Die Migrantin (2025)

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Pentzw
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Die Migrantin (2025)

Beitragvon Pentzw » 17.04.2025, 23:02

Zwischen West und Ost - eine neue Ehe
Die sogenannte Wende
Das Familienfest im Heimatland
Die Stimme einer Taubstummen

Zwischen West und Ost - eine neue Ehe

Die Nutten standen in Reih und Glied und traten sich die Füße platt. Es war an einer abseitigen Straße, nicht an der großen Durchgangs- und Hauptstraße gen Osten, aber jeder wusste, wo es war und wurde dorthin verwiesen, wenn er nach irgendetwas fragte, selbst einer Bank oder einer Tankstelle. Man ging automatisch davon aus, dass ein Fremder sich nur deshalb hier an dieses Ende der Welt verirrt hatte, um die Prostituierten aufzusuchen. Hier, an diesem verruchten Ort, waren sich selbst Hausfrauen nicht zu schade, sich feilzubieten, während ihre Männer mit einem LKW irgendwo in Europa unterwegs waren. Wenn man von „Banka, Tankstelle“ sprach, erschien auf den Gesichtern der Einheimischen ein wissendes Lächeln, aha, wieder einer von denen, die von weit, weit her auf den schnellsten Weg zum Ziel hofften zu gelangen, nämlich zu einem der hundert Meter langen Stiche mit Laien-Prostituierten. So wurde dem dem Fremden, noch bevor er das Wort ausgesprochen hatte, der nächste Weg gezeigt. So mancher Touristen erlebte mitunter ein böses Erwachen, wenn er plötzlich vor den Hundert Meter auf dem Bürgersteig aufgereihten Schönheiten stieß anstatt vor einem nüchternen Gebäude, das zu zweckdienlichen Diensten errichtet worden war.

Aber die Frau, von der ich spreche, war nicht dort. Sie hätte keine Chance gehabt gegen die Einheimischen, die an der großen Durchgangs- und Hauptstraße gen Osten flanierten, promenierten und defilierten. Sie war als Verkäuferin nach Europa gekommen, von Vietnam aus und hatte zwei kleine Kinder bei der Familie zurückgelassen. Ihre Familie, ihr Clan, ihre Dynastie war stark, verlässlich und weit verzweigt, als höchstes Gut und Gebot, Abfangjäger, Trapez und doppelter Boden. Dieses starke Netzwerk, diese Seilschaft hatte es ihr ermöglicht, eine zweite Existenz aufzubauen. Gerade nachdem ihr ungeliebter Mann bei einem Mopedunfall ums Leben gekommen war: Es musste weitergehen, das Leben musste fortgesetzt werden, irgendwie so oder so, natürlich materiell gut, abgesichert, soweit es ging und möglich war. Zumal sie zwei Kinder hatte. Was sie hier trieb, war Handel, nicht mit ihrem Körper, sondern mit Waren aller Art.

Sie kam aus Nordvietnam nach Tschechien, kurz nach dem endgültigen Riss im Eisernen Vorhang, nach dem Fall der Mauer und Scheitern des zweiten Deutschlands, wo sich bereits einige ihrer Landsleute im Zuge der kommunistischen Internationalen Solidarität niedergelassen oder soll man sagen hängen geblieben waren. Mit Hilfe von Landsleuten der ehemaligen DDR hatte sie hier an der Grenze zu Tschechien Fuß fassen können, von wo aus sich florierende Handelsbuden und Textilverkaufsstände betreiben ließen, so schnell abgebaut wie aufgebaut. Grenzen waren schon immer florierende Handelsbastionen. Vor allem bei den großen Einfallstraßen, dieser hier von Westen nach Osten. Hier war es optimal, seine Waren feilzubieten.
Unterkunft brauchte man nicht, man schlief gleich in diesen Verschlägen, hinter dem Kleidertisch, zwischen den Pappkartons, in denen die gleichen Sachen ein- und ausgepackt worden waren.
Keiner von diesen ehemaligen Vietnamesen wollte zurück in seine ehemalige Heimat, einem Entwicklungsland. Vielmehr schaute man, von den neuen in die alten kapitalistischen Bundesländer Deutschlands zu gelangen, sich dort niederzulassen und eine neue Existenz aufzubauen. Mochte die alte Heimat noch so sehr prosperieren, trotzdem würde es Generationen dauern, bis Osten und Westen sich nivelliert, angeglichen und auf gleicher Stufe gestellt hatten.
Ein Unterschied zu West- und Deutschland bestand in Vietnam schon längst. Zwar waren Nord und Süd nach dem Abzug, der Vertreibung der Amerikaner von den Kommunisten überrannt, vereinnahmt und beherrscht worden, aber immerhin hatten sie sich vereint. Sie hatten nicht nur das getan, was Ost und West in Europa noch bevorstand, sie hatten den Sozialismus längst überwunden, überschritten und absorbiert. Trotz des „Sozialismus“ in Vietnam blühte die Einzelwirtschaft und wenn nicht so wie gewünscht, setzte man halt alle Hebel in Bewegung, um als Einzelhändler oder als in einer dieser Branche Beschäftigter sein Glück im entferntesten Winkel dieser Erde zu suchen und zu machen.
Familienunternehmen waren sowieso die erste Wahl schlechthin in diesem Kulturkreis.
Niemand, kein Staat, keine Gesellschaft sorgte sich letztlich um einen, außer der Familie, der Familienclan.

Mit vielen Gleichgesinnten, vor allem weiblichen, die anfangs zu sechst in einem Zimmer mit Stockbetten oder auf Matratzen hausten, die fast die ganze Fläche des kleinen Zimmers einnahmen und kaum Platz ließen für andere Dinge, einen kleinen Tisch und Stuhl, um mal dort einen Tee zu genieße, kam sie in dieses Grenzland zwischen früherer Ost- und Westzone, Tschechien, ein neuer Staat, wie der Name schon ausdrückte, aus Tschechoslowakei entstanden.
Tagsüber stand sie an windigen, breiten Straßen, die von Verkaufsbuden gesäumt waren, die billige Asia-Textilia-Produkte feilboten. Neugierige Blicke von reichen Westlern aus ihren beäugten sie, nicht wissend, ob deren Aufmerksamkeit den billigen Waren oder vermeintlich billigem Fleisch galt. Machte jemand anzügliche Bemerkungen, verwies sie diesen mit einem Fingerzeig nach hinter den Kleiderstangen und Ständen, wo die ehrbaren Hausfrauen ein bescheidenes Zubrot verdienen wollten, um ihre ärmlichen Verhältnisse aufzubessern.
Zur Zerstreuung gingen sie ab und zu, natürlich nur in Gruppen, abends in Bars, Casinos, um die Welt zu sehen. „Angel dir einen reichen Westler, lass dich heiraten und hol dir später deine beiden Töchter nach. Dort haben sie eine besser Zukunft. So hatte der geschmähte Vater gesprochen, mit dem sie sich nach dem Tod der Mutter überworfen hatte, weil er seine Geliebte zur Frau genommen hatte. Warum hatte er nur seine Geliebte heiraten müssen, dumm von ihm, jetzt war die ganze Familie, alle gegen ihn. Konnte man eine Geliebte nicht Geliebte sein lassen, musste man dieses Verhältnis absegnen und legitimieren? Diese Schwiegermutter bedeutete für alle leiblichen Kinder den Verlust des Erbes. Sie sprachen kein Wort mehr mit ihm.

