Den Himmel zweier Liebenden geschleift

Moderne Literatur heißt: Kino, Theater und Oper nicht vergessen. Welcher Film ist sehenswert? Welche Inszenierung gelungen?
gelbsucht
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Den Himmel zweier Liebenden geschleift

Beitragvon gelbsucht » 20.05.2003, 22:57

Kabale und Liebe
Trauerspiel in fünf Akten
von Friedrich Schiller

Inszenierung von Burkhard C. Kosminski
am Düsseldorfer Schauspielhaus

Der Regen hat aufgehört. Nur die Kastanien der Kö tragen noch Blatt für Blatt die Tropfen der Erde zu wie tausendstufige Kaskaden, und du zitterst immer noch und immer noch laufen dir kalt die Schauer über den Arm, über den Rücken und durch deinen ganzen Körper. Das ist Theater!

Es beginnt mit einer Groschenromanphantasie: Ferdinand, ein junger Adliger, liebt Luise, ein bürgerliches Mädchen, Tochter eines einfachen Stadtmusikanten. Aber der Vater des Schwärmers hat schon ehrgeizigere Pläne mit seinem Herrn Sohn. Er will ihn in die Heirat mit der Lady Milford, der Mätresse des Fürsten, zwingen, um seine eigene politische Stellung am Hof zu sichern. Aber sein ganzer Einfluss und seine ganze Macht reichen nicht hin, seine Absicht und seinen Willen durchzusetzen. Es kommt zum Eklat zwischen Vater und Sohn, und als der letztere droht, die Intrigen anzuzeigen, durch welche einst der Vater das Präsidentenamt an sich gerissen hat, steckt dieser zurück – fürs erste. Aber der Haussekretär des Präsidenten, Wurm, der wiederum Luise für sich beansprucht und also seinen eigenen Grund hat, die Liebenden zu entzweien, erfindet schließlich eine List. Sie setzen Vater und Mutter des Mädchens in aller Stille fest und erzwingen von ihr, einen Brief zu schreiben. So reicht am Ende dieser Fetzen Papier, der wie zufällig Ferdinand in die Hände gespielt wird, "ihm das Mädchen verdächtig" zu machen und die selbstzerstörerische Kraft der Liebe zu entfesseln: die blindwütende Eifersucht. Mehr und mehr verhetzen sich die Liebenden und erst als bereits alles zu spät ist, kommt der Schwindel heraus.

Der Schillertext ist immer noch großartig. Ich habe ihn gelesen. Doch man wird nicht umhin kommen, einzugestehen, dass er auch einige Härten beinhaltet. Der moralische und religiöse Pathos ist an einigen Stellen zu stark, um nicht empfindlich den Geschmack der Zeit zu berühren. Es bedarf also schon einer geschickten Hand, das dezent umzusetzen, ohne die Kraft der Sprache und die Tragik der Handlung zu mildern, die dem Stück darüber hinaus innewohnt. Ich glaube, diese geschickte Hand, hat der Regisseur Burkhard C. Kosminski bei der Inszenierung von "Kabale und Liebe" am Düsseldorfer Schauspielhaus bewiesen. Ich habe schon lange nicht mehr so eine gute und spannende Theateraufführung gesehen. Sehr beeindruckt war ich vor allem von der schauspielerischen Leistung des gesamten Ensembles. Die Rollen sind – ohne Ausnahme – mit bewundernswerten Schauspielern besetzt, die durch ihren überzeugenden, leidenschaftlichen Auftritt die Zuschauer in ihren Bann schlagen.

