in welchem Zimmer sie im Schwesternwohnheim wohnt?“
„Wohnt sie überhaupt bei uns?“
„Das weiß ich auch nicht genau. Aber sie arbeitet bei Ihnen!“
„Sind Sie sicher?“
„Ja, ja!“
Alles sehr vage, was auf Misstrauen stieß.
„Wer sind Sie? - Aha, weder verwandt noch verschwägert mit Hilde X, geschweige denn namentlich bekannt. Na dann!“
Otto fühlte sich mittlerweile wie eine Wiedergänger, entpuppt von einer hässliche Raupe zu einem bunten Schmetterling. Er befand sich in einer Lebensphase, in der es keine Tricksereien, Betrügereien und dergleichen mehr gab. Von nun an wollte er absolut seriös sein.
„Ja, das stimmt.“
„Tut mir leid. Ich darf Außenstehenden keine Auskunft über einen unserer Mitarbeiter geben. Aus Datenschutzgründen. Sie könnten zum Beispiel ein Patient sein, der sich vom Personal schlecht behandelt fühlt und jetzt aus Rache und Vergeltung einen Denkzettel verpassen will. Das hatten wir alles schon.“
Otto konnte kaum sprechen, weil ihm bei diesem Stichwort einen „Deckzettel-Verpassen“ die Stimme versagte. Was hatte er denn mit seinem Neffen getan? Genau das. Und das Ergebnis? Eine Katastrophe! Wenn nur nicht ein unbeteiligter Dritter bei dieser Entführung furchtbar gelitten hätte!
Das Argument mit dem Datenschutz konnte er oder nicht nachvollziehen. Aber er selbst hatte in seiner Behörde schon oft mit dieser Allzweckwaffe unliebsame Bittsteller, Bürger und Rechtsanwälte abgewimmelt. Jetzt kam der Bumerang zurück.
Aber in einem anderen Sinne sagte er sich, handelte er im Sinne der Beamtenpflicht und nur deshalb, nur deswegen erwähnte er diesen Umstand bei diesem Telefonat.
„Ich bin bei der Polizei.“ Das war kein Trick, sondern ein Fakt.
„Das mag sein. Aber das ändert nichts. Vorschrift ist Vorschrift. Oder handeln Sie im Rahmen einer Untersuchung?“
„Nein, nein. Ich interessiere mich nur aus privaten Gründen für die Dame.“ Ehrlichkeit muss sein!
„Wenn Sie bei der Polizei sind, werden Sie mir erst recht zustimmen, dass ich keine Daten an eine Privatperson herausgeben darf.“
„Absolut!“
„Stellen Sie doch einen schriftlichen Antrag bei der Krankenhausverwaltung. Damit wir eine Handhabe haben.“
„Verstehe!“
Trotzdem konnte er es sich nicht verkneifen, ein paar Tage später noch einmal anzurufen. Vielleicht nahm eine andere Kollegin ihren Dienst nicht gar so ernst?
„Sie haben doch schon vor ein paar Tagen angerufen und wissen ...“
Es war schon ungewöhnlich, dass sich Mitarbeiter über eine Randerscheinung austauschten.
Aber na ja!
Anstatt eines neuen Anlaufs dachte er plötzlich reumütig. 'Ich bin doch Christ!'

In der Kantine vielleicht? Aber ja! Wann öffnet sie? Dort würde er die Schwester früher oder später antreffen. Die angegebenen Öffnungszeiten bezogen sich auf die Werktage. Werktage reichten aber nicht aus, nicht beim Schichtbetrieb eines Krankenhauses.
So war alles sehr zufällig und zeitaufwendig.
'Das gehört zur Buße. Auch wenn ich ein paar Mal in die Kantine gehen muss, das muss sein. Du hast Unrecht getan, jetzt zahlst du dafür.' Man hört es, Otto ist als ganz neuer Mensch wieder auf die Welt gekommen.
In die Kantine zu kommen, war kein Problem. Er hatte zwei Möglichkeiten.
Erstens kannte er einen Weg durch Lieferanteneingang. Ein eisernes Hintertor war nur angelehnt, nicht verschlossen, zumindest an Werktagen. Zu anderen Zeiten konnte er sich mit seinem Dienstausweis ausweisen. Mit einem freundlichen Lächeln wurde er durchgewinkt.
Der zweite Schritt war auch leicht. Wie sah Hilde überhaupt aus?
Er hatte von ihr aus dem Internat ein Bild ausgedruckt. Die Webseite des Krankenhauses verfööentlichte von ihren Beschäftigten Fotos. Glücklicherweise gab es nur ein Hilde beim Personal.
Doch bis er auf die Schwester traf, wurde er auf eine harte Geduldsprobe gestellt.
Die dritte Möglichkeit erwies sich allerdings als Sackgasse.
Die Beschäftigten, von denen er Auskunft erhoffte, begegneten ihm mit Misstrauen.
„Hilde? Merkwürdig, sie kennen nicht den Familiennamen?“
Womit hatte er das verdient? Er war der Verzweiflung nahe. Er schob ihr Verhalten auf seine Uniform.
