Ein Besuch in der Videothek - Teil 1

Moderne Literatur heißt: Kino, Theater und Oper nicht vergessen. Welcher Film ist sehenswert? Welche Inszenierung gelungen?
razorback
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Ein Besuch in der Videothek - Teil 1

Beitragvon razorback » 15.07.2005, 01:34

Gestern besuchte ich nach langer Zeit mal wieder die Quelle der tausend Freuden: Meine Lieblingsvideothek :-D . Denn immer noch habe ich einige Punkte auf meinem Abo, und die wollen verbraten sein. Also nahm ich zwei Filme mit nach Hause. Zuerst sah ich mir diesen an:

Collateral
2004
Drehbuch: Stuart Beattie
Regie: Michael Mann

Als ich neulich „War of the Worlds“ besprach, deutete ich es schon an: Was immer man von seinen Qualitäten als Ehemann, Mensch, von seiner Religion oder von seinem Auftreten halten mag, ich halte Tom Cruise für einen sehr guten Schauspieler. In „War of the Worlds“ allerdings bekam man dann sehr deutlich seine Grenze gezeigt: Die Pose des Geschlagenen, des Verlierers und Underdogs steht Tom Cruise nicht. Vielleicht hat er zu oft gestrahlt, seit Top-Gun-Zeiten, vielleicht hat er seinen eigenen Erfolg zu sehr verinnerlicht, wer weiß.

Eine andere Frage ist: Kann dieser Strahlemann – der einzige wirklich gute Schauspieler unter den vielen Strahlemännern – kann der einen Bösewicht spielen. Nein, keinen irgendwie dann doch sympathischen Vampyr: Einen wirklichen Finsterling, ein Ekel? Ja, er kann, und er kann es verdammt gut. Siehe „Collateral“.

Normalerweise lobe ich ja gegen den Trend sehr gerne den Drehbuchautor eines guten Films, weil der so oft übersehen wird. Hier aber muss man fairerweise den meisten Respekt auf Regisseur und Darsteller verteilen. Daher zu Drehbuch und Geschichte nur kurz: Gute Arbeit. Stuart Beattie hat eine solide Leistung abgeliefert, einen spannenden, charaktergesteuerten Thriller. In dem einen oder anderen Punkt etwas vorhersehbar, dann aber doch auch wieder überraschend, und spannend bis zur letzten Szene. Gut gemacht. Die Geschichte ist leicht zu erzählen:
Taxifahrer Max (Jamie Foxx) ist einer der besten seiner Zunft und darüber hinaus noch krachend sympathisch. Integer, aber nicht naiv, verträumt, aber nicht weltfern, cool, aber ohne Pose. Genau der Typ, dem man wünscht, dass er sich beruflich seinen lang gehegten Traum vom eigenen Limousinenservice verwirklicht und dass er privat die nette Staatsanwältin Annie (Jada Pinkett Smith) bekommt, die gerade Gefallen an ihm gefunden hat. Genau der Typ, dem man nicht wünscht, dass der Profikiller Vincent (Tom Cruise) in sein Auto steigt, damit Max ihnen zu seinen fünf geschäftlichen Terminen in dieser Nacht fährt. Aber wie’s der Teufel will… Blöderweise fällt Max dann auch noch Vincents erstes Opfer direkt aufs Dach, so dass er auch keine schützende Ahnungslosigkeit mehr hat. Den Rest kann man sich denken, und was man sich nicht unbedingt denken kann, sind ein paar gut eingebaute Wendungen, die ich nicht verraten möchte. Abgesehen von der etwas konstruierten Grundsituation hat der Film auch keine nennenswerten logischen Lücken – gut gemachte Geschichte eben.

Und dann doch ein wenig mehr als nur gut gemacht. Und das liegt zunächst einmal an der Arbeit von Michael Mann, den Freunde von Filmen wie „Last of the Mohicans“ und „Ali“ in bester Erinnerung haben. Wenn man erst einmal begriffen hat, was so ein Drehbuchautor alles macht, neigt man dazu zu fragen: Wozu eigentlich dieser Rummel um die Regisseure? „Collateral“ ist eine schöne Erklärung. Aus der Geschichte, die Beattie geschrieben hat, hätte sicher mancher Regisseur einen brauchbaren Film machen können. Dass dieser Film mir aber bilderweise im Gedächtnis bleibt, ist Manns Verdienst. Er findet eine starke Bildsprache, ein sehr gekonntes Spiel mit Licht und Schatten, mit Dunkelheit und Farben. Er schafft es, dass die Nacht – denn der Film spielt nur in einer Nacht – tatsächlich Teil der Handlung wird. Jedes Bild, jede Szene ist wunderbar komponiert, dutzende kleine Kunstwerke in einem Film. Dabei wirkt er zu keiner Sekunde aufgesetzt, immer geht es um die Geschichte und die Charaktere, niemals verrät er die Handlung an das Bild. Viele europäische Kunstfilmer könnten sich da ein Riesenstück von abschneiden. Auch das kann Hollywood sein.
Ein weiteres Lob gebührt den Darstellern und auch – um noch einen Schritt weiter nach vorne zu gehen – dem Casting. Ich weiß nicht, wie groß Michael Manns Anteil daran ist, doch die Schauspielerinnen und Schauspieler sind bestens gewählt – bis hin zu ihrer ethnischen Zugehörigkeit. Abgesehen von Vincent sind alle wichtigen Rollen entweder mit hispanischen oder schwarzen Schauspielern besetzt. Das gibt dem Film zunächst eine gewisse Authentizität, oder den Anschein davon. Es scheint glaubhaft, dass LA mit Einwanderern und ethnischen Minderheiten bevölkert ist, und es scheint ebenso glaubhaft, dass sie die Mehrheit der Akteure der Nacht stellen, ob im Guten (Polizisten, Musiker, Taxifahrer) oder im Bösen (Verbrecher). Der einzige „Kaukasier“ von Bedeutung im ganzen Film ist der Killer Vincent. Und der ist die Personifikation von weiß – das in diesem Film für das Böse, die Bedrohung steht. Dunkel bedeutet hier Wärme und Schutz, wo es weiß und hell ist, da ist es gefährlich. Und Vincent hat weiße Haare, weiße Haut, ein weißes Hemd, einen hellgrauen Anzug. Er ist überall der Lichtfleck. Die helle Gefahr im anheimelnden Dunkel. Muss ich erwähnen, dass das zu keinem Zeitpunkt aufgesetzt wirkt? Hiermit ist es erwähnt ;-) .

