21. Fantasy Filmfest

Moderne Literatur heißt: Kino, Theater und Oper nicht vergessen. Welcher Film ist sehenswert? Welche Inszenierung gelungen?
razorback
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Re: 21. Fantasy Filmfest

Beitragvon razorback » 29.08.2007, 21:48

STAB YOUR BEST FRIEND IN THE BACK AND SCREW HIS GIRLFRIEND: PEOPLE WATCH!

LIVE!
Great Britain / USA 2007
Drehbuch und Regie: Bill Guttentag

Mit diesem Film began für mich der Abschlußtag des Fastivals. Ich machte es mir also bequem, in einem Kinosessel, der für die nächsten drei Filme und knapp sechs Stunden der meine sein würde und wartete, wie das denn so losgehen würde. LIVE! war angekündigt als böse Satire über Reality TV. Ein solcher Film aus UK lässt Großes erwarten. Ein solcher Film aus den USA klingt nach seichter Möchtegernkritik. Ich war gespannt.

Und ich lernte, dass ich offensichtlich (und nicht weiter verwunderlich) mehr von Briten verstehe als von Amerikanern. Denn LIVE! ist einfach nur gut. Gut, gut, gut, böse und hochintelligent. Einen feinen Zerrspiegel bekommt man da vorgehalten, ob man will oder nicht. Unbedingt empfehlenswert, schaut Euch diesen Film an, oft werdet Ihr die Gelegenheit vermutlich nicht bekommen. Der intelligenteste Film den ich gesehen habe bei diesem FFF? Ja… doch. Und das mag was heißen, bei einer Konkurrenz wie „Fido“ oder „The Lookout“. Und dabei kein hochgeistiger Kunstfilm, sondern hart, lebendig, böse. Sehr guter Film!

Aber vielleicht sollte ich ein wenig zur Handlung erzählen, wenn ich schon mein Fazit ziehe. Das Setting ist inzwischen (leider) schon klassisch: Die Realityshow, bei der es um Leben und Tod geht. Hier heißt die Sendung „LIVE!“ – und das Spiel ist das gute alte Russische Roulette. Ein Revolver, sechs Kugeln, fünf davon Blindgänger, eine scharf. Sechs Kandidaten halten sich nacheinander die Pistole an den Kopf und drücken ab, die fünf Überlebenden bekommen je fünf Millionen Dollar, der Verlierer – bzw. seine Hinterbliebenen – gehen leer aus. Die Reihenfolge wird nach jedem Schuss neu ausgelost, die Trommel wird nicht gedreht, es wird also mit jedem Schuss gefährlicher. Und vor dem Schuss immer ein netter Einspielfilm, der uns den nächsten Delinquenten vorstellt.

So weit, so bekannt. Das kennen wir seit dem „Todesspiel“ (nee - "Das Millioenspiel" hieß es) und je näher die wirklichen Realityformate solchen Shows kommen, desto unheimlicher wird es, Filme dieser Art anzusehen. Es ist also nicht besonders schwer, einen Film zu diesem Thema herzustellen, der berührt. Die Leistung – die vielfältigen Leistungen – die Guttentags Film hervorragend machen, liegen auf anderen Gebieten als dem Thema.

Zunächst und ganz zentral: Die Erzählperspektive. Wir leiden nicht in erster Linie mit den Kandidaten, die sind nur Nebenfiguren und – in diesem Falle sehr gut und passend – Typen, keine wirklichen Charaktere. Nein, unsere Protagonistin ist Katy, die Unterhaltungschefin des Senders, der LIVE! bringt. Der ganze Film ist, mehr oder weniger, eine Doku über Katys Arbeitsalltag. Erinnert sich noch jemand an den guten alten „Mann beißt Hund“? Dieser Film ähnelt ihm insofern, dass das Kamerateam nach und nach von Beobachtern zu Mitgestaltern wird, bis in die letzte Konsequenz. Dabei ist der Film vordergründig selbstverständlich lange nicht so brutal wie die Killermockumentary. Dafür macht er es einem aber auch weit schwerer, sich zurückzulehnen und besser zu fühlen.

Der Film beginnt hart und übergangslos: Wir sind in einer Programmkonferenz. Katy sucht dringend neue Formate für ihren dahinsiechenden Sender und bekommt nur altbackenen Mist oder hanebüchenen Unsinn gepitcht. Bis einer ihrer Mitarbeiter vorschlägt: „Warum zeigen wir nicht Russisch Roulette?“ Er wollte einen bösen Witz machen, aber Katy steigt darauf ein. Die Idee ist geboren.