Wozu trage ich die? Ich bin doch privat unterwegs.
Das nächste Mal trat er in zivil auf.
Enttäuschend, das half auch nichts.
An der Kleidung allein lag es nicht.
Was er nicht ahnte, war, dass es an seinem Gesicht lag: Große Zweifel und zermürbende Gedanken bildeten scharfe Falten um den Mund, wie Messerschnitte in die unrasierte Haut geschnitten und die dunklen Ringe um die Augen, als hätte man ihm ein Feilchen geschlagen.
Ja, Otto hatte es schwer. Oder er machte es sich schwer. Immer wieder musste er sich aufraffen, in die Kantine zu gehen. Aber es war immer noch ein Sonntagsspaziergang, sagte er sich, wenn er sein Schicksal mit dem dieser Frau verglich, für das er allein verantwortlich war: gequält, geschändet, geschlagen …
Aber er war Christ!


Es war wahrscheinlich das zwanzigste Mal, dass Otto in der Kantine wartete.
Aber heute standen die Chancen gut, dass er der geschundene Hilde begegnete. Eine Bekannte, die in der Küche arbeitete, hatte ihm einen Tipp gegeben. Um diese Zeit, an einem Wochentag wie diesem sei sie oft anzutreffen.
Verdächtige Personen verglich er im verstohlenen, versteht sich, mit dem Foto von Hildes.
Heute sollte es geschehen.
Er hatte es trotzdem nicht leicht. Zweifel nagten erneut an ihm.
Er fühlte sich plötzlich unbehaglich. Ist ein Ort wie dieser nicht alles andere als vorteilhaft, um eine fremde Person anzusprechen? Vor allem, wenn man um ein vertrauliches Gespräch bat?
Komisch, bisher war ihm gar nicht aufgefallen, dass hier ein reges Kommen und Gehen wie in einer Bahnhofshalle herrschte. Überall war Stimmengewirr, hier bat jemand einen Stehenden, ein Stück zur Seite zu gehen, damit er mit seinem Essenstablett freie Bahn hatte, dort rief jetzt jemand lauthals einem Bekannten zu: „Hallo“.
„Ist hier noch Platz?“
„Ja, bitte!“
Er kam aus dem Konzept. Dann griff er den Gedanken wieder auf, den er verloren hatte: Ja, es war ungünstig hier. Aber es blieb ihm nicht anders übrig, er hatte es schon woanders versucht, ohne Erfolg.
Auch Hilde wurde von Gedanken geplagt. Sie war nervös und hörte dem Gespräch nur mit halbem Ohr zu.
Jemand habe sich bei der Auskunft erkundigt, wo sie wohne.
Und dann in der Kanine. Wann sie wohl hier zum Essen erscheine?
Beidemal ein Polizist.
Wer konnte das sein? Der Typ, der dort an einem Tisch saß, wo ihm nur eine Person gegenüber saß? Er wirkte ziemlich verloren. Entsprach fast dem Profil eines Stalkers, hm.
Aber sie war kein Prominenter. Eher war es ein ehemaliger Patient, der mit ihrer Behandlung unzufrieden war.
Sie kramte in ihrer Erinnerung. Aber sie konnte sich an keinen Patienten erinnern, der bei der Polizei tätig war.
Sie erschrak.
War ihr Verhalten verboten? War es vielleicht sittenwidrig, Flyer mit Hinweise auf einem Porno auszulegen?
Verleumdungsgesetz. Gab es ein solches? In den Staaten wurden dafür horrende Strafen verhängt. Hat sie mit dem Hinweis auf einen Porno eine üble Nachrede begangen? Konnte man von Rufmord sprechen?
Sicher ein Grenzfall.
Dass der Polizist damit nichts zu tun hatte, ahnte sie nicht. Schon gar nicht, dass er sich, hätte er von den Hinweisen auf den Porno-Link etwas mitbekommen, sich vor Freude die Hände gerieben hätte. Vielmehr vermutete sie, dass ihr Intimfeind dahinter steckte und die Polizei auf sie angesetzt hatte.
"Oh Gott, da ist sie!"
Als er sie erblickte, zog er instinktiv seinen Körper nach oben, so dass der Hals mehr zu sehen war. Die klassische Duckmäuserhaltung. Wie versteinert saß er da. Die Person war umringt von einer Traube von Menschen. Keine Chance, sie anzusprechen, ohne Aufsehen zu erregen.
Plötzlich stand die Beobachtete auf, schnappte sich ihr Essenstablett und ging allein durch den Raum zur Geschirrabgabe. Er stand auch auf. Aber er spürte weiche Knie. Er sagte sich: „Jetzt oder nie!“ und: „So eine Chance kommt so schnell nicht wieder! oder was man sonst so sagt, wenn man sich Mut machen will.
„Kann ich Sie kurz sprechen.“
„Bitte! Aber...“
„Bitte, geben Sie mir zwei Minuten!“
Schnell nahm er ihr die Last vom Arm, drehte sich um, ging ein paar Schritte, legte sie auf das Band, drehte sich wieder um, kam einen Schritt auf sie zu und blieb wie ein Soldat stehen. Das machte Eindruck, dieses Kavaliersspiel.