*

Viele reiche Westler machten große Augen und hielten nach allen Regeln der weniger galanten als geschäftlichen Art Hof um die begehrten blanken, seiden-weißen Asiatinnen. Diese Männer erinnerte sie an die Hunde in ihrer Heimat. Wenn sie Hunger hatten, hechelten sie mit heraushängender Zunge. Richtig gefährlich wurden sie, wenn man ihnen einen Knochen vor die Nase hielt und sie zappeln ließ.
Doch ihr sollte es nur recht sein.
In ihrem Fall sollte es einerseits eine geschäftliche Abmachung, andererseits eine romantische Verführung werden, zudem eine Reaktion auf Eifersucht, wenn man an diese leichten Mädchen aus Tschechien dachte, vor allem die mit ihrem dunklerem Teint. Obgleich die blank und samtweißen Asiatinnen eindeutig von den Weißen favorisiert wurden, wurden sie doch nicht so schnell in die Lage versetzt, sich diesem Umfeld anzupassen. Die weißen Männer unterließen offensichtlich nötige Hilfestellung zum Erlernen der Umgangssprache und ergötzten sich lieber an deren hilflosen Herumgestammle. Das R, das fehlte, das L, das dafür eingesetzt wurde – man kennt die Witze. Dadurch waren sie aber eklatant und unüberhörbar gegenüber ihrer Konkurrenz im Nachteil und Hintertreffen was einen größeren Druck beim Bewerbungszeremoniell hervorrief. Die Asiatinnen warfen sich regelrecht an die Freier.
Sex bedeutete ihr selbst nicht viel, ab und zu hatte sie mal eine vergnügliche Nacht mit gutem, reichlichem Essen und Sex gehabt, einmal eine sogar sehr aufregende Orgie, als sie sich mit ihrer Freundin von zwei besonders mit dicken glitzernden Rollex-Uhren protzenden Weißen hat abschleppen ließen und zu viert im Bett gelandet waren, bunt durcheinander, Menage à quatre... – man lebt nur einmal!
Aber noch war alles ein Spiel. Sie lachte viel mit ihren Landsleuten über die eine oder andre Art. wie die notgeilen Männer Westler um sie herumtänzelnden, balzten und verrenkten.
Der eine überhäufte sie mit besonderer Aufmerksamkeit, mit liebevollen Botschaften, Zettelchen an der Rezeption, beim Barkeeper oder sogar auf dem Abtreter vor ihrer Tür. Hinzu kamen SMSs und langwährenden Ansprachen auf der Sprachbox ihres Mobilgerätes – es boten sich viel lustige Anlässe über diese besessene Art des Bemühens, Umgarnens, Umflitterns zu lachen. Das verband mit anderen Vietnamesinnen, das machte einem zu einem Zugehörigen eines anderen Kulturkreises. Vielleicht sogar eines besseren?
Der eine bombardierte sie mit üppigen Geschenken. Wenn er sie ausführte, selbst wenn sie sich nur in einer Hotelbar verabredet hatten, ließ er es sich nicht nehmen, ihr eine kleine Aufmerksamkeit zu überreichen, einen Blumenstrauß, eine Tafel Schokolade, eine kleine Phantasiefigur auf einem Zahnstocher. Kavalier der alten Schule, der er war, musste die Dame niemals die Zeche bezahlen. Seine Anfragen verwandelten sich bald in Anträge, die sie schweigend zur Kenntnis nahm, insgeheim schon bedächtig abwog. Unmerklich wurde sie biegsamer und zugänglicher, erschien der Mann doch so aufrichtig und vielversprechend. Doch gerade deshalb ließ sie sich nicht so schnell über den Tisch ziehen und dehnte das Prozedere so lange wie möglich in die
Länge. Bei einem weniger ernsthaften Bewerber hätte sie bestimmt schon längst eine schnelle Nummer geschoben und damit aus die Maus. So lange wie möglich ablehnen, auf die lange Bank schieben, abwarten, das erhöhte den Einsatz, die diese Geduld lohnte.
Nach und nach wurde sie sich sogar so vertraut, dass sie miteinander schwiegen, vielmehr saßen sie zusammen an der Theke und er spielte leidenschaftlich am Geldautomaten, was sie überhaupt nicht störte. Sie hatte Zeit, sich von Ruhe und Besinnlichkeit überwältigen zu lassen, wobei sie in die Szenerie um sie herum eintauchte, die sich wie ein Filmset mit verheißungsvollem Plot öffnete.
Unzählige Alkoholika in buntesten, eigentümlichsten Formen und Farben auf dem Regal vor der Spiegelwand aufgereiht, vielfach kopiert und sich ins Unendliche vervielfältigend. Davor das Treiben des Barkeepers mit dem blitzenden Chrom-Becher, dessen Anblick sie fesselte und versinken ließ: tiefschwarzer Anzug, weißes Hemd, dezente Fliege, lächelnde Ernsthaftigkeit - bis sie wieder von dem Funkeln und Glitzern des blitzenden Cocktail-Chrombechers gefangen wird und weg fliegt in eine glänzende Zukunft und eintritt in die große weite Welt, in der sie schon mit einem Bein steht. Oder nicht?
Aufwachen!
Vorsicht!
Eines anderen Tages.
Die Zeit bis zum großen Moment, der heute sein würde, überbrückte sie mit einer asiatischen Freundin. Das Gesprächsthema sprudelte das aus einer unerschöpflichen Quelle: homosexuelle Männer und Paare. Einer von ihnen war der Barkeeper, der gerade ganz ungeniert einem Gast, vermutlich seinen Liebhaber, einen Begrüßungsschmatz auf die Lippen drückte. Die staunenden Beobachterinnen konnte ihr kichern nur mühsam unterdrücken.
Das war das Lieblingsthema der Asiatinnen. Das Phänomen, Homosexualität, gar zwischen Frauen, war in ihrem Land undenkbar. Eine Familie, die so etwas duldete, war für immer mit einer unauslöschlichen Schande behaftet. Von daher kam so etwas in ihrem Herkunftsland praktisch nie vor. Aber im Westen umso mehr und das war ja auch der seltsame Westen. Da war alles möglich! Faszinierend und abstoßend zugleich. Aber je länger man hier lebte, desto mehr überwog zugegebenermaßen die Faszination.
„Da kommt ja dein Galan!“, sagt ihre Freundin und kichert hinter vorgehaltener Hand so laut, als müsste sie sich übergeben. „Aber er ist wirklich ein schickes Exemplar!“ Galant rutscht sie vom Barhocker und eilt davon, um die Arena für die nächste Runde freizugeben.
Wahrscheinlich würde dies heute die wichtigste sein. Sie riss sich zusammen, straffte den Rücken: Aufpassen, denn es ging um nichts Geringeres als ihre Zukunft, sich den Grundsätzen einer korrekten Gesprächshaltung unterwerfen, wie sie es gelernt und wie ihr Vater es ihr immer wieder eingebleut hatte: Überlege zweimal, bevor du antwortest und überlege ein drittes Mal, wie du deine Antwort allgemein und unverbindlich wie möglich halten kannst.
Wohlgefallen überkommt sie, je näher er kommt, ja, sie hat allen Grund, ihn liebevoll zu taxieren, wie eine Mutter ihr Kind mustert, das liegt an ihrer Erziehung, Mensch, wie lange ist es her, dass sie ihre Kinder so musterte? Als sie ihnen das Anziehen beibrachte, sie vierundzwanzig Stunden am Tag beaufsichtigen und kontrollieren musste. Obwohl es nur ein paar Jahre her sind, fühlt es sich wie ein Jahrzehnt an.
Anzug, Hose, Bügelfalte – oho, er bügelt sogar sehr Hosen sehr sorgfältig - und erst seine braunen, spitz zulaufenden Halbschuhe, die glänzten wie Sonnenstrahlen auf dem Meer. In seiner Anzugtasche steckte, wie die Krone eines Königs, ein buntes Tuch aus Papier oder Stoff. Wie stilvoll!
Oft half es, bevor man antwortete und Zeit gewinnen wollte, die Worte des anderen mit anderen Worten zu wiederholen, der dann meistens bestätigte, was er gesagt hatte und noch einmal zum Nachdenken über sein Gesagtes angeregt wurde. Oft auch noch etwas zu ergänzen und anzufügen half. Wie Tao Te King sagte: „Viele Worte, manch Verlust. Am besten, man behält sie in der Brust!“
Dann der Duft!
Man riecht zwar das leicht beizende Rasierwasser, aber das Parfüm ist betörend, vielleicht benutzt er auch ein Creme. Andererseits, selbst wenn er noch so intensiv nach Rasierwasser riechen würde, hätte es sie nicht gestört, sie liebt starke Gerüche.
Er ist sich etwas wert, das sieht man, obwohl er ein bisschen nach Bier riecht, aber das gehört dazu. Er setzt sich zu ihr an die Theke, ohne vorher nicht formal-höflich „Guten Abend“ und "Darf ich Platz nehmen?" gesagt zu haben. Das gehört dazu! Dann die Frage nach ihrer Befindlichkeit, den familiären zudem, ihre zwei Kinder, bevor er nach den Geschäften fragte. Obwohl sie schon zigmal miteinander geplaudert haben, wahrte er immer noch eine gewisse Distanz, ist nicht plump vertraulich. Das gefällt ihr sehr gut! Ihr scheint es, dass sie es ist, die letztlich die markanten Schritte zu mehr Vertraulichkeit macht, sie bestimmt den Takt ihrer Beziehung, er wirkt geradezu schüchtern, zurückhaltend, aber auch abwartend.
So setzt er sich auf den Barhocker neben ihr, ein Bein über das andere geschlagen, ihr zugewandt, ganz charmante Aufmerksamkeit. Diese Haltung muss unbequem sein, wie bei Frauen, die auf Pferden reiten, die setzen sich manchmal so darauf, obwohl es auf Dauer sehr unangenehm sein musste, aber er verharrt den ganzen Abend in dieser Haltung. Hat er allerdings zu viel intus, dann wechselt er in eine bequemere Stellung, nämlich Beine auf das Geländer der Theke am Boden und oft schwer betrunken die Oberarme auf die Bar gelegt. Aber das ist nur zu vorgerückter Stunde der Fall, vorher ist er stets respektvoll und doch locker.
Ein interessanter Typ von Mann!
Am besten gefällt ihr, dass er den Eindruck macht, alle Hände voll zu tun zu haben. Er müsse plötzlich ein Geschäftsgespräch am Telefon führen, dringend etwas in sein Notizblock vermerken. Imposant. (Dabei, was sie nicht ahnt, steckt er in geschäftlichen Kalamitäten: sein Geschäftspartner will abspringen). Während er in gebeugter Haltung auf den Knien schreibt, stellt sie mit Genugtuung fest, dass selbst neben der Korrektheit seines Anzuges, des Hemdes, der Hose, der Schuhe, die Kleinigkeiten stimmten: der Kraken ist nicht verrutscht, steht immer da, wo er stehen soll. Über dem dünnen Pullover steht sie noch davor und ohne oder Fliege hat sie ihn noch nie gesehen. Für sie sind das Symbole und Ausdruck für einen Kaufmann der alten Schule. Er versteht auch hin und wieder, ein paar englische Brocken ins Gespräch zu werfen, (in Wahrheit hasst er die Engländer) nicht oft, dann hätte es protzig und angeberisch geklungen. (Wahrscheinlich tat er dies nur, weil er wusste, sie verstand überhaupt kein Englisch. Aber heraushören tat sie es schon.)
Er gibt vor, viele Freunde in der Tschechei zu haben (die Bedeutung dieses Ausdrucks ist ihr nicht geläufig, aber in ihrem Umfeld gängig), hat für jeden ein paar nette Worte übrig, erweckt den Eindruck, viele Bekannte zu haben, behandelt auch einige Leute als solche, indem er sie (plump) vertraulich anspricht und ihnen auf die Schulter klopft. Es wirkt aber trotzdem noch zurückhaltend. Ach, dummerweise versteht sie noch zu wenig von dieser Sprache, Deutsch. Will sie aber ihr Deutsch verbessern, hilft er ihr nicht. Er lacht nur und meint. „Schatzi, so wie Du sprichst, passt das schon!“ und lacht noch mehr. Eigenartig, aber das „Das-passt-schon“ versteht sie mittlerweile. Damit gibt sie sich zufrieden.
Später findet sie heraus, dass er Englisch nicht mag und auch sonst nur wenig Kontakt zu anderen Mensch pflegt. Er hat eigentlich nur Kontakt zu Leuten, mit denen er Geschäfte macht, das sind auch seine Bekannten und Freunde. Ausländer, in diesem Fall Tschechen sind ihm suspekt. Ausländer mag er überhaupt nicht, die sollen bleiben, wo sie herkommen, jedenfalls nicht nach Deutschland kommen, es sei denn, sie sind familiär hier gebunden, sprich, mit Deutschen verheiratet. Selbst da macht er Ausnahmen, findet, es solle nicht sein, dass ein Dunkelhäutiger deutsches Blut „beeinflusst“. Sie sollten nicht geheiratet werden.
„Aber das ist zum Glück bei dir nicht der Fall!“, sagt er und lacht.
Sie denkt über seine Worte nach, fragt ihn noch einmal, er brabbelt etwas, dass denen später doch leid tun würde, dunkelhäutig zu sein, denn sie hatten unter den Vorurteilen der Engstirnigen und „der Mehrheit“ zu leiden. „Schade um sie!“
Sie wiegt den Kopf wie ein Vogel, der einen von links und rechts und oben und unten betrachtet und sagt sich: klingt eigentlich vernünftig. Schließlich kennt sie Kindern und weiß, wie brutal, gemein und sadistisch sie sein können. Kinder kennen kein Pardon.
„Die müssen die Suppe auslöffeln!“, sagt er und hebt sein Pilsglas, um ein Bierchen zu zischen. Aber ganz. Er kann erstaunlich viel trinken. Er stellt es ab, seufzt und atmet aus, als hätte ein Verdurstender gerade nach 60 Tagen wieder Kontakt mit Flüssigkeit gehabt,, sagt sie, auch wenn sie ihn manchmal ermahnt, weil sie den Eindruck hat, er habe schon zu viel hinter die Binde gekippt. „Eins geht immer noch!“ , und lacht dazu. Sie denkt. „Männer!“
„Aber was ist mit mir?“, sagt sie. „Wie mit Dir?“
„Wenn wir heiraten!?“
„Na, wir wollen doch keine Kinder!“, er hat sein Pilsglas schon an die Lippen gesetzt, wartet noch, was sie sagt, bevor er trinkt. Nach ihrer Antwort kann er zufrieden loslegen.
„Ja!“, sagt sie. „Weißt du, wenn sehr viel Licht ist, wie im Sommer, dann werde ich ganz schnell dunkel!“
Plötzlich sieht er sie mit weit aufgerissenen Augen an.
Sie war käseweiß und kreidebleich, nicht wahr, doch eine Asiatin!
„Aber im Winter bin ich wie jetzt. Weiß!“
„Genau!“, prostet er ihr wieder zu. „Auf die weiße Hautfarbe!“
Sie entgegnet noch, sie würde ganz schnell eine etwas dunklere Haarfarbe im Sommer, bekommen bei starker Sonneneinstrahlung halt, wurde aber genauso schnell wieder käseweiß im Herbst, sowie die Einstrahlung nachließ.
Dazu sagt er jetzt nichts mehr.
„Na wenn schon!“, denkt er. Wo er wohnte, war es meist dunkel, neblig und düster. Da war es kein Problem, dass man ihn mit einer Negerin als Lebensgefährtin schief anschaute, denn sonst – Pfüdie Gott!
Er nahm noch einen großen Schluck.
Sie macht ihn auf einen interessanten Aspekt ihrer Augen aufmerksam.
Ihre Augen seien sehr dunkelbraun mit einem Schuss Gelb. Aber eher sehr, sehr dunkles Gelb.
Er kommt näher, grinst breit. „Ja, und um die Iris, die so dunkel ist wie das Schwarze Meer, ist ein noch dunklerer Ring. Du bist wie ein kleiner Äffchen aus dem Urwald!“ Er lacht schallend und schlägt sich auf die Knie.
Sie lacht auch, sie findet das Wort „Affe“ auch sehr lustig. Sie klatscht fröhlich in die Hände.
Sie ist sozusagen ein anderer Mensch, sie verkörpert eine besondere Gattung, vielleicht ist sie ein ganz besonderer Mensch, sie die Vietnamesin, Vertreterin der asiatischen Rasse.
Sie findet das sehr amüsant, sagt er. Sie fasst das als Kompliment auf, lächelt, freut sich und legt ihre Hand auf seine Knie. (Vielleicht hätte man es auch anders interpretieren können, weniger schmeichelhaft, fast rassistisch?)
Plötzlich ändert sich die Szene.
Dunkel-geschminkte, schwarze Augen blitzten, kurze asymetrisch geschnittene Kurzhaarschnitte glänzten vor Gel. Der Busen-Ausschnitt stand großzügig offen. Die klebrig geschminkten Lippen, geradeheraus, schamlos-direkt wirkten aufreizend, anmachend, erschütternd, notgeil bis ins letzte Knochenmark. Die Typen aus dem Westen. Diese scharlachroten Münder, inmitten dieser stets zu einem verzerrten, lüsternen Grinsen geöffneten Gesichter, diese fuchtelnden, mit Gold- und Silberreifen behängten, knochigen Arme und Hände, die in den Hotelzimmern mit Zeichen und Gesten, Massage und dergleichen anboten, machten sie nervös.
Steckte Eifersucht dahinter? Vor sich selbst sagte sie sich, sie kenne keine.
Jedenfalls begann sich ihr Blick von ihm zu ändern.
Dieses großzügige Trinkgelder, wo er doch ständig unter Geldmangel leidet, wie er oft klagte, würden ihn ruinieren – er erschien ihr wie ein kleines Kind , dem man sein Spielzeug wegnehmen musste. Und diese Weiber nutzen das schamlos aus, er spendiert ihnen, wann immer er sie sieht, einen Drink.
„Oh, Albert! Süßer!“ Sie kann es nicht mehr hören, sie hasst diese Zigeunerinnen. Oft muss sie ihn in die Rippen stoßen, damit er merkt, was er wieder falsch macht. Kurz, mehr als Verantwortung beginnt sie für ihn zu empfinden, die Erzieherin in ihr erwacht und sie macht ihm Vorschriften, Vorschläge, wie er besser mit seinem Geld haushalten kann, formuliert Einschränkungen, die sich gewaschen haben.
Er lächelt darüber, als sei er besonders amüsiert.
Er fühlt sich ernst genommen, in Besitz genommen, endlich die ersehnte Wende in seinem leeren Leben, wieder in festen Händen zu sein – na also, es kann losgehen!