Zudem hat man hier beim Bühnenaufbau und beim Einsatz von Licht und Musik mit wenigen Mitteln sehr viel erreicht. Das Publikum sitzt zu beiden Seiten der schmalen, rechteckigen Bühne. Ganz nah dran. Ein Gerüst, ein große Stahlkonstruktion hängt da vor dir herunter und bildet durch Balken und Pfeiler einen Raum, der sich in mehrere kleinere Zimmerchen, Zellen, Kuben unterteilt. Aber es sind eben doch keine Zimmer, denn es gibt keine Wände dazwischen. Alles ist offen. Ein paar Stühle stehen herum, sonst nichts. Die Schauspieler treten auf, indem sie durch eine Öffnung im Boden der Bühne steigen oder indem sie von oben über eine eiserne Wendeltreppe herabkommen. Am Anfang lässt der Regisseur alle entscheidenden Personen auf einmal auftreten und verschmilzt verschiedene Szenen des ersten Aktes in einer einzigen. Es ist ebenso verwirrend wie genial: jeder, beschränkt auf sich selbst, nimmt eine dieser Zellen ein, sie sprechen durcheinander, sie rufen sich etwas zu, sie starren vor sich hin. Trotz der Offenheit der Räume wirken sie wie eingeschlossen und alles, was sie sagen, was sie sich zurufen, was sie tun, geht aneinander vorbei. Dann brechen diese Isolationen auf und das Stück geht in ein Nacheinander der Szenen über. Immer wieder dringen aus der Tiefe der Bühne, die man nicht sieht, gedämpfte Rufe, die man nicht versteht. Licht und Zwielicht, warmes und kaltes Licht wechseln einander ab und verstärken die Atmosphäre der einzelnen Szene und den Ausdruck der Schauspieler ungemein – gerade dadurch, dass die Bühne ansonsten so spartanisch gestaltet ist.

Es gibt allerdings auch zwei Punkte, wo ich mich kritisch zu der Umsetzung des Stückes äußern möchte. Das betrifft zum einen die Szene, in der Wurm Luise erpresst und ihr den Brief diktiert. Hierbei kommt es, wie im Text nicht einmal angedeutet, zu einem Übergriff, zu einer versuchten Vergewaltigung, von beiden Schauspielern grausam gut gespielt. Ich war so geschockt, dass ich gar nicht wusste, wie ich mich als Zuschauer dazu verhalten sollte. Aber ich empfand das auch als einen sehr übertriebenen, unnötigen Effekt, der dem Stück mehr geschadet als genützt hat. Vollkommen unverständlich ist mir aber geblieben, warum der Hofmarschall von Kalb mit so einem lauten Knall, so heldenhaft und blutig sterben muss! Von dieser Szene war ich dann wirklich enttäuscht, denn hier wurde der Text ganz auf den Kopf gestellt. Erstens: Woher nimmt der lächerliche Charakter plötzlich soviel Festigkeit und Courage her? Zweitens: Warum schenkt Ferdinand seinen Worten denn keinen Glauben? Warum überhört er denn das Geständnis des Hofmarschalls: "Sie sind ja betrogen"? Warum münzt er das Wort "Ihr eigener, leiblicher Vater" nicht auf seinen Vater, den Präsidenten, sondern auf den Stadtmusikanten? Eben! Weil der Hofmarschall eine unglaubwürdige Witzfigur ist. Drittens: Wie kann Ferdinand noch an dem zweifeln, was der Hofmarschall sagt, obwohl er tödlich verwundet ist? Ja, wie treffend sagt er doch an späterer Stelle: "Eine Lüge pflegt man doch sonst nicht auf diese Reise zu nehmen?" Nur, um ein bisschen Blut auf der Bühne zu verspritzen, hat hier die Regie viele unauflösbare Widersprüche und Unstimmigkeiten in Kauf genommen.

Nichtsdestotrotz ist die Aufführung wundervoll. Wer die Chance hat, sie zu sehen, wer in Düsseldorf oder in der Umgebung wohnt, dem sei gesagt: Nicht verpassen!
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Re: Den Himmel zweier Liebenden geschleift

Beitragvon Auf Eulen Schwingen » 19.10.2003, 21:02

Dear Gelbsucht,

Deine Rezension zur Theateraufführung íst stimulierend und wirkt überzeugend. Auf eine textintensive Auseinandersetzung erfordernde These von Dir möchte ich allerdings eingehen.

Ausgangslage:

Du bedauerst den heroisch inszenierten Tod Kalbs in der Duellszene (im Original ist ja für ihn das Pulver zu schade), dieser Tod sei - so verkürze ich - unpassend für eine "Witzfigur". Dass es sich bei Kalb um eine Witzfigur handele, begründet dein Text damit, dass Ferdinand den (leicht mehrdeutigen) Hinweisen von Kalb auf die Intrige des Präsidenten nicht hinreichend - ich sage mal - Verständnis schenkt. Eben weil er eine Witzfigur ist, die man nicht ernstzunehmen braucht.

