Die Macht des Bildes

Moderne Literatur heißt: Kino, Theater und Oper nicht vergessen. Welcher Film ist sehenswert? Welche Inszenierung gelungen?
gelbsucht
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Die Macht des Bildes

Beitragvon gelbsucht » 21.02.2003, 06:12

Es ist mir ein Bedürfnis, an dieser Stelle einen Film zu besprechen und zu empfehlen, den ich bereits im Dezember vergangenen Jahres gesehen habe und der mich sehr bewegt hat. Es handelt sich dabei um einen Episodenfilm in dem sich 11 Regisseure aus der ganzen Welt mit den Ereignissen des 11. Septembers 2001 auseinandersetzen:

11'09''01
September 11

Ein Film von 11 Regisseuren

Samira Makhmalbaf - Iran
Claude Lelouch - Frankreich
Youssef Chahine - Ägypten
Danis Tanovic - Bosnien-Herzegowina
Idrissa Ouedraogo - Burkina Faso
Ken Loach - Großbritannien
Alejandro González Inárritu - Mexiko
Amos Gitaï - Israel
Mira Nair - Indien
Sean Penn - USA
Shohei Imamura - Japan

Der künstlerische Produzent, Alain Brigand, umreißt die Idee, die diesem Film zugrunde liegt wie folgt:
In Echtzeit drangen die Bilder von der Katastrophe in all ihrer Gewalt in unsere Wohnungen. Mit einem Schlag wurde Trauer universell. Wie konnte man kein Mitgefühl empfinden, wenn das Fernsehen das Leiden jener, die dem Tod ins Auge sahen, gleichzeitig in alle Winkel der Welt ausstrahlte?

Um das weltumspannende Echo auf dieses Ereignis auf andere Art als durch diese entsetzlichen Bilder festzuhalten, wurde mir sehr bald klar, dass wir die Pflicht der Reflexion hatten. Diese Reflexion sollte nicht der Gegenwart verhaftet sein, sondern sich ausdrücklich der Zukunft zuwenden. Sie sollte in allen Ländern und Regionen verstanden und mitempfunden werden können. Eine Reflexion, die diese Bilder mit anderen Bildern beantwortete.

So bat ich elf bekannte Regisseure und Regisseurinnen um einen Beitrag - einen Blick auf ihre eigene Kultur, ihre eigene Erinnerung, ihre eigenen Geschichten und ihre eigene Sprache. Die Vorgabe lautete: "Ein Film, der 11 Minuten, 9 Sekunden und 1 Bild — 11'09''01 — dauert und sich um die Ereignisse des 11. September und ihrer Folgen dreht."

Die Regisseure und Regisseurinnen erfassten das Thema und brachten ihre Sicht der Ereignisse zum Ausdruck, geleitet von den Sorgen und Anliegen ihres eigenen Landes und ihrer eigenen Geschichte. Der Film bringt unterschiedliche Prioritäten und Engagements zum Ausdruck. Jede Meinung ist frei und in völliger Gleichberechtigung zum Ausdruck gebracht.

Diesem filmischen Mosaik liegt kein Konsens zugrunde. Zwangsläufig ist es voller Kontraste, so dass es möglicherweise Gefahr läuft, vom künstlerischen und ethischen Standard abzuweichen, dem sich jeder Regisseur verpflichtet fühlt.
Gerade das hat mich an diesem Film beeindruckt: die vorsichtige oder auch provokative Reflexion der Ereignisse, die Unterschiedlichkeit der Perspektiven und, dass die Regisseure aus verschiedenen Ländern und ganz unterschiedlichen sozialen Kontexten und Kulturen kommen. Im Untertitel des Films heißt es unter anderem: "Um das Gefühl durch Verstand zu ergänzen, um allen eine Stimme zu verleihen." Doch das ist nichts als ein ehrenwerter, aber weltfremder Wunsch. In einem Amerika, dass medial polarisiert ist zwischen Patriotismus, Trauer und dem Ruf nach Gerechtigkeit auf der einen Seite und Terrorismus, Angst, Bedrohung und Hysterie auf der anderen, hat ein kritischer Film wie 11'09''02 keinen Platz. So ein Produkt wird als "antiamerikanisch" etikettiert und findet dann keinen Verleih. Dafür konnten wir im Dezember in den Kinos einen anderen Film sehen, der in Amerika extrem erfolgreich war, ein Film, dessen Handlung sich vordergründig in brutalen Gemetzeln ergeht und den Krieg als Kampf des Guten gegen das Böse glorifiziert: Der Herr der Ringe II. Demnächst wird über den Ozean die dritte Episode der Star Wars Saga schwappen, ein Film, der nach dem selben Strickmuster aufgebaut ist. Ich finde das bezeichnend.