Sie fühlte sich befremdet, als sie beim ersten Mal seine Wohnung betrat, besonders das Schlafzimmer ging ihr gegen den Strich. Er knipste lächelnd ein paar Lampen auf, die mit billigem roten Schirm bespannt waren. Und dann die völlig geschmacklosen, japanischen Wandschirme, die sein Bett umstellten; der Bettbezug mit chinesischen Schriftzeichen bedruckt - völlig geschmacklos! Es sah aus, wie bei den berüchtigten leichten Mädchen.
Wahrscheinlich hatte er sich dieses Accesseoir angeschafft, damit sie sich heimisch fühlte: asiatischer Stil undsoweiter. Sie jedoch hatte sich auf deutschen Stil gefreut. Für beide war es eine Enttäuschung, am meisten für ihn, der Umstände gehabt hatte.
Er bemerkte, dass sie erstaunt dreinschaute und das Gesicht verzog.
„Ich dachte, Du magst so etwas.“
„Ja, schon!“
Das Licht war rod gedämpft wie in einem Bordell, in einigen Ecken blinkten rote kleine Lichter auf einer Girlande. Sie registrierte zwar freudig seine Mühen, die er sich gemacht hatte. Weil extra eingerichtet, würde das Zimmer nicht für immer derart geschmückt sein müssen. Sie würde einiges ändern müssen, wenn sie hier einzog. Das wusste sie jetzt.
Wie eine Gestalt von einem anderen Planeten nahm er sie wahr, diese kleine, mausgraue Gestalt. Hauptsache, sie war mal viel jünger war, er spürte schon die ersten Zipperlchen des Alters. Er hoffte, dass sie eine gute Ehefrau werden würde, vor allem wenn es bei ihm losging mit den Gebrechen. Er rechnete damit, dass das in seinem Fall unvermeidlich sein würde, bei seinem Leben als eigenständiger Unternehmer, das von einigen Turbulenzen erschüttert worden war. Das das lag in der Natur der Sache, dafür hatte er gutes Geld verdient. Aber wenn da nicht diese riskanten Aktienspekulationen gewesen wären, es sah düster aus.
Hoffnungsvoll und ängstlich schaute er auf sie: Ob das gut gehen würde?

Pentzw
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Die sogenannte Wende

Beitragvon Pentzw » 17.04.2025, 23:04

Plötzlich stand sie unter Druck.
Nach dem Fall der Mauer kamen hierher an die Grenze zwischen Tschechien und Deutschland Kleinhändler, manchmal Vietnamesen, aber auch solche, bei denen diese beschäftigt wurden. Mehr oder weniger sozialversichert, am Angang noch nicht, doch langsam schon.
Die Veränderung trat ein, als immer mehr Deutsche und Tschechen in diese Nische drängten, zuerst als eigenständige Händler und später als Angestellte, die selbst gerne bei einem vietnamesischen Arbeitgeber angestellt wurden, da sie der Verkehrssprache mächtig waren. Mit der Professionalisierung wurde die Überwachung immer strenger. Zunächst fanden immer öfter Inventuren statt, nicht nur die große am Jahresende, sondern alle Quartale. Schließlich wurden sogar eine für einmal die Woche für wechselnde Produkte durchgeführt, wodurch die Überwachung effektiver geleistet werden konnte. Das war durchaus berechtigt, die Mitarbeiter und Angestellten verkauften viel unter der Hand, oder nahmen etliches mit sich nach Hause, um ihre Familienmitglieder damit zu beschenken. Mochten dadurch „Diebstähle“ seitens der Angestellten erschwert werden, aber diese wöchentlichen Inventuren bedeuteten erheblicher Mehraufwand an Arbeit und Stress.
Auch der Rahmen veränderte sich auffällig. Man stellte beispielsweise neben den Tischen Ständer auf, au die Fahnen mit dem grün-weißen Firmenlogo im Wind flatterten.
Die Tische, die früher nur lose nebeneinandergestellt waren, wurden verbunden, vernagelt und verzweigt. Sogar ein Dachgestell aus Holz bekamen sie - so dass alles eher Ständern und Buden glich. Man begnügte sich nicht mehr damit, die Textilien abends nur mit bespannten Planen zu schützen, sondern es wurde zwischen Dach und Tisch ein Rollladen angebracht, den man morgens und abends zu- und aufschieben musste. Die Tendenz ging also immer mehr in Richtung abgeschottete Kioskbude. Am Ende hing auf der Bude wie ein Krone ein triste Neonröhre. Sie sollte wohl Diebe abschrecken.
Bald traten Händlerketten auf. Joint-Ventures zwischen Händlern aus Deutschland und Tschechien, die Maschinen einführten, die die Arbeit erleichtern sollten. Elektronische Geldkassen erleichterten die Rückgabe, die Ausgabe einer Quittung, au der anderen Seite jedoch eine effektive Überwachung. Jeden Tag zu Schichtende musste damit Rechenschaft über den Umsatz abgelegt werden, da die Waren bald gekennzeichnet und mit einem EAN-Code versehen worden waren. Der Strichcode musste natürlich jedes Mal eingegeben werden, wenn die Ware den Besitzer wechselte.
Die Umsatzrechnung erstellt die Software eines Computers, mit dem die elektronische Kasse verbunden und von der Zentrale in Prag aus überwacht wurde. Für die Handhabung von Reklamationen, Rückbuchungen und schließlich Abrechnung bedurfte es bessere Lese- und Rechtschreibkenntnisse als die Asiatinnen besaßen. Vielen fiel es überhaupt schwer, diese schwierige Sprache Deutsch zu erlernen, manche gaben sich nicht lange damit ab, waren sie das Lernen nicht gewohnt und empfanden bald überdrüssige Langeweile und Verdruss dabei.
Das begann sich im Zuge der Rationalisierung natürlich zu rächen. Sie gerieten gegenüber anderen Mitarbeitern ins Hintertreffen, die sich sprachlich und rechnerisch gut auskannten. Es kam zu Zwischenfällen, Pannen, Missgriffen, die diese Kolleginnen ausnutzen, um die anderen ins Hintertreffen zu bugsieren oder um diese bei den Vorgesetzten ins schlechte Licht zu setzen. Das Anschwärzen wurden gemäß der Firmenphilosophie gefördert. Je mehr Konkurrenz unter den Mitarbeitern, desto weniger Solidarität gegen die Hierarchie. So war oft nicht Leistung und Eignung Maßstab, um in dieser aufzusteigen, sondern wer fixer und gewiefter vorging, um die anderen, die hinterher hingen, bloßzustellen und anzuschwärzen. Denunziation zahlte sich in bare Münze aus.

