Freiheit, ich bereue nichts! - Erzählung

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Pentzw
Kalliope
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Freiheit, ich bereue nichts! - Erzählung

Beitragvon Pentzw » 01.08.2021, 22:32

Ich atmete ungehindert durch.
Von irgendwoher wehte eine erfrischende Bö durch diesen Boulevard. Die eine Stirnseite wurde durch ein relativ niedriges Gebäude begrenzt, woher der Wind blies, das andere Ende lief in einer langen, schier endlosen Straße aus – aha, so konnte der Wind durch diese lange Baumstraße ungehindert wehen, wie er wollte.
Zum Gebäude verlief der breite Weg leicht nach oben, wurde durch ein Reiterdenkmal markiert, dahinter ein nur zweistöckiges, vermutlich klassizistisches Gebäude. Welchen Baustil wirklich dieses hatte, auch wen das Reiterdenkmal darstellte? Egal, ich genoss es einfach, sonst wo auf der Welt zu stehen, nur nicht zu Hause, aber doch in einer Metropole, an einem imposanten Platz – fertig!
Fertig?
Trotzdem war mir Angst und Bange.

Der Tisch stand wie ein Barhocker mitten auf das Trottoir, inmitten der endlosen Touristenströme, was ein abenteuerliches Unterfangen war. Lehnte ich mich darauf, schwappte der Kaffee bedrohlich in seinem kleinen Porzellantässchen, was mich sehr belustigte. Die dünnen Tassenwände wirkten fragil, anders als die gewohnt klobigen Humpen und breiten Kaffeetassen zu Hause – und vielleicht schmeckte deshalb auch alles anders. Das Törtchen intensiver genossen als je zuvor. Ich ließ es mir schmecken und nippte laut an dem Getränk, während ich die Torte aß, so, wie man es nicht machen sollte: zuerst das Gebäck, dann die Flüssigkeit, das sei besser für die Verdauung.
Aber das war nur ein Regelbruch, noch einer der geringsten.
Du hast alle Sicherheit über Bord geworfen, verfehltest schon deine erste Ausbildung und hast jetzt deine zweite gekanzelt, eine Beamtenstelle, auf die deine Mutter so sehnsüchtig gewartet hatte, weil sie sich nichts sehnlicher gewünscht hatte als einen Beamten unter ihren Kindern. Du aber hattest sie enttäuscht.
Egal!
Wirklich?
Ich wusste nicht, was ich wollte, noch was ich werden mochte, welche Rolle ich in der Gesellschaft ich spielen sollte. Wenn ich etwas wusste und ich war nicht nur negativ gegenüber allem eingestellt, dann, dass ich einmal die Welt sehen wollte, in diese eintauchen bis zum Grund, wie der aus dem Märchen, der das Fürchten lernen wollte, weil er vor nichts Angst hatte.
Gut, ich war im Grunde ein braver Mensch und Bürger, der bemüht war, die Erwartungen zu erfüllen, die an ihn gestellt wurden und das hatte ich ja auch getan, indem ich alle Ausbildungen abgeschlossen hatte. Die Anforderungen, die in der Theorie an mich gestellt wurden, hatte ich erfüllt. Aber die Praxis erfüllte mich nicht und ich empfand so viel Widerwillen dagegen, dass ich jetzt hier stand.
Es war verrückt, es fühlte sich verrückt an: Ich stand da ohne Bezug, ohne Freunde und Bekannte, 500 Kilometer von meinem Heimatland entfernt und tat im Grunde dasselbe, was ich schon früher getan hatte: Sprache unterrichten. Nichts hatte sich grundlegend geändert, als das, dass ich endlich woanders war, weg, weit weg von dem Ort, den jeder einmal in seinem Leben zugeordnet bekommt, aber an dem ich mich völlig fremd fühlte.
Das war irre!
"So geh!", sagte mir eine innere Stimme. Aber ich konnte nicht - noch nicht. Gedanken überfielen mich und hielten mich davon ab. Ich ertappte mich dabei, wie ich mit den Füßen auf dem Boden scharrte.
Dieser Boden war blutgetränkt und es schauderte mich, denn hier hatte sich einst ein Student, ein junger Mensch namens Jan Palach verbrannt, weil er sich über die Feigheit seiner Mitmenschen geärgert hatte.
Und du bist nur vor dir selbst zu feige, zu dir zu stehen!
Denn ich brauchte mich glücklicherweise nicht verbrennen, ich konnte irgendwo in der Welt herumlaufen, mich in ihr verlaufen, verirrten, verzetteln, was auch immer. Ich war frei! Und das war etwas, etwas mehr als Jan Palach hatte!
Was schaust du denn so finster, du dummer Mensch. Wie dumm, wegen deiner Freiheit Unbehagen zu empfinden, Angst und Schwindel.
Letztes Wochenende haben mich ein Kollege und meine Freundin hier besucht, wahrscheinlich zum letzten Mal. Mein Freund: "Willst Du wirklich noch einmal eine völlig fremde Sprache lernen? Dieser Stress! Überleg doch mal! Wir haben in unserem Leben schon zu viel lernen müssen. Jetzt ist an der Zeit, die Ernte einzuholen und das Leben zu genießen, materiell. Du weißt, was ich meine." Natürlich wusste ich, was er meinte. Ich schwieg. Er sah mich an, las in meinen Augen, schüttelt den Kopf, wohingegen ich meinen ein wenig hob - während wir in diesem Moment genau wussten, dass sich unsere Wege hier für immer trennen würden.
Und meine Freundin, die am meisten Verachtung über mich ausgegossen hatte, weil ich meine berufliche Festanstellung und Sicherheit in den Wind geschlagen hatte, hatte immer wieder den Kopf geschüttelt, als hätte sie Parkinson und damit zum Ausdruck gebracht: Wie dumm musste man sein, dass man sich freiwillig hier ins Abseits begab und zum Abschluss, bevor sie in den Zug gestiegen war, hatte sie getönt: „Hier wird mir zu wenig Deutsch gesprochen!“
Ach, soll sie mir doch den Buckel runterrutschen!
Neben mir hörte ich einen Älteren zu einem Jüngeren sagen: „Ich bin Deutscher. Ich wurde von hier vertrieben, als ich noch jung war. Aber ich habe nichts, nichts getan. Warum darf ich nicht dort leben, wo ich will, zum Beispiel hier in meiner Geburtsstadt?“