Von nun an beobachten wir Katy dabei, wie sie die Show konzipiert und mit allen Regeln der Senderpolitischen Kunst, mit Tricks und großer Überzeugungskraft durchbringt. Das ist ein ganz klassischer Film, in dem die Heldin ein Ziel hat und Widerstände überwinden muss, um es zu erreichen. Der Widerstände sind viele – von moralischen (denn dies ist kein dummer Film, in dem alle Fernsehmacher doof oder böse sind) über programmpolitische bis hin zu juristischen. Katy nutzt ihr ganzes Können, um sie Stück für Stück aus dem Weg zu räumen – mit Erfolg. „LIVE!“ geht auf Sendung…

Schon durch die kluge Wahl der Hauptfigur wird jegliche behagliche Distanz, mit der man sich bei solch moralischen Filmen normalerweise seine eigene, bessere Moral bestätigen kann unterminiert. Denn Katy ist kein Abziehbild, keine eiskalte Menschenverächterin. Am Anfang kann man sich noch ein wenig in der Sicherheit eines solchen Klischees wiegen. Aber es ist eine Falle – je näher Katy ihrem perfiden Ziel kommt, desto besser verstehen wir sie, desto eher können wir uns mit ihr identifizieren, und als sie endlich – und zu spät – merkt, was sie da angerichtet hat, haben wir ehrliches Mitleid. Die Frage, ob sie daraus lernt, oder sich doch einfach den Mund abwischt und weiter macht, kann sie uns nicht mehr beantworten – eine weitere kluge Wendung im Drehbuch.

Ich erwähnte die Falle – der Film ist voll davon, letztlich ist es unmöglich, sich „LIVE!“ zu entziehen, nicht zum geistigen Komplizen zu werden. Und je mehr man es zu durchschauen vermeint, desto tiefer wird man hineingezogen. Es fällt schon schwer, nicht mit dem Schicksal der Kandidaten mitzufiebern, keinen Favouriten zu haben, dem man des Leben wünscht – und den anderen damit den Tod. Aber, nicht wahr, ich bin doch ein geschulter Filmzuschauer, auf so etwas falle ich doch nicht mehr herein. Viel mehr interessieren mich doch die anscheinenden Lücken in der Logik des Films: Was, wenn sich gleich die Erste erschießt? Scheitert dann nicht die Sendung? Was, wenn der Letzte alleine übrig bleibt? Was hindert ihn daran, den tödlichen Schuss nicht abzugeben. Logiklücken im Film? Nein: Logiklücken im Sendekonzept! Und während ich darüber nachgrübele, beteilige ich mich auf einer ganz anderen Stufe an „LIVE!“ als der normale Zuschauer, der möchte, dass sein Liebling durchkommt – ich beginne, mir Gedanken darüber zu machen, wie man die Sendung verbessern kann. Und noch eine Stufe tiefer: Stimmt der Schein? Ist es Zufall, dass genau der stirbt, dessen Tod die wenigsten Probleme bereiten würde, dessen Motive Teil zu nehmen die dümmsten und oberflächlichsten sind. Ist das, was am Ende mit Katy passiert nicht womöglich Plan des Senders? Herzlich willkommen im Abgrund – das sind Gedanken zur BERECHTIGUNG der Sendung. Und zwar nicht zur moralischen oder zur juristischen Berechtigung, sondern die perfide Frage danach, ob die Sendung „ehrlich“ ist. Ob sich da jemand nach den Regeln umbringt, oder nicht. Jede noch so durchdachte Frage lässt mich (und ich unterstelle mal: die meisten Zuschauer) letztlich zum Komplizen werden – ich bin ein Kind dieser Medienwelt, egal, wie sehr ich sie zu durchschauen glaube, ich geschulter Filmzuschauer und professioneller Öffentlichkeitsarbeiter. Ich bin drin. Und ihr werdet es auch sein. Schaut Euch diesen Film an!
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Re: 21. Fantasy Filmfest

Beitragvon Kato » 12.09.2007, 01:44

Klasse Ausführungen, Zusammenfassungen und Infos! Danke!

Kato

Silentium
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Re: 21. Fantasy Filmfest

Beitragvon Silentium » 13.09.2007, 00:35

Man beißt Hund... oh ja, dass ist natürlich ein Schnuckelchen unter den fiesen Filmen. ]:-)
Was haben wir gelacht.
Aber der hier klingt auch sehr, sehr fesch.