Morgens stürmte die Kollegin heran, warf ihren dicken Schlüsselbund auf den privaten Ablagetischen ab, daneben das dicke aufgeplusterte Portemmonaie. Diverse Scheck- und Kreditkarten stakten heraus. Neben Bargeld und Ausweis, Geschäfts-, Pay-Back- und Kundenkarte etlicher Discounter war es aufgeplustert wie die Ochsenfrösche, die es hier in der Gegend gab.
Heute gab es Zunder!
Sie strich sich mit einer Hand durch ihre schulterlangen, pechschwarzen Haare und gähnte erst Mal ausgiebig. Dabei rieb sie sich an der stilisierten roten Rosentätowierung im Nacken – juckt es sie oder war dieses der Schalter zum Munterwerden?
Sie war gern schwarz gekleidet, etliche durch Nase, Ohren und sonstwo gezogenen Piercings prangten aus der Haut. Über den Rücken und Nacken zog sich die Tätowierung eines abstoßenden Spinnennetzes. Nimmermüde zelebrierte sie ihre liebste Geste, die mit den einleitenden Worten begleitet waren: „Schaut mal her.“ Dabei nahm sie ein Bündel Geldscheine aus der Kasse, steckte sie in die Hosentasche, zog sie wie eine Pistole heraus und entfaltete sie blätternd wie Spielkarten: „Seht her, ich bin Ausländer. Hab viel, viel Geld. Was willst du, dass ich bezahle?“
Sie gab offen zu, in Rostock bei den Ausländerkrawallen mitgemischt, das Haus, in dem Vietnamesen hausten, gestürmt zu heben, während die biederen Anwohner vor Freude und Anfeuerung dazu geklatscht haben.
„Die Schlitzaugen haben sich an keine Ordnung gehalten. Sie sind in alle Keller der Nachbarschaft eingebrochen, um sich Hehlergegenstände unter den Nagel zu reißen. Da musste ein Fanal gesetzt werden!“
„Ich nicht glauben, dass unsere Landsleute in die Keller eingebrochen haben. Gut, feiern auf der Straße, das kann ja. Aber nicht Diebstahl.“
„Mag sein. Dann waren es halt die Zigeuner. Aber wir mussten uns wehren. Die Polizei hat sich einen Scheiß darum gekümmert. Der DDR-Staat hat schon immer die Hand über die Ausländer gehalten, internationale Solidarität hieß dies, und wir Einheimischen konnten schauen, wo wir blieben. Als dann die Mauer gefallen ist, dann ist halt der Sturm losgebraust.“
Die Grotte, die Gruftie, die Schwarze Spinne, wie immer man sie nennen mochte, hatte ganz brav zwei Kinder von zwei Vätern allein großgezogen, sich vor Stolz keinen Unterhalt von diesen bezahlen, weil sie sich mit ihnen zerstritten hatte, aber sich von der Sozialbehörde unterstützen lassen. Sie war sehr stolze auf ihre beiden wohlgeratenen Söhne, die es bei der Bundeswehr zu Berufssoldaten gebracht hatten.
Ihre Reden entfachten in ihr Angst, die sich aber bald als unbegründet herausstellen sollte. Denn von ganz anderer Seite wurde ihr eine Breitseite geschlagen, die sich gewaschen hatte, von der unscheinbar unbedarfteren zweiten Kollegin.
Unterschied sich nicht nur habituell, nämlich ausladende dicke Körperfülle trifft auf dünnes Drahtgestell, so in anderer Weise noch fundamental. Während die eine sich in gegen jegliche Ungerechtigkeiten aufs heftigste echauffierte und den Vorgesetzten am liebsten die Augen auskratzen wollte, kuschte die andere und unterwarf sich gegenüber jeder noch so demütigenden Regelung. Sie war nicht nur scheinbar phlegmatisch, sondern fraß den Vorgesetzten sozusagen ergeben aus der Hand. Ihre gemütliche, devote Art verschleierte allerdings ihre Gefährlichkeit gegenüber andern Kolleginnen.
Zunächst strahlte ihre Gegenwart Gemütlichkeit aus. Unter ihrer Adipositas schien sie nicht zu leiden, sondern nahm sie überhaupt nicht wahr. Sie rauchte wie alle anderen, aß minderwertiges Fast-Food wie alle anderen Fast-Food und wie sie treuer Fan des heimischen Fußball-Clubs. Ein sehr durchschnittlicher Mensch.
Demnach schien sie äußerst arglos zu sein. Sie schüttelte nur erstaunt den Kopf darüber, dass ihre Kollegin ausländerfeindlich war. Ausländerfeindlichkeit war ihr im Grund fremd. Was gingen ihr die Ausländer schon an? Sie arbeiteten, kauften bei ihr ein und ermöglichte ihr so ihren Lebensunterhalt – na also! Wenn gewisse Ausländergruppen in die Keller anderer Leute rappzappzaza machten, ging ihr das am Arsch vorbei, solange ihr eigener Keller verschont blieb. Sie sah nicht über ihren Tellerrand hinaus. Aber auf ihren Vorteil.
Sie war stark übergewichtig, ein Phänomen, dass in den letzten Jahren zugenommen hatte. Möglicherweise weil sie und ihre Eltern das billige Discounter-Essen zu sich nahmen, das mit Geschmacksverstärkern und chemischen Zusätzen versetzt war. Wer wusste dies schon genau? Die Regierung veröffentlichte darüber keine Zahlen, Fakten oder Einsichten. Die Wirtschaft konnte tun und lassen, was sie wollte.

Eines Tages hatte die Kratzbürstige vergessen, einem Kunden die Quittung zu überreichen. Sie legte sie in eine Ecke und vermerkte, dass man sie der Kundin aushändigen solle, sobald diese danach frage. Davon war auszugehen, da es sich um einen sehr hohen Betrag handelte. Aber kein Problem – dies geschah denn auch.
Eine Woche später passierte der Asiatin dasselbe Malheur, das ihr noch nie untergekommen war. Wie ihre Kollegin zuvor legte sie die Quittung in eine bestimmte Ecke, damit man sie der Kundin bei Nachfrage aushändigen werden könne. Als die Kundin jedoch danach fragte und die Asiatin selbst im Dienst war, befand sich die Quittung nicht mehr an ihrem Platz. Aber der Wind hatte nicht wegwehen können.
Außer dass es hochnotpeinlich war, konnten sich daraus auch schwere geschäftliche Nachteile ergeben, sollte die Kundin auf dem Beleg bestehen. Würde die Verwaltung, also die Vorgesetzte einen zweiten Beleg ausstellen? Davon war sehr auszugehen. Welche Angestellte schädigte schon den Ruf ihrer eigenen Firma, wenn es sich vermeiden ließ? Zunächst konnte sie die verärgerte Kundin vertrösten. Sie würde sich darum kümmern, es würde am nächsten Tag sofort erledigt werden.
Sie bat die Chefin, einen neuen Bon auszustellen. Doch diese lehnte ab. Zu allem Übel gab die Dicke freimütig zu, die Quittung weggeworfen zu haben. Absichtlich!
Darüber beschwerte sich die Asiatin natürlich bei Frau Marondel, ihrer direkten Vorgesetzten. Der Name erinnerte an eine zarte, bunte Schmetterlingsart, aber ihre kalte Art war eher die einer Echse: völlige Kaltblütigkeit. Zudem noch einer jener Echsen, die beißendes Gift in ihren Speichel enthielten.
Sie hatte es nicht befürchtet, weil nicht ahnen können, nun aber offenbarte diese ihre wahre Natur: Sie stellte sich unverhohlen auf die Seite der Ungerechtigkeit, der Dicken.
Als die ungeheure Sache geklärt war, wandten sich die beiden, die Dicke und Frau Marondell von ihr ab und sie hinter dem Berg von Karton im gedämpften Ton: „Wenn es ihr nicht passt, kann sie ja verschwinden.“ Immerhin war es ihr nicht direkt ins Gesicht gesagt worden. Aber sie wusste nun definitiv Bescheid.
Sie konnte noch froh sein, dass die Vorgesetzte und Dicke immerhin die Pietät hatten, sich nicht offensichtlich über ihren Schaden zu freuen, den sie verursacht hatten.
Danach entstand ein sehr eisiges Schweigen im Kreis der Mitarbeiter. Eine Front bildete sich: hier die zwei asiatischen Mitarbeiterinnen, dort die zwei deutschen. Das war mindesten so belastend wie offener Krieg. Das Arbeitsklima war auf minus Null Grad herabgesunken und äußerst ungemütlich. Ab jetzt ging sie nur mehr sehr ungern arbeiten. Es war nur zu hoffen, dass es nicht noch schlimmer werden würde und dieser Vorfall einmalig war.
Je länger der Abstand zu diesem entstand, desto eher entstand der gegenteilige Eindruck. Dieser Vorfall war nahzu geplant worden, denn er passte zu gut ins neue Konzept der Filiale.
Es dauerte aber noch Wochen, bis ihr das klipp und klar wurde.
Sie war einfach naiv. Mit dem Vorfall war nicht zu rechnen gewesen, kaum wie aus heiterem Himmel, eine Gelegenheit der offenen Konkruenz, die genutzt worden ist, mehr nicht? Oder? Diese Einschätzung verblasste immer mehr, als die Chefin einfach zu offensichtlich darüber gefreut hatte, dass zwischen den Mitarbeitern ein solch zerstörerisches ausgebrochen war. Und weitere Vorfälle häuften sich, in dem Frau Mondel diesen Umgang nicht nur duldete, sondern nachgerade zu förern schien.
Sie fragte sich, wenn sie wieder einmal unverhofft verletzt und benachteiligt worden war: Wie konnte ein Mensch nur so gemein sein? Sie hätte besser daran getan, sich zu fragen: Wie konnte ich nur so naiv sein?
Bald nahm die unkollegiale Kollegin den Platz als Filialleiterin ein, den bislang die Kratzbürstige als Dienstälteste innehatte. Damit war so ziemlich alles, aber auch wirklich alles klar. Diese Umstrukturierung zeigte eine klare Kontur und fügte sich wie in einen logischen, von langer Hand geplanten Vorgehen und Ziel. Die hinterhältige Entwendung der Quittung war bewusst zum Schaden der Asiatin geschehen. Man hatte damit gerechnet, die Geschäfte ohne die unqualifizierten Asiatinnen weiterzuführen, obwohl diese sich bestimmt nichts hatten zuschulden kommen lassen.
Im Gegensatz zum renitenten Verhalten der Schwarzen Spinne. Aber diese stand ja schon länger auf der Abschlussliste und man hatte deshalb mit ihr Nägel mit Köpfen gemacht.

Doch diese war nicht dumm und plante im Gegenzug einen lukrativen Abgang. Dabei spielte sie alle Mitarbeiter, Frau Marondel, die Dicke und die Asiatinnen aus. Denn ihre Degradierung hatte ihr die Augen geöffnet. Sie wusste, ihr Bleiben ist nicht länger von Dauer. Also wehr dich und zeig Zähne!
Die hatten es in sich.
„Lieber ein Abgang mit Ach und Krach, als wie ein Depp behandelt zu werden, oder über den Tisch gezogen, mit einem Tritt in den Arsch aus dem Geschäft geworfen zu werden“, sagte sie eloquent zur Asiatin und spielte auf etwas an, was sich als ein genial eingefädelter Coup und Schachzug herausstellen sollte. Allerdings viel, viel später – als es schon zu spät war zum Reagieren.
Plötzlich geschahen Dinge, die bislang nicht aufgetreten war, nicht im mindesten.
Eines Tages wurden ein Pack wertvoller Lottoscheine vom Tresen entwendet. Dies war möglich, da die Verkäuferin zwischenzeitlich zum Warenholen hinter dem Kartonberg gehen mussten, um etwas herbeizuholen. Diese Gelegenheit hat möglicherweise ein Dieb ausgenutzt.
Dies erschien jedoch höchst unwahrscheinlich.
Der Vorfall trug sich zu während des Schichtwechsels von Morgen und Nachmittag, bei dem zwei Verkäuferinnen anwesend waren. Es schien unmöglich, dass einem Dieb das Husarenstück gelungen war, in den Plastikbehälter auf dem Tresen zu greifen und zwar in dem er sich die Fußspitzen stellen musste und hinter der Plastikbox nach vorne zu greifen, um daraus einen Stoß gebündelter Lottoschein zu nehmen, a) ohne dabei verräterische Geräusche zu machen und nicht schon entdeckt werden, da das Verschwinden nur wenige Sekunden dauerte. Sicherlich, es war unglaublich, aber möglich!
Es blieb der Eindruck bestehen, dass die Kratzbürstige die Lottoscheine unter den Nagel gerissen hatte, um einen lukrativen Abgang aus dem Geschäft zu veranstalten. Sie hatte ja allen Grund, beleidigt und ärgerlich zu sein. Aber deswegen zu stehlen?
Ihr wäre dies unmöglich, total zuwider gewesen.
Nur, der gleiche Vorfall geschah einen Tag später in einer anderen Filiale. Der Dieb klapperte die Filialen ab, um sich auf diese Weise zu bereichern? Dies schien ganz so!
Doch ein erneuter, ähnlicher Vorfall mit der Kratzbürstigen warf diese Vermutung wiederum um den Haufen. Einen Tag später wurden Zigarren vor der Nase der zwei anwesenden Verkäuferinnen entwendet, der Dicken und der Spinne.
Das sprach hinwiederum gegen die schwarze Spinne. Sie gestaltete ihren Abgang ganz schön dreist. Oder?
Sie hatte sich immer beschwert, dass sie nicht wie vergleichsweise wie eine Wessi eingestuft und bezahlt wurde, nur weil sie im Osten die Ausbildung gemacht hatte. „Das ist eine große Ungerechtigkeit.“ Die Asiatin verstand dies auch nicht. Scheinbar wurden die sogenannten Ossis benachteiligt. Obwohl sie doch beide Deutsche waren. Aber Ossis wurden gegenüber den Wessis benachteiligt und die das Beispiel der Kratzbürstigen zeigte, dass diese es jenen heimzahlten. Das war nur zu verständlich!
Im Nachhinein war es der Asiatin ziemlich klar, dass die Sache wirklich geplant gewesen war. Auch die Entwendung in der anderen Filiale. Dort arbeitete eine Kollegin, gleichfalls in schwarzer Montur auftretend, die zwar keine Ossi war, aber eine, die auch nicht mit ihrer Kritik hinter Berg hielt. Sie war schon älter, die hektische Arbeit stand ihr als Schweißperlen auf der Stirn geschrieben. Sie war mit der Spinne per Computer-Software ständig in Kontakt. Konnte es nicht gewesen sein, dass die beiden einen Komplott geschmietet hatten und jeder für sich zugeschlagen hatte?
Dagegen war natürlich die Theorie im Schwange, dass ein herumfahrender flinker Langfinger zugeschlagen hatte.
Welche Version die Wahrheit war, würde man nicht mehr erfahren.