Ja, er hatte so recht: Warum muss man für die Fehler anderer büßen? Auch dieser junge Tscheche, der sich das Leben genommen hat, hat für andere bezahlt. Sich selbst zu verbrennen, sagt man, muss sehr, sehr schmerzhaft sein. Dies weiß man, bevor man es sich antut. Warum hat dieser Mensch sich dies angetan? Woher wusste er nur, dass es so schmerzhaft ist, dieses Gefühl, in der Unfreiheit zu darben, in diesem Eis der Unfreiheit eingefroren zu sein – nicht leben kann, weil man sich nicht frei fühlen kann.
Jedenfalls bot sich mir die Möglichkeit, frei zu leben. Ich konnte überall auf der Welt arbeiten. Ich hatte Aufenthalts-, Berufsausübungs- und Arbeitspapiere für dieses Land hier, auf dem ich mir die Füße vertrat. Ich konnte mir einen Ort auf der Welt aussuchen, wo es mir gefiel, nicht wo es anderen beliebte, mich hinzustellen.
Nun machte ich mich auf dem Weg, setzte zögernd einen Fuß vor den anderen, als ob ich auf dünnem Eis laufen würde. Die Sonne schien und erzeugte auf der Oberfläche ein gleißendes Licht wie Eis. Würde ich ausrutschen, fürchtete ich jeden Augenblick, und so schwankte ich. Um dies zu verhindern blieb ich einfach stehen.
Mein Blick fiel auf eine seltsam bizarre Burg. Wie schwer fiel es mir, den Namen auszusprechen. Dieses „Hradschin“ passte zu seinem surrealem Erscheinungsbild. So seltsam diese Burg, so verwinkelt sollte mein weiterer Lebensweg werden; so kompliziert dieser Name, so viel Kopfzerbrechen sollte mir die neue Sprache bereiten.
Ich lief auf sie zu, wie ich stets auf Schwierigkeiten zuging, die sich mir in den Weg stellten.
Ich überquerte eine uralte Brücke, auf deren Balustraden graue Kalksteinplastiken von Heiligen standen. Andächtig blickte ich zu einem auf, der mich ungläubig anzustarren schien.
Ich fühlte mich fremd.
Dann blickte ich auf seinen Mund, der im Gegensatz dazu zu einem Schmunzeln verzogen war und von dort hörte ich die Worte: "Freund, Dein Weg wird dir schon nicht den Tod kosten!“ und ein Lachen erfolgte, in das die anderen steinernen Heiligen schallend einstimmten und dazu raunten: „Denk doch daran, was wir erdulden und erleiden mussten!“
Als ich ihr Schicksal mit dem meinem verglich, welches mich bestimmt keinen Kopf kürzer machen würde, stimmte also auch ich in das Lachen ein. Zum Glück fiel es nicht weiter ein, da es hier wimmelte von dichtgedrängten Menschen.
Ich ließ mich von diesem unaufhörlichen Strom verschlingen und weitertreiben.
In den engen Gassen kam mir ein langer, dürrer, aufgeschossener Kerl entgegen, lächelte mich an, als ob wir bekannt wären und ging doch stumm weiter. Ha, lieber Franz Kafka, dachte ich, für nichts und wieder nichts brauchte ich auch keine Schuldgefühle zu haben.
Von überall drangen Stimmen auf mich ein, deren Sprache ich nicht verstand.
Ein wenig Angst und Bange hatte ich doch vor solch fremden Hindernissen. Aber egal, wahrscheinlich hatte ich mit noch größeren Schwierigkeiten zu kämpfen als bloß mit einer fremden Sprache.
Auf dem höchsten Punkt der seltsamen Burg angekommen, suchte ich ein wenig schwindelig vor Höhenangst, denn nichts anderes war es, eine Zinne, von der aus ich auf die Stadt hinabschauen und vor allem überblicken konnte. In den engen Gassen und sternförmig verlaufenden Straßen wimmelte es von unzähligen Menschen wie in einem Ameisenhaufen. In diesem Gewirr sah ich mich auch als eines von unzähliges Tierchen, die hin- und herwuselten. Wieder wurde mir schwindelig, als ich über mein Leben nachdenken musste und musste. Aber ich wusste nur: Das bist du. Du hast es so gewollt! Hast deine Mitstudenten enttäuscht, deine Familie verraten, deine Freundin vor den Kopf gestoßen, alles dazu getan, um irgendwo am Rande eines Abgrundes zu stehen.
Und jetzt stehst du genau davor!
Ha, aber du bist doch nur eine von Tausenden von Ameisen da unten, nur eine und du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Das ist die Angst nicht wert!
Aber das sagt sich so leicht!
Schnell weg mit der Angst!
Sieh sie dir nur an, diese Stadt, diese Ansammlung von Menschen. Zu Tausenden kommen sie hierher, um ein paar lausige Tage zu genießen, ha, und du hast Monate, vielleicht Jahre Zeit, dieses Geschenk der Menschheit auf deinen Geist, deine Seele und Einbildung wirken zu lassen.
Ich tat es.
Dann kam mir ein verrückter Gedanke. War er so verrückt? Ich wollte mir Blumen schenken. Einen kleinen Strauß nur, den ich zu Hause in meine durchsichtige Glasvase (das Einzige, was ich von zu Hause mitgebracht hatte) mit viel Eingravierungen versehen, stellen wollte. So lange, wie er leben würde, der Strauß, würde ich mich daran erfreuen. Das würde Tage dauern.
Ein seltsamer Wunsch, dachte ich, während ich auf der Suche nach einem Blumengeschäft war. Wirst du allmählich wunderlich? Vielleicht ist etwas dran an dem, was andere über mein Streben nach Freiheit denken mögen, dass es wunderlich ist?
Aber das war es nicht. In der Stadt, in dieser alten Stadt, wie in jeder städtischen Umgebung fehlte es an Natur, an Blumen, an Grünzeug jeder Art. Meine Sehnsucht nach Grünem, Buntem, Lebendigem entsprang nur dem Mangel desselben hier um mich herum. Es war das, was mir am schwersten auf dem Herzen lag, was ich zu Hause zurücklassen musste: Natur.
So schenkte ich mir einen Blumenstrauß. Ich freute mich darüber in diesen fremden Wänden, in dieser muffigen, etwas dunklen möblierten Einzimmer-Wohnung einer kleinen Seitenstraße dieser riesigen Hauptstadt eines fremden Landes. Ich lächelte über meine bizarren Wünsche. Ich hatte kein schlechtes Gewissen, im Gegenteil, ich wäre über meine Wunderlichkeit fast in schallendes Gelächter ausgebrochen. Ich lächelte lange über diese Blumen.