Aber jetzt war es an ihm, etwas zu sagen. Seine Kehle war zu trocken zum Sprechen.
Hilde mochte sein Verhalten aufdringlich, ja fordernd finden, denn sie sagte misstrauisch: „Was wollen Sie von mir?“
Otto hielt es für vorteilhaft zu erwähnen, dass er bei der Polizei war, aber: „Ich bin ausschließlich privat ….“
Er brachte den Satz nicht zuende.
„Ich war schon ein paar Mal bei Ihnen und das letzte Mal hat man mir gesagt, die Befragungen seien abgeschlossen."
„Nein, ich wollte gerade sagen, dass ich nur privat hier bin.“
Das klang merkwürdig. Hildes Argwohn wuchs noch, obwohl Otto sich gerade durch diese Aussage einen leichteren Zugang zu ihr erhofft hatte.
Und dass er jetzt nicht weiterredete, um die Situation zu klären, verstärkte Hildes Widerstand.
Otto war blockiert. Er bekam kein Wort heraus, um sein Anliegen vorzubringen.
Er hätte sich einen geschützteren Rahmen gewünscht als dieses Hin und Her um ihn herum.
Zu gestehen, dass er der Urheber ihres Martyriums war, weil er diese Kettenhunde auf sie losgelassen hatte, nicht um sie zu entführen und die Familie zu erpressen …
Was würde dieser oder jener Passant denken, wenn er dieses Wort auffing: Ich bin schuld, dass Sie entführt wurden und die Qualen, die sie erlitten haben, gehen allein auf mein Konto, aber es tut mir aufrichtig leid.
Jeder, der das hörte, dachte bestimmt, da steht ein notorischer Sadist und Sklaventreiber bei seinem Opfer, diesem unschuldigen Mädchen vom Lande und redete von „Es tut mir Leid!“, aber quält sie scheinbar um so mehr damit. „Entschuldigen Sie bitte, dass ich sie entführt, erpresst und gequält habe. Es tut mir aufrichtig leid.“
Wer glaubte so etwas? Nein, das haute nicht hin!
Überhaupt fiel es Otto, dem Polizisten schwer, über Gefühle zu sprechen. Seine Emotionen in Worte zu fassen wie „Ich-fühle-mich-schuldig“, „Ich-empfinde-aus-tiefsten-Herzen“, „Ich fühle-die-wärmste-Zugneigung“ - einfach unvorstellbar.
Aber vielleicht klappte es, wenn er sich mit seiner Ansprechpartnerin an einen ruhigeren Platz begab.
Er drehte sich um, um sich umzuschauen und als er wieder in die Ausgangslage zurückkehrte, entdeckte er schräg hinter hinter Hildes Schultern einen freien Platz: einen kleinenTisch mit zwei Stühlen.
Er lief um Hilde herum und stellte sich hinter einem Stuhl. Mit einer einladenden Handbewegung wies er auf den anderen Stuhl: „Bitte, setzen Sie sich zu mir! Es dauert sicher nicht lange. Bitte! Es ist sehr, sehr wichtig!“
Den letzten Satz hätte er weglassen sollen, schließlich, was interessiert einen Fremden, was einem anderen Fremden beschäftigte? Aber vielleicht war es dennoch gut. Zu bitten ist ein Schritt in die richtige Richtung. So etwas lernt man natürlich nicht in einer Polizistenschule, im Gegenteil.
Widerwillig folgte Hilde, nicht ohne sich nach links und rechts umzublicken. Sie vergewisserte sich, dass sie sich auf heimischen Terrain befand und ihr wohl nicht Schlimmes drohte.
Der Zweiertisch befand sich leider ziemlich nahe an der Kühe, an der Geschirrückgabe. Auch hier konnte sich leicht eine Schlange bilden. Fremde bekamen spitze Ohren. Zudem, drang ab und zu lautes Geschirrgeklapper aus der Küche.
Kein Wunder, dass in Ottos Hals noch immer eine Kröte steckte.
„Was wollen Sie von mir noch? Ich habe schon drei Mal bei Ihnen ausgesagt.“
Otto war Hilde dankbar, dass sie das Gespräch eröffnete. So musste und konnte er sprechen, nämlich einfach antworten.
„Beim Revier?“
„Genau!“
„Nein, ich bin nicht offiziell hier, sondern rein privat.“
„Privat? Warum tun Sie das? Warum lauern sie mir auf?“
Ja, was konnte das Auftreten dieses merkwürdigen Menschen und offensichtlichen Polizisten bedeuten? Es wurde doch schon mit dem Kriminalbeamten lang und breit besprochen. In ihrem Ohr hallten noch seine letzten Worte wieder: „Nunmehr ist die Untersuchung abgeschlossen. Sie brauchen nicht mehr befürchten, von uns belästigt zu werden. Ich wünsche Ihnen gute Besserung. Und vor allem schnelles Vergessen!“
So war Hilde jetzt alarmiert. Sofort versteifte sie sich in Abwehrhaltung. Sie musste an die Anschläge gegen die Sittlichkeit in doppelter Richtung denken, vor allem ihrem Anteil daran: an die Pinwände, die sie mit dem Video-Porno-Link versah und dass ihr deshalb jetzt ein scharfer Wind aus dieser Richtung entgegenwehen könnte.