Sie begriff sehr wohl, dass es für an der Zeit war, sich eine neue Aufgabe zu suchen.
Doch bis dahin hatte sie einiges auszustehen. Sie befand sich nämlich nun im freien Fall.
Nicht, dass die Vorgesetzte sie schief ansah, aber die Mitarbeiter machten ihr das Leben so schwer wie möglich. Wundert es einen, wenn sie von oben einen Freibrief ausgestellt bekommen hatten?
Zunächst wurde ihr der Zugang zum kleinen Tresor unter dem Tisch verweigert. Darin wurden die Einnahmen des Tages deponiert, die am Ende der Woche von einem Sicherheitsdienst abgeholt wurden. Die Mitarbeiter durften ihre Wechselgeldkasse darin deponieren. Sie durfte dies nicht mehr.
Dazu mussten ihre privaten Sachen daraus entfernt werden.
Selbst als man danach in dem Tresor suchte, um eventuelle Dinge, Geld oder sonstiges zu entfernen, durfte sie das weder selbst tun noch beaufsichtigen. Die neue Filialleiterin erledigte dies mit einer Neueingestellten. Sie meinte, sie habe zu viel um die Ohren, was stimmte, um darauf noch Rücksicht zu nehmen. Es gab auch keine zeitlichen Überschneidung, dass sie und die neue Chefin es hätten gemeinsam machen können. Alles musste schnell, schnell gehen, seit dem die neue Filialleiterin sich in ihr neues Aufgabengebiet einarbeiten musste.
Nicht, dass sie glaubte, es hätte sich noch etwas von ihr im Tresor befunden. Aber genau wusste sie es freilich auch nicht. Von daher fand sie das Verhalten der Chefin nicht in Ordnung.
Sie beschwerte sich.
„Bianca kann bestätigen, dass sich kein Gegenstand von dir im Tresor befand. Was willst du noch? Es gibt keinen Grund, sich aufzuregen. Oder willst du mir etwa etwas unterstellen?“
„Nein, aber das ist nicht okay. Ich habe doch das Recht, meine eigenen Sachen aus dem Tresor nehmen zu dürfen.“
„Aber da befand sich doch gar nichts mehr von dir drinnen. Oder glaubst du mir nicht?“
Sie schwieg dazu.
„Also doch! Ich verbitte mir das! Ich habe dich nicht bestohlen. Das habe ich gar nicht nötig!“ Beleidigt zog die Filialleiterin ein böses Gesicht.
Dieser Vorfall lieferte der neuen Chefin einen weiteren Grund, ihr in der Folgezeit die kalte Schulter zu zeigen. Als Paria behandelt zu werden, war schon unangenehm, aber noch schlimmer waren die neuen Umstände und Hindernisse.
Ab sofort hatte sie ihr Wechselgeld jeden Tag in einer Geldkassette mitzubringen, die abschließbar war, aber nicht im Tresor deponiert werden durfte. Das hieß, sie musste sie wieder nach Hause schleppen.
Geld und Kassette wogen einiges. Beim Transport kugelten die Münzen durcheinander. Am Anfang jeder Schicht musste sie das Münzgeld in die richtigen Fächer sortieren. Das kostete sehr viel Zeit.
Um nicht über- oder unterbezahlt zu werden, war es ratsam. am Schichtende jedes Mal das Kleingeld abzuzählen. Das Trinkgeld musste sie Tag für Tag jedes Mal in ihren Geldbeutel tun. Es war nicht mehr möglich, es im Safe in einem Umschlag zu deponieren, um es am Wochenende herauszunehmen.
Schon die Abrechnung war nicht so einfach. Es war echt schwierig, die richtigen Buttons zu drücken, damit die Kasse exakt abrechnen konnte. Das Buchhaltungssystem war sehr genau. Jetzt kam es noch häufiger als ohnehin schon vor, dass sie abends, müde und gestresst, das falsche Feature anwendete. Und dann war da noch der Stress, die Kasse jedes Mal wieder mit nach Hause nehmen zu müssen. Dadurch stieg die Fehlerwahrscheinlichkeit.
Wurde falsch abgerechnet, merkten dies die Mitarbeiter des mit der Kasse verbundenen Computersystems natürlich. Am nächsten Tag schlugen sie sofort Alarm und im Geschäft ging es richtig rund.
Die Mitarbeiter stichelten am nächsten Morgen erst einmal herum, bestenfalls schwiegen sie. Aber den Asiatinnen wurde auf jeden Fall mit vielsagender Miene die falsche Abrechnung unter die Nase gehalten.
Hinzu kam, dass die Deutschen den Nichtdeutschen einfach keine Hilfe leisteten oder sie gar nicht darüber in Kenntnis setzten, sobald neue Dinge eingeführt wurden.
Die schriftlichen Neuerungen wurde ihnen schon weitergegeben. Und sie waren bestimmt genauso gute Verkäuferinnen wie jede andere und kam auch mit technischen Dingen genauso gut zurecht. Wenn aber sprachliche Unzulänglichkeiten das Lesen der neuen Anleitungen erschwerten und keine hilfreichen Hinweise gegeben wurden, erschwerte dies die Sache ungemein. Es ist immer leichter, wenn man sich mit anderen über Neuerungen austauscht.
Doch ihre Fragen verhalten ungehört und sie zappelten wie die Fisch an Land, nachdem man sie auf Sand geworfen hatte.
All dies erschwerte den Asiatinnen die Arbeit und sie standen hilflos auf verlorenem Posten.
Es wurde immer drängender, das sinkende Schiff zu verlassen. Wo aber zeichnete sich ein Lichtstreif am Horizont ab?

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Das Familienfest im Heimatland

Beitragvon Pentzw » 17.04.2025, 23:05

Er suchte eine Frau, weil seine Ehefrau bereits verstorben war.
Auch sie hatte keinen Ehehälfte mehr. Er war vor einigen Jahren mit dem Moped in Vietnam tödlich verunglückt. Deswegen sei sie ins Ausland gegangen. Sie könne sich vorstellen, wieder zu heiraten. Sehr gut sogar, dann könnte sie ihre beiden Kinder aus Vietnam nach Europa holen.
Sie wollten heiraten. Welche Hindernisse gab es?
Am besten im europäischen Ausland, in Deutschland war das schwierig. Den „Bund der Ehe schließen wir in Holland“ wie er es lächelnd und fröhlich verkündet und das Schönste sei, dass sie ihren Namen behalten könne. Die Prozedur sei dort am einfachsten, der finanzielle Aufwand am geringsten.
Worauf ließ sie sich ein?
War er seriös? Ein Heiratsschwindler? Wie war sein finanzieller Hintergrund?
Er sei Geschäftsführer und Miteigentümer einer Firma, die Teile für Schmuckwaren in tschechische Haushalte lieferte, wo sie von den arbeitsbegierigen, bienenfleißigen Hausfrauen und Müttern zu Schmuckwaren für Weihnachts-, Oster- und sonstigen Feiertagen gefertigt wurden. Ornamente, Kugeln, Sterne wurde auf Girlanden gesetzt. Figuren wie Christkind, Engeln, Putten, Osterhasen zusammengefügt. Das Geschäft lief gut, ist Firma war konkurrenzlos, da die Besitzer in der Nähe der böhmischen Grenze wohnten und lebten, also nahe bei den Arbeitsstätten, so dass sie kurze Lieferwege hatten. Der Umsatz war überwältigend und mehr als ausreichend.
So schilderte er es. Es schien alles zu stimmen. Einen dieser legendären Millionäre zu heiraten war eine gute Aussicht.
Sein Charakter?
Er hatte zwei Kinder, eine Tochter und einen Sohn. Nur die Tochter hatte noch Verbindung zu ihm, was eben, wie sie sich sagen ließ, sehr deutsch sei, normal in westlichen Familien heutzutage, der familiäre Kontakt wurde auf kleinster Flamme gehalten. Dann hatte er ein Haus gemietet, sehr geräumig, mit Garten, das er allein bewohnte. Sie konnte dort einziehen, es war sogar Platz für zwei weitere Personen, wenn sie ihre beiden Kinder nachholen wollte. Die eine war 16, die andere 18 Jahre alt. Ein Nachzug – kein Problem! Im Gegenteil, er liebte Kinder, vor allem Jugendliche. Rechtlich stand dem nichts im Wege, denn sie wären verheiratet. Damit waren sie auch seine legitimen Kinder.
Woher er das wusste?
Er hatte einen Freund, der sich genau in dieser Lage befand. Für die Familienzusammenführung gab es kennen nennenswerten Hürden.
Allerdings würde sie, seine Ehefrau, die er in Holland geehelicht hatte, nur eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis erhalten und keinen deutschen Pass.
Das galt es zu bedenken! Das sagte er. Das war ein Zeichen von Aufrichtigkeit. Er versprach ihr nicht den Himmel auf Erden.
Sie liebte ihre Heimat sowieso über alles. In Vietnam würde ihre Herkunftsfamilie noch leben, wenn sie über hundert Jahre alt wäre. Dorthin konnte sie jederzeit zurückkehren. Die vietnamesische Staatsbürgerschaft behielt sie ohnehin.

Natürlich handelte es sich nicht um die „große Liebe“ zu diesem Deutschen. Aber von Liebe hatte sie sowieso keine Ahnung. Nie erfahren. Sie war schon mit ihrem Mann verschachert worden. Das gehörte zur Kultur. Liebe war ein Fremdwort aus dem Westen.
Die Familie, in die sie hineingeboren wurde, war eine Schicksalsgemeinschaft, unhinterfragbar und unkündbar. Ohne Familie konnte man in der vietnamesischen Gesellschaft nicht überleben, man ging ein wie eine Primel ohne Dünger und Feuchtigkeit.
So war es auch mit der Gründung der eigenen Familie gewesen. Ein Zwangsakt, von ihrer Familie dazu gedrängt worden, einen fast Fremden, einen aus einem anderen Dorf, zu ehelichen. Sie hatte ihn kaum gekannt, ihren vietnamesischen Mann. Eine gute Partie, sicher. Aber von Zärtlichkeit und Liebe keine Spur. Er zwang sie zum Geschlechtsverkehr ohne Verhütung. Ein, zwei Kinder, danach dennoch keine Kondome. Sie vereinbarten stets, er solle aufpassen, konnte sich aber nicht beherrschen und zusammenreißen. So wurde sie drei Mal schwanger, jedes Mal musste sie abtreiben. Eins davon war ein Sohn. Er und ihre Familie wollten es so. Eines Tages verunglückte er mit dem Moped tödlich auf dem täglichen Arbeitsweg. Ein Leben ohne Mann, ist kein Leben für eine relativ junge Frau in Vietnam. So suchte sie ihr Glück im Westen.
Aber noch einmal heiraten, ja oder nein?
Die Ehe mit einem Deutschen genoss einen sehr guten Ruf. Im asiatischen Raum galten die Deutschen als besonders fleißig, zuverlässig und wurden wegen anderer hoch angesehener Eigenschaften geschätzt.
Und die eigene Familie? Mutter, Schwester, Bruder – sie würde sie weniger sehen.