*

Wenn ich heute am Haus meiner Freundin vorbeigehe, sind die Fenster von heruntergelassenen Jalousien blind und dunkel. Auf dem Vorplatz wurde ein Gebäudekomplex mit etlichen Wohnparteien hochgezogen, der den Blick in die Weite versperrt. Aber das dürfte ihr ziemlich egal sein. Ihr gehört diese Wohnung, es war ihr Eigentum und nur das zählte. Der Horizont war nicht mehr zu sehen ...

*

Ich sah meinen ehemaligen Freund und Berufskollegen in der U-Bahn. Sein Lachen erinnerte mich an die Geschichte von Professor Unrat, einer Verfilmung des Romans „Der Untertan“ von Heinrich Mann, in der Marlene Dietrich als Blauen Engel einen Gymnasial-Lehrer um die Finger wickelt und aus der Bahn wirft. Mein Freund schleppte einen zwei Zentner schweren Fress- und Saufbauch vor sich her, der mich an diesen Professor erinnerte. Ich unterließ es, meinen Freund anzusprechen.

*

Meine Mutter war inzwischen gestorben. Es war eingetreten, was ich geahnt hatte. Sie hatte mich fast enterbt.
Meine Mutter wirkte immer unglücklich. Ein Beamter, der sich für sie interessierte, wurde wegen einer Falschaussage einer Bekannten irritiert und auf eine falsche Fährte geführt – als sie jung war und die große Chance gehabt hatte. Da ihn eine andere kriegte, war sie leer ausgegangen. So eine Chance bekommt man nur einmal im Leben. Sie bekam nur einen Arbeiter. So ein Unglück!
Daran, an diesem Pech, hatte sie ein Leben lang geknabbert.
Und, dass ich ihr nicht den Wunsch erfüllte, den sie sich selbst verkneifen musste, nämlich einen Beamten in der Familie zu haben, das hat sie mir ihr Leben lang nicht verziehen.

Mutter und Freundin ist diese Geschichte gewidmet.
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