So nebenbei - wie war Day Watch?
I would go to the Dark Side in a heartbeat if I thought they had better dialog over there.
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Re: 21. Fantasy Filmfest

Beitragvon razorback » 13.09.2007, 01:32

Kommt noch.

Wie gesagt... ich bin im Moment ziemlich unter Strom. Aber ich habe den Ehrgeiz, die letzten vier Kritiken und mein Abschlussfazit bis Ende kommender Woche zu schaffen.

Hierzulande wird im Moment schon kräftig für Daywatch geworben, bei Euch auch? Dann vergleiche doch einfach mal die aktuellen Trailer mit denen für den ersten Film...

Kato: Bitte! :-)
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Re: 21. Fantasy Filmfest

Beitragvon Flocke » 19.09.2007, 14:04

Hi, Razor,
hallo in die Runde.

Wollte dich auch nur wissen lassen, dass ich das alles hier fleißig mitlese, auch wenn ich meine Kinobesuche in den letzten 1 1/2 Jahren an 5 Fingern abzählen kann.

LIVE! erinnert mich stark an eine kleine böse Geschichte von E.W. Heine namens "Salto Mortale". Ähnliches Konezpt, nur müssen die Teilnehmer (6 an der Zahl) mit einem Fallschirm abspringen, bei einem öffnet er sich dann nicht...

Bei "Daywatch" bin ich echt am Überlegen, da ich von ersten Film sehr enttäuscht war. Hatte mir die DVD gekauft, da ist auch ne Vorschau auf diesen 2. Teil dabei, scheint aber genauso konfus zu sein wie der erste. Und auf einer Fanpage haben sie mal so die Unterschiede zwischen Film und Buch beleuchtet in Sachen Figuren und Story und die Eingriffe fand ich teilweise schon sehr brachial. Ich kann mit den Büchern da echt mehr anfangen, die habe ich alle vier mit Begeisterung verschlungen. Ach ja, und da ich eine Frau bin, sollte ich vielleicht noch erwähnen, dass der Anton-Darsteller ein absoluter Schnuckel ist... :-))

Flocke
...Der den Wind kennt / besser als alle Bücher / den Baum / frag nach Wahrheit...

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Re: 21. Fantasy Filmfest

Beitragvon razorback » 21.09.2007, 08:51

Aber ich habe den Ehrgeiz, die letzten vier Kritiken und mein Abschlussfazit bis Ende kommender Woche zu schaffen.


Das wird wohl nix :-((

Aber, hey, dafür kann ich Euch jetzt bei Euren Investements beraten, das war nämlich das Thema, mit dem ich mich die letzten beiden Wochen permanent beschäftigen musste. Als Öffentlichkeitsarbeiter lernt man die tollsten Dinge. Wenn Ihr also nicht wisst wohin mit Eurer üppigen Kohle - fragt mich, ich weiss das jetzt :-D .

Aber einen Tipp schulde ich Euch noch, bevor ich für ein paar Tage verschwinde, und der hat nichts mit Wertpapieren zu tun, sondern mit wertloser Zeitverschwendung:

Tut Euch "Wächter des Tages" nicht an, es sei denn, ihr habt den ersten Teil gesehen und fühlt irgendeine Verpflichtung, sowas dann auch zu Ende zu sehen (wie ich). Die ausführliche Kritik kommt später, aber da der Film gestern angelaufen ist, hier mein Fazit:

Eine einzige, riesengrosse Enttäuschung!
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Re: 21. Fantasy Filmfest

Beitragvon Edekire » 19.03.2008, 23:34

lieber razor,

letztens habe ich zusammen mit meinem bruder und noch ein paar leuten fido angeschaut... was haben wir gefeiert... und zwar ALLE. und das will was heißen.. wir können uns nämlich nie einigen und am ende mosert dann doch noch immer einer.
das ist alles so herrlich böse und schlau und auch so schön üertrieben bunt. und genau. wie ich dabei lernte ist den müll raus bringen die einzige form von hausarbeit, die ein mann in den 50ern machte.

gracias

edekire

(immer wenn ich in berlin bin muss ich die viedeothek genießen. die ist aber auch so gut, mal schauen was die sonst noch so haben)
ich wünschte ich hätte musik, doch ich habe nur worte
sarah kane


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