Ich vertrete dem gegenüber die These, dass der Marschall (zwar) als Witzfigur angelegt ist, dass aber Ferdinand eben deswegen, der Grundstory der Intrige nicht trauen dürfte- ein Liebesverhältnis zwischen Lusie und der Witzfigur ist zu unwahrscheinlich.

Ich weiß auch nicht, ob nun die Aufführung wirklich ein heroisches Sterben Kalbs vorführt. Interessanter wäre vielleicht die Überlegung, ob die Aufführung hier nicht eine tödliche Konsequenz vorführt, eine Konsequenz vor der Vergiftung Luises. Eine Konsequenz von Raserei, die auf enttäuschter Schwärmerei basiert.

Daher ein - leider etwas ausufernder - Analyseteil zur Szene IV,3, der Duellszene. Aber, die Analyse ist vielleicht doch auch anregend. Das wünsche ich mir jedenfalls. Und: excuse für die Länge. Ich habe heute meinen spinnigen Sonntagnachmittag.

Das Motiv der Reinheit:

„Wenn sie nicht rein mehr ist? Bube! wenn du genossest, wo ich anbetete? (wüthender) Schwelgtest, wo ich einen Gott mich fühlte. (Plötzlich schweigt er, darauf fürchterlich.) Dir wäre besser, Bube, du flöhest der Hölle zu, als daß dir mein Zorn im Himmel begegnete! - Wie weit kamst du mit dem Mädchen? Bekenne!“

Diese Passage ist syntaktisch und semantisch auffallend. Sie beginnt mit drei Kondizionalsätzen ( zweimal mit „wenn“ eingeleitet, dann mit einem finiten Verb in Erststellung „Schwelgtest“). So scheint sich zunächst einmal ein Gedankenspiel, eine Bedingung und eine Folgerung anzukündigen, doch der logisch-rhetorische Code tritt zurück, der Ausrufcharakter und der emotionaler Ton des Satzes schlagen durch: Die Ausrufe entfalten hypothetisch einen für Ferdinand schrecklichen, deprimierenden und aggressionsfördernden Sachverhalt.

Das erklärt sich auch an den Anschlüssen mit dem Konnektor „wo“: Sie enthalten eine lokale Vorstellung, imaginieren also den bisherigen Erlebnisraum Ferdinands. Logisch gesehen liegt in diesen „wo-Sätzen“ eine (adversative, nicht eine konzessive) Antithese vor, welche Ferdinands kontrastierendes Verhalten präsentiert und die These vom Liebes-verhältnis zwischen Luises und Kalb umso bedrückender macht: Die Zurücknahme des eigenen Genusses wird gemessen an der fremden Befriedigung des Genusses.

Die Folgerung aus den Wenn-Sätzen hat denn auch vor allem mit Affekten zu tun, sie führt mitten in das Gemüt von Ferdinand: Die Vorstellung, dass sein Triebverzicht und das wohl darauf aufbauende Gefühl der Erhabenheit — das Lexem „Gott“ deutet in diese Richtung — nicht auf einen gleichgearteten Partner gerichtet war, ruft Aggression und eine extreme Strafphantasie hervor.

Vorerst zielt sie noch nicht auf Luise selber, sondern auf deren „angenommenen“ Partner: Die Hölle und ihre ewige Verdammnis wäre - so Ferdinand - für Kalb weniger schlimm als die Begegnung mit dem zornigen Ferdinand im Himmel. Eine Größenphantasie, die sicher nicht nur über das Ausmaß des Zorns etwas aussagt, sondern auch Ferdinands Selbstkult als rächende, große und mächtige Instanz greifbar macht, die im Himmel strafen darf und dabei Schlimmeres zufügen kann als der Teufel in der Hölle.

Ähnlich sind die Befunde zur Repetitio von „Wie weit kamst du mit dem Mädchen?“ . Die drängende Frage Ferdinands nach dem Grad der Intimität ist hier kombiniert mit einem kurzen Befehl („Bekenne“) und einem Befehl in „oder“-Form: „Du bist des Todes, oder bekenne!“ .

Herauszulesen ist die Verletztheit des Liebhabers, der sich selbst beherrscht hat. Und der nicht will, dass der Genießer allzuviel genossen hat. Herauszulesen ist aber auch, dass und wie hier Ferdinand „selbstverständlich“ als Herr über Leben und Tod agiert.