Realität wird heute von Medien (nicht einfach vermittelt, sondern) konstituiert und desto privater & sicherer sich das Leben der Menschen in der westlichen Welt gestaltet, desto mehr scheinen sie empfänglicher für und abhängiger von den Emotionen und den Aufregungen zu werden, die ihnen nicht-fiktive und fiktive Formate liefern, wobei der Übergang von der Realität zur Fiktion in den Medien durchaus fließend verläuft. Erfolgreich ist, was das Gefühl anspricht, was polarisiert: die Soap, die Reality-Show, der Horrorfantasyactionkomödiesciencefictionlovestorymovie, der Pop-Song, die wahre Kannibalen-Crime-Story, die Dieter-Bohlen-Gazette oder die Liveübertragung eines verheerenden Terroranschlags ... Es ist zu einem Hintergrundrauschen geworden, das uns jeden Tag audiovisuell umschwirrt und beschäftigt, dass sich nicht einfach wegschalten lässt (ohne gleich zum Eremiten werden zu müssen). Und alle reden darüber: man ist dafür oder man ist dagegen ... jeder hat einen Meinung (und wer keine hat, kann nicht mitreden und wer nicht mitreden kann, grenzt sich aus). Wohin führt uns das? Direkt in die globale "Mediokratie"? Macht hat, wer die Mittel besitzt zu "senden", Bilder zu selektieren, Meinungen zu "machen"? Mich lässt das Thema nicht mehr los, aber ich wollte etwas über einen Film erzählen ... nur noch ein Beispiel, das veranschaulichen soll, was ich meine: Fassungslos und erschüttert von den Bildern der einstürzenden Zwillingstürme, zeigte man uns die Bilder von jubelnden Palästinensern – Menschen, die sich angesichts des Infernos, das die Amerikaner traf, freuten. Eine schärfere Kontrastierung ist kaum vorstellbar. Doch die Bilder waren ein Fake. Frauen und Kinder wurden von Journalisten mit Süßigkeiten zum Jubeln animiert.

Bild
Jubel vor der Kamera für ein Stück Kuchen
http://de.indymedia.org/2001/09/7869.shtml

Im ersten Kurzfilm von Samira Makhmalbaf, einer jungen Regisseuren aus dem Iran, sieht man ein paar Kinder im Alter zwischen – ich schätze – 5 und 10 Jahren. Sie sind damit beschäftigt Lehm in Formen zu füllen. Es sind die Kinder von afghanischen Flüchtlingen im Iran, die in einer Ziegelbrennerei arbeiten. Dann folgt die Kamera den Spuren einer jungen Frau mit schwarzem Kopftuch, die mit schriller Stimme die Kinder zusammenruft: zur Schule. Dann sitzen sie versammelt vor ihr. Auf dem Boden. Die Lehrerin belehrt die Kinder, dass etwas schreckliches geschehen sei und fragt, ob jemand von ihnen wüsste, was sie meine. Ein kleines Mädchen bejaht das und erzählt, dass in einem Nachbarort ein Mann in einen Brunnen gefallen und gestorben sei. Die Lehrerin unterbricht das Mädchen und macht ihr klar, dass habe sie nicht gemeint, sondern ein sehr viel bedeutsameres Ereignis, dass sich auch auf ihrer aller Leben auswirken werde. Da meldet sich ein anderes Mädchen, aber ziert sich zu sagen, was sie im Sinn hat. Die Lehrerin ermutigt sie, es doch zu sagen und das Mädchen erzählt, dass eine ihrer Tanten in Afghanistan eingegraben und dann zu Tode gesteinigt wurde. Die Lehrerin wird ungehalten und versucht die unwissenden Kinder aufzuklären, dass in einem fernen, mächtigen Land Flugzeuge in Hochhäuser gerast seien. Doch den Kindern ist das unbegreiflich, denn sie haben weder einen Begriff davon was ein Flugzeug, noch was ein Wolkenkratzer ist. Die Lehrerin verordnet eine Schweigeminute. Doch es bleibt unruhig. Aufregt unterhalten sich ein Junge und ein Mädchen: Gott würde doch so etwas nicht machen! Um den Kindern zu veranschaulichen, was im fernen Amerika geschehen ist, sucht die Lehrerin mit den Kindern den nahegelegenen Schornstein der Ziegelbrennerei auf, der hoch in den Himmel ragt. Ganz nah stehen sie vor dem Schlot und die kleinen, fragenden Gesichter schauen daran hoch. Mehrfach so hoch waren die Gebäude, die zusammengestürzt sind und mehrere tausend Menschen unter sich begruben, erläutert die junge Frau. Da scheint es den Kindern langsam zu dämmern und sie sind eine Minute lang still.

