11'09''01
September 11
Ein Film von 11 Regisseuren
Samira Makhmalbaf - Iran
Claude Lelouch - Frankreich
Youssef Chahine - Ägypten
Danis Tanovic - Bosnien-Herzegowina
Idrissa Ouedraogo - Burkina Faso
Ken Loach - Großbritannien
Alejandro González Inárritu - Mexiko
Amos Gitaï - Israel
Mira Nair - Indien
Sean Penn - USA
Shohei Imamura - Japan
Der künstlerische Produzent, Alain Brigand, umreißt die Idee, die diesem Film zugrunde liegt wie folgt:
Gerade das hat mich an diesem Film beeindruckt: die vorsichtige oder auch provokative Reflexion der Ereignisse, die Unterschiedlichkeit der Perspektiven und, dass die Regisseure aus verschiedenen Ländern und ganz unterschiedlichen sozialen Kontexten und Kulturen kommen. Im Untertitel des Films heißt es unter anderem: "Um das Gefühl durch Verstand zu ergänzen, um allen eine Stimme zu verleihen." Doch das ist nichts als ein ehrenwerter, aber weltfremder Wunsch. In einem Amerika, dass medial polarisiert ist zwischen Patriotismus, Trauer und dem Ruf nach Gerechtigkeit auf der einen Seite und Terrorismus, Angst, Bedrohung und Hysterie auf der anderen, hat ein kritischer Film wie 11'09''02 keinen Platz. So ein Produkt wird als "antiamerikanisch" etikettiert und findet dann keinen Verleih. Dafür konnten wir im Dezember in den Kinos einen anderen Film sehen, der in Amerika extrem erfolgreich war, ein Film, dessen Handlung sich vordergründig in brutalen Gemetzeln ergeht und den Krieg als Kampf des Guten gegen das Böse glorifiziert: Der Herr der Ringe II. Demnächst wird über den Ozean die dritte Episode der Star Wars Saga schwappen, ein Film, der nach dem selben Strickmuster aufgebaut ist. Ich finde das bezeichnend.In Echtzeit drangen die Bilder von der Katastrophe in all ihrer Gewalt in unsere Wohnungen. Mit einem Schlag wurde Trauer universell. Wie konnte man kein Mitgefühl empfinden, wenn das Fernsehen das Leiden jener, die dem Tod ins Auge sahen, gleichzeitig in alle Winkel der Welt ausstrahlte?
Um das weltumspannende Echo auf dieses Ereignis auf andere Art als durch diese entsetzlichen Bilder festzuhalten, wurde mir sehr bald klar, dass wir die Pflicht der Reflexion hatten. Diese Reflexion sollte nicht der Gegenwart verhaftet sein, sondern sich ausdrücklich der Zukunft zuwenden. Sie sollte in allen Ländern und Regionen verstanden und mitempfunden werden können. Eine Reflexion, die diese Bilder mit anderen Bildern beantwortete.
So bat ich elf bekannte Regisseure und Regisseurinnen um einen Beitrag - einen Blick auf ihre eigene Kultur, ihre eigene Erinnerung, ihre eigenen Geschichten und ihre eigene Sprache. Die Vorgabe lautete: "Ein Film, der 11 Minuten, 9 Sekunden und 1 Bild — 11'09''01 — dauert und sich um die Ereignisse des 11. September und ihrer Folgen dreht."
Die Regisseure und Regisseurinnen erfassten das Thema und brachten ihre Sicht der Ereignisse zum Ausdruck, geleitet von den Sorgen und Anliegen ihres eigenen Landes und ihrer eigenen Geschichte. Der Film bringt unterschiedliche Prioritäten und Engagements zum Ausdruck. Jede Meinung ist frei und in völliger Gleichberechtigung zum Ausdruck gebracht.
Diesem filmischen Mosaik liegt kein Konsens zugrunde. Zwangsläufig ist es voller Kontraste, so dass es möglicherweise Gefahr läuft, vom künstlerischen und ethischen Standard abzuweichen, dem sich jeder Regisseur verpflichtet fühlt.