Doch bevor sie den Deutschen heiratete, besuchte sie ihre Herkunftsfamilie in Vietnam.
Und heute trafen sie sich bei einem Familienfest.
Alle würden sich anstrengen müssen, ausnahmslos alle würden mithelfen müssen zum Gelingen des Familientreffens. Die Begrüßung war herzlich. Die Europäerin wurde besonders herzlich begrüßt. Man fiel sich natürlich nicht in die Arme, kein Händeschütteln, Umarmen oder sonstigen körperlichen Kontakt, eher Kotaus und herzlichstes, langes Anlächeln.
Plötzlich kam ein Moped mit zwei Personen angefahren. Wegen der Helme erkannte man nicht, wer es ist. Als sie abstiegen, sich die Lederkluft und den schweren Helm vom Leib nehmen, wandten sie den neugierigen Blicken die Rücken zu. Diese Frau dort, sie schüttelte jetzt, als sie abgestiegen und den Helm abgelegt hatte, ihr mächtiges Haar auseinander, dass es wie im Kino durch die Luft sauste, hin und her. Sehr imposant. Die Unruhe unter den Beobachtern wächst und verraten, dass den Angekommenen die Überraschung gelungen war.
Man würde noch immer raten, bis sie sich umgedreht hätten, aber einige Kinder liefen freudig zu ihnen hin und enträtseln die Identität der Angekommenen, die sie jetzt umringten und von denen sie Kaugummi, Süßigkeiten und Blumen überreicht bekamen: Der Großvater.
Die daneben musste also seine Konkubine sein. Auf die hatte man schon lange gewartet. Nur Klatsch und Tratsch hatte bislang die Familienmitglieder erreicht, nicht eine einzige Begegnung bislang stattgefunden, obwohl sie schon einige Jahre mit dem Stammesältesten zusammenwohnen soll.
Die Neugierde war zum Platzen angespannt.
Für diese Konkubine des Vaters gab es von allen jetzt nur ein recht schmallippigen Lächeln, keine Willkommensgeste, wie es dem Vater überschwänglich geschenkt wurde. Stattdessen wanderten strengen Blicke aufmerksam über ihren ganzen Körper und musterten sie - stämmige Statur, dicke, männliche Stampfer, die in Sandalen gebunden waren, wie sie nur mehr Bäuerinnen trugen. Am längsten verweilten die Blicke auf dem Gesicht, das selbst nichts davon zu bemerken schien, kein Wunder, wer so kleine Schweinsäuglein hatte, dass man sie kaum sah, nahm von seiner Außenwelt wohl kaum etwas wahr. Die Augen verschwanden tief in den Höhlen, man erkannte, dass eines größer als das andere war, eines normal groß geweitet, das andere jedoch sehr verengt. Trotzdem schien sie gerade von dort aus brennende Blicke auszusenden.
Dann dieser Flaum auf der Oberlippe, dazu die schwarz-gelb gescheckten schlechten Zähne, als ob sie nie im ihren Leben einen Zahnarzt besucht hätte - damit war man bedient und hatte seine Meinung gebildet. Eine Landsfrau durch und durch, das reinste Hausmütterchen für den Alltagsdreck, fleißig, zäh, selbstlos, aber ziemlich dümmlich; treu wahrscheinlich, aber die reinste Klette, die keine halbe Stunde allein sein konnte – na, wenn er damit sein Glück findet, der alte Herr und Despot, nur zu.
Sie fühlten sich angesichts dieser Neandertalerin wie eine höhere Spezies. Doch zu weiteren Erkundungen war momentan keine Zeit, denn die Umstände gewährten keine Pause. Das Wetter verschlechterte sich immer mehr, der starke Nordostwind, den das kalte kontinentale Klima Nordvietnams im Herbst kennzeichnete, begann immer stärker zu wehen.
Wegen der unvorhersehbaren Windböen war es schwierig, festen Boden unter die Füße zu bekommen. Der Weg vom neuen zum alten Haus über den Steg war ein Balanceakt. Aber er musste getan werden. Familientreffen fanden stets im alten Haus statt.
Dazu musste wertvolles, traditionelles Geschirr und Besteck aus dem Lager in das alte Haus gebracht werden, eine Herausforderung bei dem heutigen Wetter. Es war obligatorisch, dass ein Familientreffen dort abgehalten wurde, wo die Familie größtenteils aufgewachsen war. Wo die Ahnen lebten. Wo die verstorbene Mutter geherrscht hatte. Unter deren Zeichen stand heute die Zusammenkunft statt. Es war ihr Todestag.
Huch, schien das gefährlich, wenn man vom leicht schwankenden Steg in den seichten Fluss fiele. Nicht, weil er heftig fließend war. Ertrinken würde man darin nicht, denn sollte man den Fall ohne Genickbruch überstehen, könnte man sich auf die hie und da nur ein wenig von Schilf bewachsenen, gelben Sandbänke retten. Erfrischend wäre es auf jeden Fall, denn das Wasser war noch klar. Es schwammen darin Fische, im Gegenteil zu manch anderen Flüssen im Land.
Satt der ehemaligen Umfriedungsmauer, die nur noch einen knappen Meter hoch war und größtenteils eingefallen war, zog sich eine einfacher Palisadenzaun herum. Da er von Ratten und sonstigen Tieren angeknabbert war, klafften darin Löcher, durch die die frei herumlaufenden Küken schlüpften und wild quiekten.
Das Haus bestand aus ungebrannten Lehmziegeln und hatte ein Schilfdach. Es war nur ein einziger Raum, in dem früher die ganze Familie lebte, wohnte und schlief. In der Luft herum roch es nach säuerlichen Schweinegülle, der gewöhnungsbedürftig war. Daneben waren noch Ziegen vorhanden, die angebunden im Freien standen und versorgt werden mussten. Sie lieferten Milch, die die Grundlage für den geliebten Ziegenkäse bildete.
Zum Glück ging alles gut! Ein gutes Omen. Das Familienfest stand unter gutem Vorzeichen. Im Haus selbst hing bereits der Duft von gebratenem Hammelfleisch und geschmorten Pastinaken.
Doch noch bevor sie sich zusammensetzen konnten, entbrannte ein Streit und heftige Auseinandersetzung, der sich im Hin und Her der Überquerung des Stegs abspielte. Wer dabei aus der Fassung geriet, lief Gefahr abzustürzen. Die Worte, die hier fielen, waren schon hundertmal hin und her gegangen.
„Musst du diesen Menschen heiraten?“
„Muss ich!“
„Aber bislang ging es doch auch!“
„Wenn zwei Personen zusammen leben, gehört es dazu, dass sie dies nach außen hin bezeugen, sonst ist es unmoralisch. Dies wird nun einmal mittels Ehe zelebriert.“ Der Vater war ganz schön schnoddrig und die anderen fühlten sich behandelt wie die kleinen Kinder. Sie waren es aber längst nicht mehr, das musste er doch mittlerweile gemerkt haben.
„Auch ich musste meine Ehe einst nach außen hin zelebrieren! Obwohl ich nicht gefragt wurde, ob ich überhaupt heiraten wollte. Selbstverständlich wurde ich nicht einmal gefragt, ob es gerade dieser Mann sein kann, ob er mir recht wäre und mir gefiele.“ Worte wie schaler Tee, tausend Mal aufgetischt. Es war ein altbekannter Vorwurf, der darauf abzielte, dass sie von ihrem Vater gezwungen worden war, einen Mann zu ehelichen und nach außen hin zu demonstrieren, wir gehören zusammen. Denn er war es gewesen, der die Sache ins Rollen gebracht hatte, gemeint hatte, sie müsse endlich unter die Haube, sonst wäre es zu spät. Lächerlich, vom heutigen Standpunkt aus gesehen. Höchst ärgerlich, da ihr der Ehemann zu alt erschienen war, zu hässlich und später auch nicht dafür geschaffen war, ihn lieben zu lernen.
Der Vater beendete die Diskussion im Basta-Ton: „Mag sein. Aber diese Frau wird meine Frau und alle sollen es wissen.“
„Bist du nicht zu alt dafür?“ „Und was würde Mutter dazu sagen?“ Die anderen Geschwister ließen nicht locker.
Das letzte Argument verfing in dieser nüchternen Familienwelt überhaupt nicht und das erste konterte er in noch entschiedenerem Ton: „Sie wird meine Frau, damit Schluss. Und wie sich für eine normale Ehe gehört, bauen wir uns ein Nest, ein Haus! Darin werden wir leben wie Mann und Frau!“
„Aber du hast doch schon drei Häuser gebaut!?“
„Habe ich!“
„Und jetzt noch ein viertes!“
„Daran kannst du sehen, dass ich noch lange nicht alt bin!“