Bild
Schweigeminute (Szene aus 11'09''01)
"Ein Kluger bemerkt alles - ein Dummer macht über alles eine Bemerkung." (Heinrich Heine)

gelbsucht
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Re: Die Macht des Bildes

Beitragvon gelbsucht » 21.02.2003, 06:20

Ich möchte an dieser Stelle ein sehr interessantes Interview mit der Regisseurin Samira Makhmalbaf wiedergeben und zwar ungekürzt:

Wo waren Sie am 11. September 2001? Was empfanden Sie, als Sie von den Ereignissen erfuhren?

Als ich im Fernsehen die beiden Türme einstürzen sah, konnte ich es zuerst gar nicht glauben. Ich dachte, da liefe ein Film mit Special Effects, aber dann wurde mir sehr bald klar, dass es reale Bilder waren. Dann dachte ich an meine Freunde in New York. Ich hatte einen Monat dort gelebt und hatte viele Freunde dort. Als ich einige Stunden später hörte, dass Amerika Afghanistan angreifen wollte, musste ich an die Kinder und Frauen denken, die ich einen Monat zuvor an der Grenze zwischen Iran und Afghanistan gefilmt hatte. Ich hatte rund einen Monat bei ihnen gelebt. Ich hatte doppelt Angst, weil ich Freunde in Amerika und in Afghanistan hatte.

Sie sind als Regisseurin sehr beschäftigt. Dennoch haben Sie nicht lange gezögert, dieser Einladung Folge zu leisten und einen Kurzfilm zu einem kollektiven Werk rund um die Ereignisse in New York am 11. September beizusteuern. Warum?

Die Vorfälle des 11. September sind ein weltweites Ereignis. Natürlich verdanken sie ihre globale Präsenz den Bildern, die per Satellit in Realzeit rund um die Welt in alle Staaten ausgestrahlt wurden. Doch der reale Tod von 2,5 Millionen Afghanen, die im Verlauf von 20 Jahren durch Krieg und Hungersnot starben, wurde vergessen, weil diese Bilder nicht in Realzeit ausgestrahlt wurden. Nachdem ich diese Bilder gesehen hatte, wurde mir als Filmemacherin erneut die Macht des Bildes bewusst, und da dachte ich mir, dass die Globalisierung vor allem auf der Macht der Bilderwelt beruht. Wenn die Nachricht im Rundfunk, ohne Bilder, gesendet worden wäre, hätte niemand sie geglaubt. Dieses Bild war eindimensional, als würde jemand darüber reden; es war ein Monolog, kein Dialog. Damit dieser bildliche Monolog zu einem zwischenmenschlichen Mediendialog werden kann – wobei diese Medien in der Macht der Supermächte sind -, ist es nötig, Menschen verschiedener Kulturen aufzufordern, die Ereignisse aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Eine eindimensionale Realität ist nicht verständlich, und wer eine derartige eindimensionale Realität schafft, fördert nur Missverständnisse unter den Menschen, ohne Harmonie zwischen ihnen zu schaffen. Die Realität beruht nicht auf der Sicht jener, die die Realität miterleben. Wenn wir von einer universellen Realität sprechen, müssen wir sie aus dem Blinkwinkel der ganzen Welt betrachten. Ich dachte mir, obwohl es nur ein Kurzfilm ist und er mich daran hinderte, einen Spielfilm zu drehen, war es ein humanitärer Akt, mich an dem Bilderdialog zu beteiligen.

Hatten Sie sich bereits überlegt, etwas über die Ereignisse des 11. September zu machen, bevor Sie um Mitarbeit an 11’09’’01 gebeten wurden?