„Ja, ich wollte mich entschuldigen...“
Dann stoppte Otto. Er wusste nicht mehr weiter. Hilde atmete auf. Entschuldigung bedeute doch, dass sie hier nicht angeklagt wurde. Was aber dann? Es war merkwürdig. Der Bittsteller schwieg plötzlich mitten im Satz. Warum druckste er herum? Gut, es war ihm eindeutig anzumerken, dass er nach den richtigen Worten rang und deshalb seine Absicht ernsthaft zu sein schien. Sie half ihn Mal mit einem Einwand auf die Sprünge.
„Entschuldigen? Ich kenne Sie gar nicht. Weswegen wollen Sie sich entschuldigen?“
„Ja, ich war indirekt an der...“
Otto zögerte. Das Wort, das ihm auf der Zunge lag, erschien ihm angesichts der schlimmen Umstände zweideutig, unpassend, leicht sexualisiert – so dass ihm das deutsche Wort nicht über die Lippen kam. Er überlegte lange, bis er das unverfängliche „Kidnapping“ fand. Diese Zögern recht wieder Hildes Argwohn. Dass dem Gegenüber das Wort „Verführung“ unangenehm ist, macht ihn verdächtig.
Ist er ein Spanner, ein Trittbrettfahrer, denkt er, weil er von den Vergewaltigungen gehört hat, dass er jetzt in die gleiche Kerbe schlagen kann? Natürlich ging Hilde nicht davon aus, dass sich einer der in irgendeiner Weise mit der Entführung etwas zu tun hatte, es wagen würde, sich ihr zu nähern. Das wäre doch zu dreist!
Die Angst und die Befürchtungen verflogen also nicht, als „Kidnapping“ herauskam. Wenigstens schien es so, als müsse sie wegen ihrer schmutzigen Feldzuges keine Angst zu haben.
„Sind sie ein Verbrecher? Oh, ich verstehe, sie sind der Drahtzieher?“
„Nein, nicht direkt!“
Nicht direkt hieß aber doch.
„Dann will ich nichts mit ihnen zu tun haben, damit sie es gleich wissen.“
„Nun, geben sie mir bitte eine Minute. Dann kann ich es erklären.“
Otto fing an, davon zu erzählen, dass er sich gelangweilt hatte. Das war ein Punkt gewesen. Dass er seinen Onkel gehasst hat, ein anderer. Nein, hassen wäre doch ein zu starkes Wort. Eher, dass er bisschen neidisch auf ihn war, weil er so erfolgreich war. Also, eine Mischung aus Langeweile, Spaß haben und Neid.
„Eigentlich weiß ich gar nicht mehr genau, warum das getan habe. Aber ich habe es getan. Und es war sehr falsch, das, was ich getan habe. Ja.“
Ottos Herumgeeiere macht die Sache nicht besser. Hilde wurde noch angespannter und misstrauischer.
„Wovon reden sie überhaupt?“
„Na, warum ich auf die Idee gekommen bin, solche Strauchdiebe dazu anzustiften, Videoaufnahmen zu machen. Um meinem Onkel zu treffen.“
Hilde das verstand, war der Onkel wohl der Arzt. Dieser Umstand verkrampfte sie leider wieder. Steckten die beiden etwa unter einer Decke?
Was dachte sich Otto dabei?
Bisher war Otto davon ausgegangen, dass er auf Verständnis für seine Untaten stoßen würde, wenn er sie offen zugab. Bei einer Krankenschwester war das am ehesten der Fall. Bei einer, die im sozialen, pflegerischen Bereich tätig war.
Aber es wurde immer deutlicher, dass er sich geirrt hatte. Die Situation spitzte sich immer mehr zu. Alles wurde immer schlimmer. Nicht Mitgefühl erntete er, sondern blanke Ablehnung.
Tatsächlich, Hilde war kurz davor zu schreien, aufzustehen und weglaufen. Nach dem, was man ihr angetan hatte, konnte sie sich nur noch mehr verletzt fühlen. Und wenn ein solcher Mensch, der wohl indirekt für ihre Schmerzen, die ihr zugefügt worden hatte, schuld war, sich ihr offenbarte … zu welchem Zweck auch immer … dann war ein solcher dreister Mensch … bei ihm musste man mit allem rechnen!
Otto merkte, dass er sich in eine Sackgasse manövriert hatte, in ein ähnliches Fettnäpfchen, in das er getreten war, als er den Kleinkriminellen die Anweisungen gegeben hatte: „Filmt meinen Neffen, nur so zum Spaß. Und dann verschwindet schnell.“
Jetzt begann Otto um sein Leben zu reden, geriet in einem derartigen Erklärungs-, Entschuldigungs- und Rechtfertigungssog, dass sein Redeschwall nicht mehr verständlich war. Die Kluft zwischen beiden wurde immer größer.