Statt des neuen, großen Hauses hatte man sich für das Familienfest die kleine, alte Hütte entschieden, die man liebevoll als Symbol und bewundertes Relikt vergangener und noch andauernder Familiengeschichte betrachtete und keine Mühen und Mittel scheute, sie instand zu setzen und zu erhalten.
Es war etwas Besonderes, sich dort zu treffen. Die Luft zog durch Ritzen und Ecken des aus Lehm und Ton gebauten Gebildes, von Gebäude konnte man nicht mehr sprechen. Manch einer vertrug den Luftzug nicht und fröstelte. Der eine oder andere hatte auch Angst vor Schlangen und Spinnen. Wo nisteten sie vor allem? In unbewohnten Unterkünften und Häusern.
Bevor sich alle niederließen, wurde der Schrein geöffnet, ein bis zu den Hüften gehende Anrichte, mit aufklappbaren Türen. Oben auf wiederum ein kleiner Schrank gesetzt, der allerdings offen war und dahinter einen Spiegel bot. Aus dem Hauptschrank wurde eine große Fotografie der Mutter herausgenommen und obenauf gestellt. Nunmehr sah die Mutter allen ihren Familienbanden bei dem, was nun kommen sollte, leicht schmunzelnd zu.
Bevor sich alle zu Tisch begaben, ging ging einer jeder zum Schrein, faltete die Arme zur westlichen Gebetshaltung, machte eine leichte Kopfverbeugung und wandte sich wieder. Besonders feierlich wurde die Atmosphäre dadurch, dass in den Ecken Kerzen mit angefügten Räucherstäbchen auf großen bambusgeschnitzten Schäften entzündet wurden. Dazu wurde aber noch auf dem großen Tisch vereinzelt Teeleuchten entzündet. In vereinzelten Lampenschirmen, die von der Decke hingen, wurde auch Teekerzchen entzündet.
Zunächst nahmen alle einzeln im Lotussitz vor dem niedrigen breiten Tisch nieder. Jeder achtete darauf, dass die Reihenfolge eingehalten wurde. Diese spiegelte die Wertigkeit der einzelnen Personen innerhalb der Gemeinschaft wider. Zuerst der Vater, dann seine zukünftige Frau, die sich allerdings etwas weiter weg vom Tisch niederließ, um zu zeigen, dass sie kein vollwertiges Mitglied dieser edlen Runde war. Sie hatte sich als zweite gesetzt, eine Reihenfolge, die ihr keineswegs zustand, aber wohl deshalb verständlich war, damit sie nicht von ihrem Mann getrennt und gänzlich ausgegrenzt wurde. Es folgten der Bruder, zwei weitere Schwestern, die gehörlose Schwester und als letzte die Europäerin. Zeichen dafür, dass sie nicht mehr als Einheimische betrachtet wurde und sich auch nicht mehr als solche fühlte. Dennoch fühlte sie sich als vollwertiges Mitglied, wie bald noch deutlich werden sollte.
Aber ja, natürlich, zuallerletzt kam noch der Haushund,, der sich auf den Schoß seiner geliebten Stummen kuschelte. Er verstand sie sehr gut, sie verstand ihn sehr gut, ohne Worte, ohne gemeinsame Sprache.
Heute gab es einen besonderen Reis: braun, aus den hohen Bergen, welcher nur dort wachsen konnte, in diesen windigen, rauen Höhen. Eine Delikatesse. Sein Anbau war sehr arbeitsintensiv und entsprechend teuer.
Aus diesem Reis wurde ein Fladenbrot gebacken, in das man zuvor Gehacktes hineingepackt hatte – köstlich.
Tee und Mineralwasser wurden getrunken, gewürzte Kürbiskerne, geröstete Erdnüsse und Tigererbsen herumgereicht.
Die heftige Streit mit dem Vater war noch nicht ausgestanden, er schwelte weiter, auch wenn jetzt alle genüsslich aßen. Die Stimmung war nach wie vor geladen. Es herrschte ein seltsame Stimmung, hätte ein Nadel fallen hören können.
Alle Geschwister waren natürlich gegen diese Ehe und da dieses Thema verborgen auf dem Tisch lag, schaute alle ziemlich verbissen drein. Eine Eingeheiratete würde einen Anspruch auf Besitz haben, der von ihrem Anteil abgezogen werden würde. Ihr Erbe würde geschmälert. Auch im Namen der Mutter, die viel geschuftet hatte, war das ein Affront. Die Mutter hatte bestimmt nicht für die Konkubine oder eine vermeintliche Nachfolgerin gebuckelt - allein deshalb fühlten sie sich im Recht, gegen den Eindringling Front zu machen.
Doch der Vater blieb standhaft. Wie er fand zurecht. Er hatte gute Argumente auf seiner Seite.
Er hatte eine große Stirn, die mit von der Tonsur eines Mönches, also eines fast kahlen Schädel dominiert wurde. Das Gesicht war sauber, strotze vor Gesundheit, hatte kurzum ein Erscheinungsbildes einer zufriedenen Menschen. Die Europäerin gönnte es ihrem Vater durchaus.
Nur seine dicken Striche zwischen den Brauen deuten auf Sorgen. Hinter seiner übergroßen Stirn musste ein großes Gehirn lagern, dass ständig unter Hochbetrieb arbeitete.
Er beugte sich vor, einige Zentimeter bis über den Tisch und wendete den Kopf jedem einzelnen zu, wie er bedächtig in die Runde schaute, als er seine Rede hält oder sollte man besser sagen, zu sprechen beginnt. Jedenfalls scheint er sich die Dinge, die er nannte, sehr gut und lange überlegt zu haben, bevor er sie jetzt auf den Tisch legte.
„Ihr Kinder habt mich verlassen. Ihr kennt euren Vater nicht mehr. Mein Sohn ist in die große Stadt gezogen. Tochter Mia lebt noch hier, hat aber ihre zwei Kinder ins Internat gesteckt. Mau ist nach Europa ausgewandert, ich habe gehört, sie will mir auch meine Enkelkinder wegnehmen und ihre zwei Töchter dort hin bringen.
Was soll aus mir werden? Der Opa, der keine Kinder mehr hat, sich nicht um die Enkel kümmern kann?
Ich bin einsam. Ich habe keine Aufgabe. Ich bin noch jung. Ich bin ein Mann. Ich schaffe mir eine neue Familie. Trübsal blasen ist nicht mein Ding. Ich schaffe mir, was mir fehlt. Ich kann alleine leben, ohne meine Kinder, die sich von mir abgewandt haben. Das ist eine Frage der Ehre.
Dass eure Schuld. Ihr braucht euch nicht zu beklagen. Ihr seid selbst schuld, ihr habt euch diesen Stiefel angezogen.“
Klare Worte.
Heute war der Gedenktag ihrer Mutter, wenn auch um vierzehn Tage vorverlegt. weil die Europäerin zufällig wieder zu Gast in ihrem Haus war. Die Erinnerung an die Mutter schürte natürlich das Feuer. Es gab nur eine Mutter. Und die Frau des Vaters war die Mutter.
Und an diesem besonderen Tag verkündete der Mann dieser Mutter, dass er das letzte Seil abschneide, das sie miteinander verband, indem er sich eine neue Frau nehmen würde und sich letztlich damit von seinen Kindern abwendete.
Das verwirrte alle. Das erboste sie.
All das, was sie von der Mutter und seiner angeblichen Treulosigkeit sagten, ließ den Vater zu einer Taktik greifen, die primitiv war, aber wirkungsvoll wie ein Bombe, die hier einschlug.
Er schnäuzte sich mit Daumen und Zeigefinger und schleuderte den Rotz mit heftigem Kopfschütteln in eine Ecke in der Dunkelheit des Raums.
Die Kinder waren erschrocken. Sie waren alarmiert. Das kannten sie. Sie hatten es fast vergessen. Wenn der Vater wütend war, verfiel er in die rohesten Verhaltensweisen, da kannte er keine Schicklichkeit mehr. Diese Primitivität passte nicht mehr in die heutige Zeit, so verhielten sich nur die Steinzeit-Bauern, aber doch nicht sie. Die Zeiten waren längst vorbei, wo sie unter der senkenden Sonne den ganzen Tag lang gebeugt über Reispflanzen schufteten, vielleicht mal einem alten Traktor über die Rübenfelder rumpelten.
Sie waren längst eine eine Familie, die vom Bauernstand in die Mittelschicht aufgestiegen war. Da mussten sie schon vor ihren eigenen Kindern wegen solch einen Vater und Großvater schämen. Nein, das passte nicht mehr in diese ehrenvollen, neureichen Leuten, zu denen sie mittlerweile zählten.
Sofort griffen sie wie nach einem rettenden Strohhalm, nach einem anderen Problem, das ihnen nicht weniger auf den Nägeln brannte. Wie schön, dass eins das andere ablöste, ein Problem das andere verdrängte - zum Glück für diese Familie, könnte man sagen. Aber nicht für eines ihrer Mitglieder.

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Die Stimme einer Taubstummen