Durch meine Filme war ich schon bei vielen internationalen Festivals und kenne viele Länder. Ich hatte mir schon länger überlegt, einen Film über die Distanz zu drehen, den die Armut in Ländern wie Afghanistan im Gegensatz zum Reichtum entwickelter Länder schafft. Nach dem 11. September kam ich zu dem Schluss, dass es wieder einmal an der Zeit war, diesen globalen Konflikt anzusprechen. Viele Menschen reden über den 11. September, doch nur wenige führen die Ereignisse auf die Diskrepanz zwischen der entwickelten und der unterentwickelten Welt zurück. Die Armen ertrinken in ihrer Armut und die Reichen im Meer ihres Reichtums. Niemand überlegt sich, dass diese Diskrepanz – zwischen warmem und kaltem Klima – einen verheerenden Sturm auslösen könnte.

Welche Ereignisse oder persönliche Erlebnisse wollten Sie mit Ihrem Beitrag zum Ausdruck bringen?

Welches persönliche Echo auf die Ereignisse vom 11. September? Ich wollte vermitteln, welches Gefühl von Bedrohung ein Zwischenfall, der im Westen stattfindet, bei einer Frau im Osten auslösen kann. Ich wollte ausdrücken, dass eine Frau im Osten, die New York und die Türme vielleicht noch nie gesehen hat, vielleicht nicht die leiseste Ahnung über das Leben dort hat, den Prozess der Globalisierung trotzdem nur mit Sorge beobachten kann, dass ein solches Ereignis ihr ganzes Leben verändern kann. Der Sturm, den der Westen mit der Globalisierung heraufbeschwört, könnte die Menschen im Osten vernichten. Ich wollte zeigen, dass die Zerstörung von zwei Türmen in einer Stadt im Westen zur Zerstörung vieler Städte in nicht-westlichen Ländern führen kann. Ich wollte zeigen, dass Menschen, die nichts mit der Zerstörung dieser beiden Türme zu tun hatten, die nicht einmal von der Existenz dieser Türme wussten, als Folge dieses Ereignisses ihre Heimat und ihr ganzes Hab und Gut verlieren können.

Wie sind Sie auf die Idee zu Ihrem Film gekommen? Sofort, oder mussten Sie lange darüber nachdenken?

Nachdem ich die Bilder von der Zerstörung der beiden Türme gesehen hatte, und als Amerika Afghanistan bombardierte, wollte ich wissen, ob meine Freunde in New York davon betroffen waren, und ich wollte nach Afghanistan, um den afghanischen Kindern zu helfen, so bescheiden mein Beitrag auch sein konnte. Ich war in Afghanistan, als Amerika Bomben über das Land abwarf, und ich sah, dass die Kinos, die jahrelang geschlossen gewesen waren, allmählich wieder ein paar Filme zeigten. Darüber war ich sehr glücklich, und ich überlegte mir sofort, einen Film zu machen.

Hat die vorgegebene zeitliche Beschränkung auf 11 Minuten, 9 Sekunden und 1 Bild pro Beitrag Sie beim Aufbau Ihrer Geschichte behindert? Wie gingen Sie damit um?

Genau so wenig, wie eine Mutter das genaue Gewicht und die Größe des Kindes, das sie gerade zur Welt bringt, bestimmen kann, kann ein Filmemacher die Länge eines Films festlegen, bevor er mit der Arbeit daran beginnt. Natürlich beachten wir gewissen Regeln, bei einem Spielfilm etwa schwebt uns eine Länge von 70 bis 120 Minuten vor, aber es ist für einen Filmemacher sehr schwer, im Voraus zu sagen, wie viele Minuten, Sekunden und Bilder ein Film haben wird. Es ist, als würde man ein Paar Schuhe anfertigen und die Füße dann hineinzwängen, anstatt die Schuhe den Füßen entsprechend herzustellen. Es gab bei diesem Film zwei Vorgaben: das Thema 11. September und die Dauer von 11 Minuten, 9 Sekunden und 1 Bild. Ich musste meine Gedanken und Gefühle auf eine solche Art in diese beiden vorgegebenen Gefäße füllen, dass kein Tropfen überlief, aber dass zum Schluss kein einziger Tropfen mehr in das Gefäß passte. Ich fühlte mich an die Dichter erinnert, die ein Couplet in einem Vierzeiler zusammenfassen müssen. Doch bei diesem Film war die Länge von 11 Minuten, 9 Sekunden und 1 Bild ein Symbol und gehörte zum Wesen des Films. Ich musste auf vieles, was ich eigentlich sagen wollte, verzichten und viele Einzelheiten verändern. Ich war gezwungen, meine Gefühle auf die vorgegebene Dauer zu beschränken. Das brachte natürlich gewisse Schwierigkeiten mit sich.