Realität wird heute von Medien (nicht einfach vermittelt, sondern) konstituiert und desto privater & sicherer sich das Leben der Menschen in der westlichen Welt gestaltet, desto mehr scheinen sie empfänglicher für und abhängiger von den Emotionen und den Aufregungen zu werden, die ihnen nicht-fiktive und fiktive Formate liefern, wobei der Übergang von der Realität zur Fiktion in den Medien durchaus fließend verläuft. Erfolgreich ist, was das Gefühl anspricht, was polarisiert: die Soap, die Reality-Show, der Horrorfantasyactionkomödiesciencefictionlovestorymovie, der Pop-Song, die wahre Kannibalen-Crime-Story, die Dieter-Bohlen-Gazette oder die Liveübertragung eines verheerenden Terroranschlags ... Es ist zu einem Hintergrundrauschen geworden, das uns jeden Tag audiovisuell umschwirrt und beschäftigt, dass sich nicht einfach wegschalten lässt (ohne gleich zum Eremiten werden zu müssen). Und alle reden darüber: man ist dafür oder man ist dagegen ... jeder hat einen Meinung (und wer keine hat, kann nicht mitreden und wer nicht mitreden kann, grenzt sich aus). Wohin führt uns das? Direkt in die globale "Mediokratie"? Macht hat, wer die Mittel besitzt zu "senden", Bilder zu selektieren, Meinungen zu "machen"? Mich lässt das Thema nicht mehr los, aber ich wollte etwas über einen Film erzählen ... nur noch ein Beispiel, das veranschaulichen soll, was ich meine: Fassungslos und erschüttert von den Bildern der einstürzenden Zwillingstürme, zeigte man uns die Bilder von jubelnden Palästinensern – Menschen, die sich angesichts des Infernos, das die Amerikaner traf, freuten. Eine schärfere Kontrastierung ist kaum vorstellbar. Doch die Bilder waren ein Fake. Frauen und Kinder wurden von Journalisten mit Süßigkeiten zum Jubeln animiert.
Jubel vor der Kamera für ein Stück Kuchen
http://de.indymedia.org/2001/09/7869.shtml
Im ersten Kurzfilm von Samira Makhmalbaf, einer jungen Regisseuren aus dem Iran, sieht man ein paar Kinder im Alter zwischen – ich schätze – 5 und 10 Jahren. Sie sind damit beschäftigt Lehm in Formen zu füllen. Es sind die Kinder von afghanischen Flüchtlingen im Iran, die in einer Ziegelbrennerei arbeiten. Dann folgt die Kamera den Spuren einer jungen Frau mit schwarzem Kopftuch, die mit schriller Stimme die Kinder zusammenruft: zur Schule. Dann sitzen sie versammelt vor ihr. Auf dem Boden. Die Lehrerin belehrt die Kinder, dass etwas schreckliches geschehen sei und fragt, ob jemand von ihnen wüsste, was sie meine. Ein kleines Mädchen bejaht das und erzählt, dass in einem Nachbarort ein Mann in einen Brunnen gefallen und gestorben sei. Die Lehrerin unterbricht das Mädchen und macht ihr klar, dass habe sie nicht gemeint, sondern ein sehr viel bedeutsameres Ereignis, dass sich auch auf ihrer aller Leben auswirken werde. Da meldet sich ein anderes Mädchen, aber ziert sich zu sagen, was sie im Sinn hat. Die Lehrerin ermutigt sie, es doch zu sagen und das Mädchen erzählt, dass eine ihrer Tanten in Afghanistan eingegraben und dann zu Tode gesteinigt wurde. Die Lehrerin wird ungehalten und versucht die unwissenden Kinder aufzuklären, dass in einem fernen, mächtigen Land Flugzeuge in Hochhäuser gerast seien. Doch den Kindern ist das unbegreiflich, denn sie haben weder einen Begriff davon was ein Flugzeug, noch was ein Wolkenkratzer ist. Die Lehrerin verordnet eine Schweigeminute. Doch es bleibt unruhig. Aufregt unterhalten sich ein Junge und ein Mädchen: Gott würde doch so etwas nicht machen! Um den Kindern zu veranschaulichen, was im fernen Amerika geschehen ist, sucht die Lehrerin mit den Kindern den nahegelegenen Schornstein der Ziegelbrennerei auf, der hoch in den Himmel ragt. Ganz nah stehen sie vor dem Schlot und die kleinen, fragenden Gesichter schauen daran hoch. Mehrfach so hoch waren die Gebäude, die zusammengestürzt sind und mehrere tausend Menschen unter sich begruben, erläutert die junge Frau. Da scheint es den Kindern langsam zu dämmern und sie sind eine Minute lang still.
Schweigeminute (Szene aus 11'09''01)