Mitten in diesem Rede-Tsunami fiel ihm ein, dass er sich überhaupt erst einmal vorstellen müsse. Das zeigte, wie unsicher er geworden war. Und jetzt, sich vorzustellen, wo es zu spät war, wirkte, als würde er zurückrudern und versuchen, seine Schuld zu relativieren und leugnen. Das machte ihn nur noch verdächtiger.
Das Öl, das er ins Feuer goss, explodierte dann: „Ich bin der Neffe von ihrem Chefarzt, der auch entführt wurde.“ Das war richtig, aber Otto hätte dies nicht erwähnt, wenn er gewusste hätte, was jener dabei Hilde angetan hatte.
'Der steckt mit dem Schwein unter einer Decke', und sie zuckte förmlich zusammen. Otto hatte ein Gespür dafür.
'Was mache ich bloß falsch, verflixt!'
Aber weiter.
„Also, ich habe die Verbrecher auf euch angesetzt. Sie sollten Aufnahmen von euch machen. Ich wusste, dass sich mein Onkel fast jeden Samstag Abend mit seiner Geliebte am Parkplatz trifft. Dabei wollte ich ihn filmen lassen und ihn dadurch ein bisschen unter Druck setzen.“
Die letzten Worte hörte Hilde schon nicht mehr. Sie dachte, aha, der Arzt hat den Film in Auftrag gegeben, mit Hilfe dieses Neffen und dieses Polizisten hier, sie beim Sex zu filmen, um sich dann als Pornostar einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren. Dass dabei eine zweite Person verletzt, in den Dreck gezogen und der Lächerlichkeit preisgegeben wurde, spielte keine Rolle!
Es war ungeheuerlich. Es war niederträchtig. Es war geradezu kriminell.
Es wurde klar, dass sie nicht nur von diesen elenden Verbrechern wie die letzte Hure behandelt worden war. Sondern auch vom Arzt selbst. Dieser hat sie als Pornodarstellerin erniedrigt. Dabei hatte sie ganz andere Gefühle für ihn gehegt und gepflegt. Die sich, im Nachhinein betrachtet, leider allmählich aufgebaut und entwickelt hatten. Trotz Vernunft und Einsicht in ihre Kleinmädchen-Qualitäten. Aber das spielte keine Rolle.
Das Schlimmste war zweifellos die Entführung mit ihren entsetzlichen Folgen gewesen. Mit den Quälerei, den Vergewaltigungen, den Erniedrigungen. Körperlich und seelisch gesehen. Selbst wenn Hilde verstanden hätte, dass dies gar nicht beabsichtigt gewesen wäre, hätte sie nicht anders empfinden können.
Mit den Filmen hatte alles angefangen und die war gewollte - das war der tiefste seelische Schmerz bei all dem.
Sie fing sich schnell wieder, auch wenn das, was sie im Moment fühlte, wehtat.
„Die beiden Ganoven haben euch entführt, obwohl das nicht geplant war. Glauben sie mir!“
Aber Hilde glaubte niemanden, der etwas mit dieser Sache zu tun hatte.
„Und dafür wollte ich mich entschuldigen.“
Hilde verstand eines: Dieser Aasgeier vor ihr wollte sich nicht dafür entschuldigen, dass er sie beim Sex hatte filmen lassen. Das war schon schwer zu entschuldigen! Denn das war pure Heimtücke gewesen! Eine intime Beziehung hinterrücks zu filmen, was gibt es Verwerflicheres?
Das wäre schon schwer zu entschuldigen. Das mit dem Arzt, mit diesem kalten Fisch. Der sich die Hände gerieben hatte, als er gefilmt wurde … Auch wenn es danach anders kam, als er erhofft hatte …
Das Kidnapping, gewollt oder nicht, war nicht zu verzeihen. Dafür war sie zu hart gewesen. Darunter hatte sie zu sehr gelitten. Dafür konnte sie keine Entschuldigung annehmen. Ob sie wollte oder nicht. Es ging nicht. Sie konnte nicht. Auch und gerade wegen dem, was sie gerade verstanden hatte.
„Ich will, dass sie mich nie wieder ansprechen. Verstanden?“
„Entschuldigung?“
„Ich will, dass sie sofort aus meinem Leben verschwinden. Nie wieder, nie wieder belästigen.“ Sie schlug beide Hände vors Gesicht: Es war so beschämend, dass sie nur irgendwo Schutz suchte.
„Aber, aber“, stammelte Otto.
Sie stand auf. Er auch. Schweigend standen sich gegenüber.
Er begriff, dass er ins Leere gegriffen, es verbockt und vermasselt hatte. Die Folgen waren verheerend. Sein Leben lang würde er diese Last mit sich herumtragen müssen. Die Vorstellung würde ihn für immer belasten und verfolgen. Das durfte nicht sein, das konnte nicht sein.
Er ging um den Tisch herum und streckte die Hand nach ihr aus, um diese Frau doch noch zu erreichen, sie zu besänftigen, sie seine Ehrlichkeit spüren zu lassen.
Er packte sie an den Schultern. Sie zuckte zurück, er ließ aber nicht los.