Bild
Samira Makhmalbaf

Wie erlebten die Schauspieler und der Stab Ihren Beitrag? Wie gingen die Dreharbeiten vor sich?

Wenn die Kamera zu laufen beginnt, ist es, als würde ein Maschinengewehr anfangen, auf die Realität zu schießen. Je mehr wir der Kulisse und der Technik ihre Bedeutung nehmen, desto größer wird die Erwartung, dass in der Realität ein goldener Moment entsteht. Im Backstage-Material dieses Films sieht man, wie ein kleines Mädchen, das vom Kino keine Ahnung hat, die ganzen Techniker und die Leute auf der Bühne stundenlang warten ließ, um sich auf den Moment vorzubereiten, in dem sie sich so natürlich wie in der Realität verhalten konnte. Man kann also sagen, dass die Kamera und die Technik die Realität auf der Bühne abtöten, als würde die Kamera 24 Schüsse pro Sekunde abfeuern. Die Regie hat den Geist dieses Filmes in die Hände einer Siebenjährigen gelegt und nicht in Leute wie uns, die mit der Technik vertraut sind. Wenn die Technik die Schauspieler – Leute von der Straße – beherrschen würde, erhielten wir ein Kino, das eher an eine Fabrikware erinnert als an ein Fragment aus dem Gedicht des Lebens.

Jeder Regisseur und jede Regisseurin entwickelten einen völlig eigenen Film, ohne die leiseste Ahnung zu haben, wie der Beitrag der anderen aussehen würde. War das für Sie ein Problem? Wie haben Sie dieses kollektive Werk erlebt oder “gelebt”?

Die fehlende Kenntnis der anderen Beiträge führte dazu, dass die unterschiedliche Töne des Films umso stärker werden konnten. Wenn ich an einem Film arbeite, ist es mir lieber, wenn die Schauspieler nicht das Drehbuch lesen und nichts über die Rollen und Reaktionen der anderen Schauspieler herausfinden. Denn wenn sie dann etwas sagen, ist es für sie wie im wirklichen Leben – sie wissen nicht, wie ihr Gegenüber auf ihre Äußerung reagieren wird. Viele von ihnen wissen nicht einmal, worum es in der nächsten Szene überhaupt geht. Der Produzent von 11’09’’01 schuf letztlich einen Film, den elf Regisseure – das heißt, elf Schauspieler – als ihren eigenen betrachten, und versuchte, durch die Einheit des Themas und der Länge eine Harmonie zu schaffen, genau wie ein Regisseur.

Kann der Film Ihrer Ansicht nach unserer Einschätzung der gegenwärtigen Welt zu einer neuen Perspektive verhelfen? Kann das Kino als Instrument des Friedens dienen?

Mit Hilfe der Satelliten, die es in unserer heutigen Welt nun einmal gibt, schicken die Mächte ihre vereinheitlichen Ideen und Gedanken in alle Welt hinaus. Doch mit diesem Film werden durch ein einheitliches Medium unterschiedliche Gedanken verschickt. Es gibt unterschiedliche Stimmen aus aller Welt. Und obwohl diese Stimmen wegen des Lärms, den die Satelliten erzeugen, nicht allzu deutlich zu hören sind, ist doch klar, dass die nächste Generation sich bemühen wird, zur Musik dieser Stimmen zu tanzen und in den Pausen dazwischen gründlicher nachzudenken. Ich erwarte nicht, dass ein Film wie 11’09’’01 sofort eine umfassende Wirkung haben wird - vergleichbar mit der, die BBC und CNN in nur einer Nacht weltweit hatten. Doch ich glaube auch, dass dieser Film wie Einsteins Theorie, die erstmals die Eigenschaften der Atome erklärte, die öffentliche Meinung allmählich beeinflussen wird, langsam, aber unaufhaltsam. Wenn der Kriegsgedanke auf einer gedanklichen Einheit und einem Monolog beruht, dann sollten die Werkzeuge für den Frieden aus einer Vielzahl menschlicher Gedanken und aus Dialog bestehen. Dieser Film ist ein Testlauf für diesen Dialog. Wir dürfen nicht vergessen, dass dort, wo den Menschen der Mund verschlossen wird, damit es zu keinem Dialog kommt, die Waffen sprechen.