Aber ich wollte die Darsteller loben – und anfangen will ich mit Tom Cruise. Seit Jean Reno in „Leon“ habe ich keine so starke Killerfigur mehr gesehen. Und seit Alain Delon habe ich keinen Killer gesehen, der das zehntausendmal missbrauchte Attribut „eiskalt“ ehrlich verdient hätte. Vincent sieht nicht nur aus wie ein Glas Eiswasser. Er ist auch völlig gefühllos und grässlich selbstverständlich dabei. Diese Figur hat keinen Spaß daran, ein Monster zu sein, sie fühlt sich nicht überlegen in ihrer Boshaftigkeit – Vincent sieht überhaupt nicht, dass er sich von anderen Menschen fundamental unterscheidet. Als Max ihn einmal in eine Argumentation darüber verwickelt, erntet er bei dem Monster auf seinem Rücksitz nichts als Unverständnis, das zwischen Belustigung und Langeweile pendelt. Wie viel grauenvoller ist dieser geschäftsmäßig gefühllose Killer verglichen mit all diesen Bösewichtern, die sich in ihrem Bösesein suhlen. Und wie gekonnt verkörpert ihn Tom Cruise. Wirklich sehenswert. Es gibt eine Stelle im Zusatzmaterial, in der Cruise und Foxx eine Szene aus dem Film im Büro des Regisseurs durchgehen. Hier geht es eigentlich um die Rolle des Max – bzw. darum, wie das Wechselspiel zwischen Max und Vincent zu spielen ist. Doch es lohnt sich ein Blick auf den Hintergrund. Während Foxx auf einem Stuhl vor Cruise sitzend den Taxifahrer mimt und einen längeren Dialogpart spricht, sinkt Tom Cruise sichtbar in die Rolle des Vincent. Die Veränderung, die mit ihm vorgeht, ist erstaunlich, und der Ausdruck in seinem Gesicht, als er bei Vincent angekommen ist, ist wirklich beängstigend.

Zu loben ist aber auch unbedingt Jamie Foxx. Seine Figur, die des Max, ist ja der eigentliche Held des Films. Und schon dass es ihm gelingt, dies neben einer Figur wie Vincent, gespielt von einem bestaufgelegten Tom Cruise nie vergessen zu machen, ist eine große Leistung. Auch Max ist eine klassische Figur: Der Normalo, der gezwungen ist, zum Helden zu werden. Seltsamerweise sind viele Schauspieler diesem Klischee nicht gewachsen. Foxx ist es. Er macht die Wandlung seiner Figur glaubhaft und sympathisch nachvollziehbar – ohne seltsame Sprünge oder Mutationen. Sehr sehenswert die Szene, in der er gezwungen ist, sich für Vincent auszugeben, dass ist eine große Schauspielerische Leistung – sowohl von Max als auch von Foxx. Viel besser aber noch, wie er Max in den Szenen danach verkörpert. Er macht glaubhaft, dass etwas von dem, was Max von dem Killer gelernt hat in ihm geblieben ist. Ohne Pose, ohne Affektiertheit, ohne unglaubwürdig zu werden.

Ein sehr sehenswerter und empfehlenswerter Film – und auch ein sehr lehrreicher. Zu Regie und Schauspielkunst habe ich, denke ich, genug gesagt, aber für uns Drehbuchautoren: Das ist ein ganz, ganz klassisch aufgebauter Plot, eine Heldenreise wie aus dem Lehrbuch. Sehr interessant für die Analyse. Und ein schönes Argument gegen Leute die meinen, bei klassischem Aufbau kämen Schablonenfilme heraus.
O You who turn the wheel and look to windward,
Consider Phlebas, who was once handsome and tall as You

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