„Hören Sie mir bitte einmal zu, bitte!“
Ein Fremder griff nach Hilde, tat ihr Gewalt an, ließ sie nicht gehen. Dass war ein Angriff. Das war Gewalt.
Auch Otto spürte, dass etwas gehörig schief lief. Seine Stimme brach. Auch wenn es daran lag, dass er sich sehr schuldig fühlte, nach außen hin wirkte er wie ein brutaler Kerl, ein gewalttätiger Perversling. Er wirkte zudem um so gefährlicher, als er jetzt plötzlich auch nicht mehr im Stimmbruch reden konnte, sondern überhaupt überhaupt nicht. Ihm fehlten jegliche Worte.
Er wirkte wie ein Fisch, der ans Ufer gespült worden war und auf dem Sand hilflos nach Luft schnappte.
Unheimlicher ging es nicht. Das hatte Hollywood-Qualität. Aber hier lief kein Film.
Hilde ließ endgültig die Schotten herunterfallen, sie schrie laut und schrill: „Mann, lassen sie mich los, oder ich rufe die Polizei.“
„Entschuldigen Sie, entschuldigen Sie sie vielmals!“ Otto bettelte um Verzeihung, als er wie vom Blitz getroffen die Hände von ihr nahm und stammelt: „Das habe ich nicht gewollt. Ich habe doch ...“
Damit war klar, Otto hatte seine Chance endgültig verspielt.
Hilde drehte sich um und verschwand wie ein Wirbelwind von diesem Ort. Sie floh, rannte, stürzte, getrieben von Ekel vor diesem Psychopathen und Hass auf den Arzt, der hinter alle dem steckte.
Plötzlich dachte sie an Ernst. Er war ernsthaft in sie verliebt, was ihr gar nicht gefiel … zuerst wollte sie das nicht … aber wenn er auf das Video stieß, wo sein Bruder mit ihr … sie war nicht zu erkennen, also war es irgendeine Frau und sie selbst erschien unschuldig … aber er würde eins und eins zusammenzählen, weil sie mit ihm entführt worden war … also würde er eifersüchtig sein, außerdem wahnsinnig moralisch wütend und erbost, da sein Bruder seine Frau betrogen hatte … Ernst war so ein moralischer Mensch, aber auch ein Gefühlsmensch, leicht zu beeinflussen …

Pentzw
Kalliope
Beiträge: 950
Registriert: 11.04.2011, 19:59

26. Den Namen durch den Schmutz ziehen

Beitragvon Pentzw » 01.07.2021, 15:03

Ein Finger bohrte sich schmerzhaft in die Haut ihrer Schulter. Jemand hatte sie von hinten zangenartig gefasst, ein warmer Atem drang an ihr Ohr und die geraunte Worte:: „Hör auf damit! Hast du verstanden?“
Sie stieß instinktiv aus: „Womit soll ich aufhören?“ Schnell drehte sie sich um und entwand sich so seinen Klammergriff.
Er hatte sie in einer ruhigen Ecke des Krankenhauses überrascht.
Sie hatte viel nachzudenken.
Zum Beispiel, dass sie dort unten im Keller die schwerste Stunde ihres Lebens erlebt hatte. Zum ersten Mal war sie sich ihrer Weiblichkeit bewusst geworden. Sie hatte das Gefühl, alles sei eine Verschwörung gegen das Geschlecht. Das klingt paranoid. War es aber nicht. Denn in Wirklichkeit litt sie am meisten unter der Entführung. Geld war zweitrangig. Auch wenn sie wegen Geld erpresst worden wäre, hätte sie die Entführer wegen ihres Geschlecht an ihr vergangen. So oder oder so, als Frau hatte sie am meisten zu leiden.
Sie wusste nun um die Benachteiligung der Frau gegenüber dem Mann. Das hatte die Entführung gezeigt und gelehrt.
Deswegen verfolgte sie nun diesen Mann. Er musste bezahlen. Sie verfolgte diesen Mann. Das befriedigte sie. Denn sie war nicht „unmenschlich“ behandelt worden und dann war Schluss. Sie hatte die Möglichkeit ihm dafür zu strafen.
Sicherlich, körperlich war sie ihm unterlegen. Aber das bedeutete nicht viel.
Auch wenn sie Angst vor einer Begegnung hatte, spielte das keine Rolle.
Natürlich hatte sie sich oft die Situationen ausgemalt, in denen sie ihm begegnen würde. Sie würde ihm ausgeliefert sein. Seiner Gewalt. Seinen Worten, die er benutzen würde, sie hatte sie sich durch den Kopf gehen lassen. Natürlich auch die Worte, die sie ihm ins Gesicht schleudern würde. Aber die Angst vor seiner Reaktion blieb.
Bis sie sich fragte, wovor sie eigentlich fürchtete und über sich selbst zu lachen begann. Sie hatte schließlich nichts mehr zu verlieren. Danach verschwendete sie keine Sekunde mehr mit solchen Gedanken.
So stand sie nun in der Arena. Sie war fest entschlossen, den Stier an den Hörnern zu packen.