Kurz: Ferdinand agiert aus verletztem Stolz als rächende Instanz. Die sakrale Ebene der Liebe („wo ich anbetete“) ist - so glaubt er - von Luise verlassen und zerstört worden. Die Fallhöhe zwischen Sakralisierung und hedonistischer „Schwelgerei“ ist gewaltig und entwickelt so eine heftige Eigendynamik. Ferdinand ist von „fremder“ Dynamik getrieben.


Hamartia und mögliche Anagnorisis:


Mindestens zwei Anhaltspunkte oder Indizien für das, was sich wirklich ereignet hat, werden von Ferdinand übersehen:

Wer den Hofmarschall als jemanden charakterisiert, der „mehr gemacht“ ist, „von Sünden zu entwöhnen, als dazu anzureizen“ , müsste eigentlich daran zweifeln, dass sich ein sechszehnjähriges Mädchen wie Luise mit Kalb abgibt. Ästhetische Gründe wie auch andere Gründe müssten sie davon abhalten. Und: Selbst wenn sie sich wirklich erotisch-sexuell mit einem Adligen einließe und dies vielleicht aus Gründen finanziellen Gewinns: Warum sollte sie einen Hofmarschall akzeptieren, wenn sie einen Präsidentensohn bekommen könnte? Die merkantilen Möglichkeiten wären wohl nicht schlechter, die erotischen eher besser.

Auch die Ankündigung Kalbs „Ich will alles verrathen“ ist nicht unbedingt so zu verstehen, als werde Kalb nun gleich intime Details aus seiner Beziehung zu Luise preisgeben. Erstens ist die Liebschaft ja bereits eingeräumt. Zweitens muss er eine Steigerung der Wut befürchten, wenn er Intimes preisgibt. Eher spricht das Wortfeld um „verraten“ dafür, dass etwas eröffnet wird, was der eigenen Person oder der eigenen Gruppe schadet. Das Lexem setzt somit eher das Vorliegen einer bisher geheimen Abmachung voraus, einer Kabale. Das kann vielleicht auch jemand verstehen, der in Rage ist. Ferdinand aber kann es nicht.

Nun zu der Phase, welche die Chance bietet, die bisherigen Annahmen zu revidieren und die Hamartia der Verkennung durch eine Anagnorisis aufzulösen.

Auffällig an der Syntax dieser Phase ist das Satz-„Splitting“ in den Zeilen .. Der Hofmarschall beginnt eine Auskunft mit: „Ihr Vater - Ihr eigener, leiblicher Vater - „ . Trotz der vorher auftauchenden irritierenden Momente ergänzt Ferdinand sofort mit „Hat seine Tochter an dich verkuppelt“ . Ein schneller Schluss, ein logischer Kurzschluss. Vielleicht noch aus der Situation und dem Affektsturm erklärbar.

Ebenso auffällig die Repetitio: „Ich sah sie nie. Ich kenne sie nicht. Ich weiß gar nichts von ihr“ - einmal von Kalb formuliert, dann leicht abgewandelt von Ferdinand. Die Wiederholung durch Ferdinand könnte eine Nachfrage sein. Aber Ferdinand ist offensichtlich so auf seine Leithypothese des schwelgerischen Betrugs fixiert, dass er vorher Andeutungen überhört hat und nun die Wahrheit für ein „Leugnen“ der Wahrheit hält. So fixiert, dass er nicht skeptisch wird, wenn Kalb ein erotisches Verhältnis in der gleichen Bedrohungssituation am Schluss bestreitet, während er das Verhältnis kurz zuvor noch scheinbar bestätigt hat.

Gewiss, in dieser Duell-Situation dominieren verständlicherweise Affekte. Aber hier findet sich trotzdem die „Hamartia“, ein Verkennen, wohl sogar ein schuldhaftes Verkennen. Ferdinand übersieht nicht nur latente Signale, er blendet auch die massiven Signale aus, welche eine Anagnorisis und damit eine Revision der bisherigen Fehleinschätzung ermöglichen würden.