Beitragvon Pentzw » 22.04.2025, 21:27

In der Familie war eine Taubstumme, die Jüngste. Diese war ungewollt schwanger geworden. Sie wollte das Kind nicht. Ihr Argument: Es würde aggressiv werden und sich von der Mutter, die sie nicht hören und richtig mitteilen konnte, entfremden. Aber so einfach war das nicht. Darüber musste der Familienrat entscheiden. Die Betroffene selbst hatte quasi nur eine Stimme.
Auch ein vielsagendes Moment, dass diese Problematik am Jahrestag der verstorbenen Mutter behandelt wurde.
Zunächst aß man schweigend, wie in der Stille vor dem Sturm.
Diejenige, die am meisten betroffen sein wird, genoss arglos die schmackhaften Köstlichkeiten und fütterte den Hund damit. Es schien, als rechnete sie gar nicht damit, dass man bald über sie zu Gericht sitzen würde. Sie aß mit einer Hand, während sie mit der anderen den Hund unterm Kinn und an den Flanken kraulte. Dieser fiepste dazu schwanzwedelnd.
Die Europäerin, wie sie mittlerweile schon scherzhaft genannt wurde, war heute zu Besuch in ihrem Heimatland, bevor sie eine schwere Entscheidung treffen würde, nämlich sich erneut zu verheiraten und dies mit einem Europäer.
`Ich werde keine Kinder mehr haben, mit dem Deutschen nicht. Unwahrscheinlich, dass der seine Meinung ändern wird. Seine Familie ist ja schon komplett. Er ist bedient. Zumal im Angesicht seines Alters wird er sich keinen Nachzügler wünschen.´ Schade, weil sie gerne einen Sohn gehabt hätte und bei ihren Abtreibungen tat ihr der männliche Fötus, den sie verloren hatte, besonders leid.
Plötzlich hob der Hund den Kopf. Der Sturm brach los. Er lag auf den Schoß der Stummen, schnappte zwischenzeitlich nach Happen, die ihm gereicht wurden, um sich wieder in seine ruhige Position zurückbegeben. Aber in der Luft musste eine elektrisch aufgeladene Stimmung herrschen, die nur er wahrnahm.
Die Stumme selbst schien gar nicht zu wissen, was ihr geschah, so übertölpelt wirkte sie. Hatte sie geglaubt, bei diesem Zusammentreffen heute ging es nur um das Gedenken an die Mutter? Die hatte sie selbst nicht mehr erlebt. Sie war leider bei ihrer Geburt verstorben.
Das einzige Instrument, dass die Taubstumme hatte, um sich verständlich zu machen, waren ihre Finger. Mit diesen bedeutete sie heftig und abrupt, dass sie partout kein Kind haben wollte. Dazu richtete sie sich jedes Mal mit dem Oberkörper etwas nach vorne auf, wie alle anderen Redner auch.
Schwierig zu erklären, was sie sagen wollte, umständlich zu bedeuten, dass sie kaum mit dem Kind würde reden können. Folge Missverständnisse und Enttäuschungen bei beiden, bei Kind und Mutter, wären vorprogrammiert. Sie fuchtelte immer wilder herum, da sie das Gefühl bekam, man verstand sie nicht. Das ständige Kopfschütteln der anderen fachte sie zudem an.
„Aber ihr könnt euch doch mit Zeichen verständigen!“, sagte eine Schwester, eine Aussage, über die man nicht lange nachdenken musste. Diese Form der Verständigung funktionierte gerade hier nicht. Das zeigte an, sie war im Recht. Sicherlich, sie beherrschte eine offizielle Handsprache. Aber wenn sie daran dachte, wie lange es dafür gebraucht hatte, diese zu erlernen. Und dann bei einem Kind! Dem fehlten wichtige kulturelle Voraussetzungen, um eine solche zu begreifen. Es würde unsägliche Schwierigkeiten und Widerstände geben. Nein, es war ausgeschlossen.
Die Taubstumme sah ihr Kind und sich selbst vor sich. Hatte es etwas falsch gemacht oder es tauchten Fragen auf, würden die anderen sie zu ihr, ihrer Mutter, schicken. Sie war die Einzige, die eine Gebärdensprache beherrschte und mit dieser musste sie ihrem Kind dies und jenes klar machen. Sie, die Mutter, würde immer die Erzieherin sein, die Böse, die ewige Verbieterin, Kontrolleurin und Nein-Sagerin.
Keine gute Basis für eine vertrauenswürdige Mutter-Kind-Beziehung.
Sie regte sich jetzt gewaltig auf, zumal sie das Gefühl hatte, die anderen wollten sie nur nicht verstehen.
Sie hatte damit recht. Sie verstand die anderen sehr gut. Deren Gedanken konnte sie am besten von den Lippen ablesen, die nicht so beherrschbar waren wie die Minen in den Gesichtern oder den unscheinbaren geringen motorischen Reflexen: gefrorenes, gekräuseltes, angedeutetes Lächeln, zittriges Flattern der Lippen, Zähne verbissen auf Lippen, einen Schneidezahn sichtbar beißend auf Lippen.
Das geringfügigste Muskelzucken dort hatte seine eigene Bedeutung. Auch die Bewegungen der Augenbrauen, unmerkliche Zuckungen, konnte sie deuten. So antwortete sie bereits, bevor die anderen etwas sagen konnten, sie war ihnen stets einen Schritt voraus. Die anderen empfanden oft, sie sei ihnen ins Wort gefallen. Dabei stimmte dies ja auch.
Die Europäerin schien ihre bemitleidenswerte Schwester am besten zu verstehen und übersetzte jetzt. „Sie meint, das Kind würde sie nicht verstehen, das Kind würde sie an den Schultern rütteln und ankeifen, Mutter hörst Du mich nicht. Das Kind würde furchtbar aggressiv werden!“
Die taubstumme Schwester nickte heftig, da sie sich richtig wiedergegeben fühlte.
Die Europäerin überlegte: „Hm, wenn diese meine Schwester ein kleines Baby hätte, das wäre doch zu schön. Ich liebe diese kleinen, putzigen, pausbäckigen Wesen, diese süßen Kleinkinder. Hm. Und wenn ich zweimal im Jahr nach Vietnam komme, wäre es doch schön, wenn ich so ein kleines Ding im Arm halten könnte.“
Die Jüngste sah jetzt das Kopfschütteln, das verlegene Achselzucken, das nervöses Greifen nach einem Happen und ihr wurde klar, dass sie keine Chancen hatte. Alle Versammelten waren gegen sie. Es gab natürlich keine Schlichterstelle, keinen externen Weisen wie Pastor, Politiker oder Älteren, der aufgrund von Lebenserfahrung oder nüchterner Vernunft entscheiden dürfte, keinen, den man befragen und um Antwort hätte bitten können.
Sie verlor jetzt völlig die Contenance, versuchte mit immer heftigeren Gesten, ihren Standpunkt, ihren Willen und Wunsch kundzutun.
Der Hund wedelte ständig mit dem Schwanz.
Diese stummen, abweisenden, eisigen Gesichter!
Panik überkam sie und sie sah als einzige Möglichkeit, die ihr blieb und als letztes, noch ein Argument. Für die Erziehung eins Kindes brauchte man Geld.
Das war eine Speerspitze, die jetzt gegen sie selbst gerichtet wurde.
„Du hast gar nicht die Mittel für eine Abtreibung. Von uns bekommst du nichts.“
Wieder ihr konservativer Vater, dieser engstirnige Tyrann, der er gar nicht begreifen konnte, welchen Schaden und Schande er auf die Familie brachte, in dem er mit einer Konkubine lebte. Aber freilich sie zu heiraten durfte er. Dafür hatte er die Mittel. Außerdem war damit der derzeitige Schandfleck vom Tisch.
Aber eine Heirat kostete auch Geld, sehr viel Geld!
Sie hatte zu viel Ehrfurcht vor dem Vater, um ihm das vorzuhalten.
So versuchte sie es auf anderem Weg: „Aber für das Aufziehen eines Kindes ist wohl Geld da!“ Im Grunde war für das eine genauso wenig da wie für das andere.
„Das wird sich schon ergeben … irgendwie.“ Alle nickten. Ein Kind war es ihnen wohl wert, dass sie dafür das ein oder andere bezahlen und von ihrem hohen Lebensstandart abzwacken müssten.
So war das also!
Mensch, wenn sie sich so sehr ein Kind wünschten, warum machten sie nicht selbst eins!
Sie dachten wohl, lass mal geschehen, was geschehen soll, beizeiten werden wir uns schon zurechtfinden damit. Punktum.
Als die werdende, widerspenstige Mutter sich von dieser unüberwindlichen Mauer umgeben und eingeschlossen sah, brach sie in letztem Anflug von Freiheit oder Verzweiflung in Panik aus, stürzte aus der alten Hütte ins Freie und rannte vor Wut und Zorn ins Unendliche.
Nur der Hund folgte ihr, sprang sie immer wieder an, da er die Hektik, Schnelligkeit und das Geradeaus als Spiel verstand. Sie achtete nicht auf ihn, ansonsten sie doch die einzige im Dorf war, die aufmerksam war gegenüber Hunden, Hühnern, Ziegen, Schafen und sonstigen Tieren. Sie lief gegen seine Flanken, das Tier heulte schrill auf.
So lief sie ins Weite, der Hund neben ihr, bellend.
Sie durchquerte achtlos das frisch gesteckte Reisfeld, kleine, gebrechliche Spitzen zertrampelte sie, es wäre besser gewesen, den Feldweg entlang zu laufen, aber Zorn und Wut machte sie blind. Frische, noch nicht einmal mit dem Kopf aufgerichteten Reispflänzchen, fielen ihr zum Opfer. Der Hund, dem man mit Stock eingebleut worden war, nicht im Reisfeld herumzutollen, blieb zurück und bellte ihr hinterher.
Wenn sie jetzt in der Weise geradewegs weiterlief, würde sie unweigerlich zum undurchdringlichen Hain aus Bambusstauden gelangen, dem Revier eines Tigers, und damit direkt in den Rachen eines solchen hineinlaufen.
Blind vor Zorn lief sie geradeaus.
Stolperte plötzlich über irgendetwas und landete mit dem Kopf im sumpfigen, wässrigem Untergrund, lag erschöpft da und weigerte sich aus Lebenshass und Frust auch nur einen Jota und Millimeter zu bewegen. Was für ein ausgemachter Unsinn, leichtsinnig, lebensmüde.
Tausende von Insekten krabbelten, schwirrten, flatterten, fleuchten, kreuchten und rannten über, um und in sie hinein, dass es kitzelte, juckte und brannte in Ohren, Nasen und jeglicher Körperöffnung. War dies wohl schon unerträglich, so die Feuchtigkeit der Luft, besonders der dünne Nebel, der über den Reisfeldern stand, unerträglich, kalt, klebrig und zum Davonlaufen. Sie stand auf.
Im Stehen schaute sie nach Westen: der Weg in die Freiheit; dann nach Osten: der Weg zurück zur Familie zurück. Westen, Osten, Westen...
Ihr wurde nun bewusst, dass sie sich in großen Gefahr befand, außerdem einen starken Nachteil gegenüber wilden Tieren hatte: Sie konnte sie nicht hören, wenn sie sich ihr näherten.
Sie war taub, um Himmels willen!
Nicht das Schnauben, Rachen, nicht das Brüllen der Raubkatze würde sie hören, wenn er Anlauf nahm und im Sprung auf sie zuraste. Vielleicht nur einen Ausschnitt, sein schwarz-gelbes geschecktes Fell, dann nur noch einen Schlag, ein gewaltiges Gewicht, das sie zu Boden reißen würde, verbunden mit dem furchtbaren Biss des Tieres, der, wenn sie Glück hatte, ihre Kehle traf, so dass der Tod schnell eintrat, andernfalls Reißen, Zerren, Krallen und schlußendliches elendigliches Verbluten.
Danach würde immer weniger von ihr übrigbleiben. Aber das würde sie hoffentlich nicht mehr mitbekommen.
Aber wollte sie sterben?
Würde sie sich weigerte abzutreiben, würde sie von den anderen verstoßen werden.
So etwas mag es in der westlichen Gesellschaft geben. Aber in asiatischen Kulturen gab es keine Familien oder Institutionen, die sie auffingen, keine religiöse, karitative oder sonst wie beseelte Gemeinden und Gemeinschaften. Wer keine Familie hatte, war zur Einsamkeit verurteilt und verdammt – bis zum Tod. Hier lebten die Familien und Sippen meist für sich, kamen zusammen und gingen auseinander, ohne viel Kontakt zu anderen zu haben. Jede menschliche Parzelle lebte möglichst isoliert für sich und getrennt voneinander.
Mochten zum Beispiel christliche Familien einen Fremden, einen Hilfsbedürftigen, einen Gestrandeten, einen Witwer oder Waisen zu Weihnachten einladen und ihn verköstigen – in einer buddhistisch geprägten Gesellschaft gab es so etwas nicht, jeder suchte sein Heil nur in sich selbst.
Was würde geschehen, wenn sie nach Osten lief: einsame Tage stünden bevor … Außerdem hatte sie keine Möglichkeit, ihr Kind loszuwerden. Niemand würde ihr auch nur einen Heller und Pfennig geben, um dies zu ermöglichen. Also, war auch das kein Ausweg.
Ihre Füße, die in Mokassins steckten, sackten immer tiefer in den sumpfigen Untergrund. Plötzlich spürte sie einzelne Regentropfen auf sich prasseln, sie neigte den Kopf dagegen: Das Wasser war angenehm warm. Doch mit einem Mal schüttete es wie aus Kübeln, der Regen prasselte nieder, dass es in der Gesichtshaut nadelstichartig schmerzte. Nunmehr hatte das Wetter entschieden, was sie tun würde. Sie musste zurück, der Monsun hatte begonnen, jetzt würde es die nächsten Monate nur noch regnen, in der Wildnis konnte kein Mensch überleben.
Nach kaum zwanzig Sekunden war sie bis auf die Haut durchnässt.
Trotzdem schritt sie langsam zurück, woher sie gekommen war, in Richtung ihres kleinen Heimatdorfes.
Wenn sie ihr Kind austrug, war es auf jeden Fall versorgt. Sie konnte arbeiten, was ihr wichtig war, weil sie es gerne tat. Tagsüber würden die Großeltern, die Schwester und vielleicht noch nähere Verwandte für das Kind da sein. Ihr eigener Vater hatte sich vorhin beklagt, dass er keine Enkelkinder um sich habe! Die andere Schwester, die auch ein kleineres Kind besaß, der verwitwete Onkel und die nahen Verwandten im Dorf würden sich darum bestimmt kümmern, dass das Kind über die Tage oder bis sie von der Arbeit nach Hause kam, behütet, versorgt und beaufsichtigt war.
Aus der Ferne sah sie die Häuseransammlung in eine dünne graue Wolke gehüllt, die aus dem heftigen Abendregen aufstieg. Nur an den Rändern schimmerte sie golden im starken, diffusen Licht des Mondes. Aber die Wolke schien sich auszubreiten und bald alles zu umfassen. Sie musste jetzt durch eine graue Wand in ihre Zukunft gehen.
Nun, sie würde ihr Kind austragen, aber nur einen Teil der Verantwortung übernehmen und sich so weit wie möglich aus der Erziehung heraushalten. Sie würde schon einen Weg finden, da war sie sich sicher.
Sie ging auf das alte Haus zu, auf diese Familie, auf das warme Nest – was besser war als von einem Raubtier gefressen zu werden oder ein Leben zu fristen in Einsamkeit, leerer Zerstreuung und öden Fernsehabenden, ohne Liebe, ohne Mitmenschen und echte Gefühle – zumal als Taubstumme.
Sie ging schneller. Der Nordostwind wurde wehte merklich kälter und schärfer. Das schrille Geschrei eines Vogels durchschnitt die kalte Luft. Der Winter klopfte an.
Die Europäerin war sehr zufrieden. Da sie mit ihrem neuen Mann übereingekommen war, keine Kinder mehr in die Welt zu setzen, hatte sie nun doch eines, je nach Bedarf, Zeit und Umständen. Eines von ihrer stummen Schwester. Es würde schön werden und wunderbar, mal wieder so ein Baby in den Armen zu halten. So stimmte sie wie alle anderen, die sich aus welchen Gründen auch immer einig waren, dass die taubstumme Schwester ihr Kind nicht abtreiben dürfe.
Diese kehrte in das alte Haus zurück und wurde mit einem eindeutigen und freudigen Handzeichen bedeutet, welches das Ergebnis der Familienrates gefällt hatte.

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