Glauben Sie, dass die Ereignisse vom 11. September Ihre künftigen Filme beeinflussen werden?

Die Entstehung eines jeden Films bedeutet die Wiedererschaffung seines Regisseurs. Unsere Erinnerungen sind voller Erfahrungen, und jeder neue Film ist für mich wie eine neue Lebenserfahrung. Ich glaube, nicht nur ich, sondern auch alle anderen Filmemacher bekommen durch die Arbeit an einem neuen Film die Chance, in den Umständen eines anderen Menschen zu leben. Dasselbe gilt für das Publikum. Als ich Der Apfel machte, was elf Tage dauerte, kam es mir vor, als würde ich die Gefangenschaft östlicher Frauen elf ganze Jahre lang miterleben. Als ich Die schwarze Tafel drehte, kam es mir vor, als würde ich jahrelang durch die Berge wandern.

Glauben Sie, dass der 11. September als Bruch gesehen werden wird, der unsere Zeit in ein “Davor” und “Danach” einteilt?

Wenn ich an die Globalisierung denke, denke ich daran, was die Erweiterung der Kommunikationsmöglichkeiten bedeutet und was diese Möglichkeiten angeblich bieten. Vielleicht, dass alle Länder denselben Lebensstandard erreichen, dass Gleichgewicht und Gerechtigkeit herrschen? Wenn ich dann die Kluft zwischen Ländern wie Afghanistan und den entwickelten Ländern sehe, bekomme ich es mit der Angst zu tun. Wenn ich sehe, dass es in der heutigen Welt möglich ist, das Bild von zwei einstürzenden Türmen während des tatsächlichen Einsturzes per Satellit rund um die Welt zu schicken, denke ich – man ruft zumindest für einen Moment in allen Nationen ein menschliches Gefühl hervor, und sofort haben alle das Gefühl, als würde ihr eigenes Zuhause zerstört. Da muss ich fragen, warum ein Land wie Afghanistan existiert, wo sich doch niemand des Leids und des Elends der Bevölkerung dort bewusst ist? Es gibt immer noch Länder, deren Bild nicht gesehen und deren Stimme nicht vernommen werden, als gehörten sie gar nicht zu diesem immensen Universum. Trotz der Globalisierung unserer heutigen Welt gibt es nach wie vor viele unbekannte Orte, und wenn man diese Orte mit einem Medium namens Film aufsucht, kommen sie einem vor wie eine surreale Welt. Es ist, als könnten nur die Medien diesen Surrealismus in Realität verwandeln und ihn anderen Menschen glaubwürdig machen. Es kommt mir vor, als würde das, was nicht per Satellit gezeigt wird, überhaupt nicht existieren. In der heutigen Welt achten die entwickelten Länder nur dann auf die armen Länder, wenn ihr Profit gefährdet ist. Dann lenken alle Länder und die Medien ihre Aufmerksamkeit in diese Richtung.

(Quelle: Presseheft zum Film 11'09''02)

Der Film ist vielseitig. Zwei der Beiträge haben mich zu Tränen gerührt. Aber noch erstaunlicher und überraschender fand ich es, dass auch bei einem ernsten Thema wie diesem durchaus nicht nur traurige, nachdenkliche, erschütternde und melancholische Kurzfilme entstanden sind, sondern auch lustige Beiträge – ohne dass man sich hinterher schämen muss, zum Lachen verleitet worden zu sein.

Weitere Informationen zum Film:
http://www.movienetfilm.de/11_09_01/index.php
http://filmz.de/film_2002/_11_09_01_september_11/links.htm

;-) gelbe grüsse :-)
"Ein Kluger bemerkt alles - ein Dummer macht über alles eine Bemerkung." (Heinrich Heine)

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Re: Die Macht des Bildes

Beitragvon gelbsucht » 25.02.2003, 23:25

Man kann's auch übertreiben!
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Re: Die Macht des Bildes

Beitragvon Undine » 28.02.2003, 00:33

@gelbsucht: Es ist mir ein Bedürfnis, an dieser Stelle einen Film zu besprechen und zu empfehlen, den ich bereits im Dezember vergangenen Jahres gesehen habe und der mich sehr bewegt hat

Kann ich nur bestätigen. Der "11. September" geht ganz tief rein und ist (trotzdem?) wirklich sehens-; und nachdenkenswert - meiner Meinung nach ist er Kunst.
Ungeschriebene Dinge und Taten versinken im Dunkel und fallen dem Vergessen anheim, geschriebene aber werden beseelt.