„Du weißt ganz genau, womit du aufhören sollst! Du steckst doch hinter dieser Hetz- und Schmutzkampagne. Du verbreitest das Gerücht, ich würde Schwarzgeld einsacken und mit mir herrumtragen. Weißt du eigentlich, welcher Gefahr du mich damit aussetzt? Das ist Rufmord, das ist Verleumdung! Das kostet dich den Kopf, das schwöre ich dir. Ich bin nicht irgendwer. Ich bin Chefarzt hier, in diesem großen Haus!“
„Was geht das mich an?“
„Ich bin auch Dein Chef!“
„Netter Chef, der sich nicht um seine Beschäftigten kümmert ...“
„Fühlst du dich von mir vernachlässigt ...“
„Bewahre! Die Zeiten sind vorbei! Du kümmerst mich schon lange nicht mehr, das kannst du mir glauben.“
„Was hast denn für ein Problem? Mensch, ich hab doch schon genug am Hals. Und dann noch dieses Video, das du überall verbreitest. Hast du eigentlich noch alle Tassen im Schrank?“
„Ja, ich habe noch alle Tassen im Schrank, kann ich dir sagen. Ich hatte mal ein paar zu wenig.“
Aber er schien gar nicht zuzuhören. Hastig redete er weiter, kein Innehalten, kein Blinzeln verriet, dass er verstanden hatte, was sein Gegenüber gesagt hatte.
„Ich habe nicht nur Ärger mit meiner Frau. Wenn das alles wäre! Obwohl mir das schon reicht!“
„So ein Pech! Deine Frau lässt dich wohl nicht mehr ran?“
Was redete sie da. Sie erkannte sich gar nicht wieder.
„War sie sonst schon so etepetete im Bett gewesen!“
Einen Moment fürchtete sie seine Reaktion, aber gleichzeitig wunderte sie sich über sich selbst. Endlich hatte sie es geschafft, mit ihm einen anderen Ton anzuschlagen. Den, der ihm gebührte. Das war ein Fortschritt. Sie war eine andere Hilde geworden!
Und doch schien ihm dieser Angriff gar nicht zu treffen. Er war so kalt!
Natürlich spürte er nicht im Geringsten, dass ihre Worte aus einem tief verletztem Herzen kamen.
„Aber auch mit Behörden. Der Kriminalpolizei, dem Finanzamt. Und da kommst du ...“
Diese Ichbezogenheit!
Sie spürte wieder bis in die letzte Faser diese Demütigung, diese Schändung, diesen Missbrauch.
Sein Wegschauen. Seine Ignoranz. Seine Gleichgültigkeit.
Andere konnten misshandelt werden, vergewaltigt und verbluten und ihn kümmerte es nicht die Bohne.
Mitleid bei ihr? Fast. Aber nein, jetzt stand sie im Mittelpunkt, nur ihre Rache im Fokus, ja R a c h e!
„Du bist enttäuscht, dass ich momentan nicht so viel Zeit für dich habe. Ist es nicht so?“
Sie schwieg und schaute an ihm vorbei.
„Leider habe ich keine Zeit für dich. Ich bedauere das selbst. Aber es kommen schon wieder andere Zeiten.“
Das war der Hammer! Er hatte immer noch nicht begriffen, was die Stunde geschlagen hatte. Nach allem, was geschehen war, glaubte er immer noch, dass sie etwas für ihn empfand.
Oder führte er hier eine Komödie auf?
Wenn ja, schlug das dem Fass den Boden aus. Dieses Schmierentheater war noch eine Spur verwerflicher als das, was er ihr eh schon angetan hatte, Mensch.
Bei diesen Worten entfuhr ihr aber aber ein unmissverständliches „Pff“.
"Das ist mir egal. Warum jammerst du wie ein Kleinkind? Bin ich deine Mutter?"
Darüber war sie jetzt auch erstaunt. Was tat und sagte sie hier? Wer war sie überhaupt?
Ein langer Blick von ihm – endlich ging ihm ein Licht auf.
Aber er war zu gewieft, zu abgebrüht, um verletzt zu sein.
„Du bist sauer! Du fühlst dich angepisst – das ist es!“
Diese Aussage traf sie mitten ins Gesicht. Denn es stimmte! Und weil es ausgesprochen worden war, war es um so warer und brutaler.
Ja, sie war angepisst worden.
Einen Moment hing das Wort wie in Damoklesschwert im Raum.
Aber sie war inzwischen eine andere geworden.
„Wie würdest du es sonst nennen?“, entgegnete sie sofort. „Aber dir war und ist es doch egal, scheißegal, wurscht – ach, vergiss es!“
Er fasste sich demonstrativ an den Hals. Als wären die Schürfwunden gleichbedeutend mit ihrem Martyrium. Aber da war nichts zu sehen am Hals.
„Du weißt, mir wurde auch ganz schön übel mitgespielt!“
Ja, es stimmte, auch er war vergewaltigt worden, sie hatte es mitbekommen. Aber nur einmal. Bei weitem nicht so oft und intensiv. Aber doch war es zu lächerlich, was sich hier abspielte. Es ging nicht darum, wer am meisten gelitten hatte, sondern dass er sich so gleichgültig ihr gegenüber verhalten hatte.