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Re: Die Macht des Bildes

Beitragvon gelbsucht » 04.03.2003, 21:33

Der "11. September" geht ganz tief rein und ist wirklich sehens- und nachdenkenswert - meiner Meinung nach ist er Kunst.
Du bringst auf den Punkt, was ich mit vielen Worten umständlich sagen und ausführen wollte!

Welcher der 11 Kurzfilme hat dich am meisten berührt und warum?

8-o gelb :-)
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Re: Die Macht des Bildes

Beitragvon Undine » 05.03.2003, 19:17

Ich glaube, am meisten berührt hat mich der Film mit dem Vietnam(?)-Soldaten, der ein solches Grauen am und im Krieg empfand, dass er lieber eine Schlange sein wollte als weiterhin als Mensch zu leben - der ja bekanntlich schlimmer ist als jedes (andere) Tier, weil er imstande ist, seine Artgenossen mehr oder weniger grundlos zu töten. Dieser Soldat gebärdet sich von nun an eben als Schlange und kehrt in dieser Verfassung ja auch zu seiner Familie zurück. Schließlich wird er aus dem Haus gejagt, weil er dabei erwischt wird, wie er versucht, eine Ratte im Ganzen zu verschlingen. Fazit: Dies ist Töten zum Zwecke der Nahrungsaufnahme und deshalb n a t ü r l i c h; im wahrsten Sinne des Wortes, und längst nicht so grausam, wie die Menschen im Krieg sind (weil er diese Unmenschlichkeit nicht mehr ertragen konnte, wollte er ja gerade zum Reptil werden)... doch der Soldat wird nun eben verstoßen, was aus der Perspektive des Kurzfilms ziemlich verquer ist...wäre er als Kriegsheld und behängt mit Orden heimgekehrt, hätte man ihn wahrscheinlich bewundert und verehrt. Doch wer ganz harmlos tötet um zu l e b e n, findet kein Verständnis... soweit meine Interpretation
Ungeschriebene Dinge und Taten versinken im Dunkel und fallen dem Vergessen anheim, geschriebene aber werden beseelt.

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Re: Die Macht des Bildes

Beitragvon gelbsucht » 06.03.2003, 21:34

Hallo Undine!

Das ist eine verdammt gute Interpretation. Doch war es ein japanischer Soldat, der aus dem 2. Weltkrieg heimgekehrt ist. Bei diesem Kurzfilm hatte ich zwar den Eindruck, dass er sich von dem eigentlichen Thema "11. September" am meisten entfernt ... andererseits kommt er mir wie ein sehr weitreichendes Gleichnis vor - eben über Sinn und Unsinn des Tötens/des Krieges. Wie hieß die Frage noch am Ende des Films: "Ist es denn so schwer, ein Mensch zu sein?" Oder hieß es: so schlimm? Ich weiß es schon nicht mehr. Interessant fand ich die Wirkung dieses Films bei mir: am Anfang ist die Szenerie noch ziemlich lächerlich - wie ein erwachsener Mann über den Boden kriecht und sich erniedrigt, doch desto länger der Film dauert, desto bedrohlicher wird es, desto mehr dringt die Symbolik durch ...

;-) gelbe grüsse :-)
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Re: Die Macht des Bildes

Beitragvon Undine » 07.03.2003, 11:04

am Anfang ist die Szenerie noch ziemlich lächerlich - wie ein erwachsener Mann über den Boden kriecht und sich erniedrigt, doch desto länger der Film dauert, desto bedrohlicher wird es, desto mehr dringt die Symbolik durch ..


Das hab ich auch so empfunden. Zu Anfang begreift man ja auch die Tragweite seiner Empfindungen noch nicht völlig... :-|

Der letzte Satz hieß: "Ist es denn so schlimm, ein Mensch zu sein?" Das passt auch prima zu meiner Auslegung: Jawohl, es ist schlimmer, ein Mensch zu sein als ein Tier.
Ungeschriebene Dinge und Taten versinken im Dunkel und fallen dem Vergessen anheim, geschriebene aber werden beseelt.

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