„Da sieht man aber nichts!“
Erschlafft ließ er die Hände sinken.
Klagen stand ihm nicht gut zu Gesicht. Nicht als Mann, als Gebieter, als Chef.
Hochnotpeinlich, dieses Haschen nach Mitleid. Noch dazu vor einer untergebenen Krankenschwester.
Völlig nackt stand er vor ihr.
Sein Haschen nach Mitleid erschien als platter Versuch, sie zu täuschen.
Sie dachte an ihren Heiratswunsch. Dort unten im Keller zum Ausdruck gebracht. Diese erbrärmliche Gestalt vor ihr hatte sie ehelichen wollen.
Peinlich, peinlich.
„Du hast mir schon lange nichts mehr zu sagen,“, schrie sie ihn ins Gesicht. „Die Zeiten sind vorbei, dass ich dich respektiert habe!“
„Was, was sagst du da Dummes!“, und er stieß sie auf die Nische, ein quaderförmige Sitzpolster. Er setzte sein Knie auf den Bauch Hildes, die quer über das Polster lag und schrie von oben herab auf sie herunter: „Wie, was welche Zeiten? Als ob du nichts davon gehabt hättest vom Bumsen, du!“
Die Nische hier war wegen der großen exotischer Topfpflanzen vom Korridor her nicht einsehbar. Ein ideales Fleckchen, um Tacheles zu reden. Dennoch war er zu laut gewesen. Er senkte sofort die Stimme und raunte eindringlich.
„Wenn du nicht Ruhe gibst, wirst du mich kennenlernen!“
Plötzlich hörte man ein Quietschen. Es war die sich öffnende Tür der Sakristei, der kleinen Kapelle des Krankenhauses. Wie von Geisterhand wurde ein Sarg herausgeschoben, gefolgt von einem zweiten, begleitet von je einem Uniformierten. Feierlich gingen die Prozession den Hohlraum des Flurs hinein, mit hohlem Echo, der sich verflüchtigte.
Andächtig lauschten sie den Tönen, bis das dumpfe Geräusch der sich schließenden Flügeltür am Ende des Flurs das Signal gab, sofort wieder aufeinander loszugehen wie zwei Ochsen mit gesenkten Hörnern.
„Du hast deine Rache gehabt. Die Gauner sind tot. Was willst du noch?“
„Dich! Ich will ich treffen!“, spie sie ihm mit eiskalter Stimme ins Gesicht. Wieder erschrak sie über ihre Unerschrockenheit.
„Dafür werde ich es jedem erzählen, was sie die Verbrecher dir angetan haben. Dein Ruf wird ruiniert sein. Überleg dir das! Selbst als Opfer wirst du dich schämen. Du kennst die Leute! Sie werden über dich reden, sich den Mund fusselig reden.“
„Und ich werde deinen Ruf genauso ruinieren, wie du meinen. Ich werde diese kleine, schmutzige Geschichte überall herum erzählen.“
„Was?“
„Na, was der Gauner mit dir gemacht hat, abends im Keller, nachts, du weißt schon!“
Der Schreck fuhr ihm durch Mark und Bein. Sein Knie löste sich ein wenig von der Brust der Unterdrückten.
Er war entsetzt. Trotzdem, obwohl er genau wusste, worauf sie anspielte, sagte er noch: „Wovon redest du überhaupt?“
„Tu nicht so! Du weißt genau, wovon ich rede.“
„Hast, hast“, stammelnd, „hast du das mitbekommen?“
„Und ob! Was werden die Leute denken, wenn sie erfahren, dass dich irgend ein Kerl von hinten genagelt hat?“, fuhr sie ihm voller Verachtung an. Sie war schon erschöpft. Reden war ja ihre Sache nicht. Und schon gar nicht das schlagfertige Entgegnen. Dafür hatte sie sich brillant geschlagen, was sie sich nicht zugetraut hatte.
Verwirrt ließ der Arzt den Druck nach.
Sie entzog sich ihm in Sekundenschnelle, indem sie sich am Polster hinuntergleiten ließ und kurioserweise zwischen seine Beine hindurchkroch. Sie tauchte hinter hinter seinem Rücken auf, sprang wie eine Katze auf ihre Beine und rannte blitzschnell davon.
Er wollte sie fangen, drehte sich aber viel zu spät um und konnte nur eines tun, ihr nachbrüllen: "Du wirst schon sehen. Ich habe dich gewarnt!“ Der Schrei hallte in der langen Leere des Korridors wieder, wurde aber wie von einem Geist verschluckt.
Sie wusste, dass sie sich rasch bewegen konnte, wenn es nötig war. Aber dass sie mit ihrem Mund genau so schnell sein konnte, war ihr neu.
Sie war sehr zufrieden mit sich selbst.

Pentzw
Kalliope
Beiträge: 950
Registriert: 11.04.2011, 19:59

. ....

Beitragvon Pentzw » 15.02.2024, 14:53

....


Zurück zu „Texte“

Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 71 Gäste