Die implizite Charakterisierung der Mentalität:

Nun könnte es sein, dass wir als heutige Leser den Hamartia-Verdacht begründet finden, dass aber Schillers zeitgenössischer Leser hier eine sympathische Hauptfigur agieren sah, welche, von einer Intrige gereizt, gar nicht anders handeln konnte, als sie es tut. Natürlich ist dieses Deutungs-Problem nicht objektiv und absolut zu überprüfen. Aber immerhin können wir den Text darauf abklopfen, was er latent über Ferdinand aussagt. Wir können so vielleicht zumindest plausible Deutungsspielräume öffnen.

Der Mensch - so ein allgemein gültiges Modell - hat Vernunft und Affekte, Reflexe und Reflexion also, und ein Gewissen, also Normen, an denen er seine Verhaltensweisen misst. Schiller spricht in seiner Dissertation von dem Zusammenhang der „thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen“. Extremsituationen mögen dazu führen, dass man sich ganz seinen Reflexen überlässt. Vernunft sollte aber doch nicht ganz aus dem Spiel sein.

Zum ersten Mal taucht der Vernunftbegriff in der folgeden Zeile auf („Sie werden vernünftig sein“): Kalb hat das Pistolenzeigen als Duellankündigung verstanden und appelliert an Ferdinand, in diese Aktion „vernünftig“ zu sein. Ferdinand antwortet mit „Mehr als zu viel, um einen Schelmen, wie du bist, in jene Welt zu schicken.“ Das ist ein schnelles Spiel mit Worten, sicher ein Streitreflex, aber sicher auch ein deutlicher Hinweis darauf, dass sich Ferdinands Vernunft ganz auf den Racheakt konzentriert und sich so in einer Art „Überschussverhalten“ den Affekten unterordnet, indem er deren Rachewunsch ausführt.

Welche Rolle spielt der Vernunftbegriff im weiteren Verlauf der Interaktion? Ferdinand verspottet Kalb, er sei ein Hohn auf den „sechsten Schöpfungstag“ , und spricht ihm damit ab, ein vollgültiger Mensch zu sein. Er veranschaulicht diese Mangelthese mit dem Bild vom „Pavian“ . Die „Unze Gehirn“ bei Kalb würde den Pavian „zum Menschen“ machen, während Kalb offensichtlich nur einen Bruchteil von Vernunft besitzt, also weit unter der intellektuellen Kapazität des Affen angesiedelt ist.

Wenn in der nächsten Passage nun gleich Ferdinands Hinweis kommt, dass man bei Kalb sich des Sündigens „entwöhnen“ könne, was impliziert, dass ein Liebesverhältnis Luise - Kalb absurd ist, dann fragt man sich, ob Ferdinands Äußerung, Kalb sei ein dummes Tier, nicht auch auf Ferdinands Verhalten zurückfällt.

Reflexionsarm - so der Subtext für den aufmerksamen Leser doch recht deutlich - bewegt sich Ferdinand in einer animalischen Ebene und setzt das bei seinen Partnern voraus, was er bei sich selbst nicht wahrhaben will oder kann.


Salute und Dank für die strapazierte Aufmerksamkeit bis (vielleicht) hierher.
aes
(auf!eulen schwingen)

gelbsucht
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Re: Den Himmel zweier Liebenden geschleift

Beitragvon gelbsucht » 20.11.2003, 23:01

Hallo AES,

bevor ich zu meiner Antwort komme, sollen kurz einige deiner verwendeten Begriffe erklärt werden, nicht nur, um damit auch anderen die Chance zu geben, uns zu folgen und zu verstehen, sondern auch, um sie mir selbst zu vergegenwärtigen. Du musst mir das nachsehen, denn du weißt nicht, wie oft ich bereits gehört habe, O livro sei zu intellektuell, zu abgehoben, zu elitär, und ich will alles dafür tun, dieses Image nicht noch auszubauen, so dass noch mehr Leute abgeschreckt, ja eingeschüchtert sind, hier ihre eigene Meinung zu äußern, nur weil sie vielleicht kein Studium absolviert oder noch nicht einmal Abitur haben. Vielleicht sollten wir uns zur Maxime machen, was, glaube ich, schon Augustinus vertrat, nämlich selbst noch den kompliziertesten und abstraktesten Sachverhalt allgemein und für jedermann verständlich zu formulieren.

adversativ
sprachlich gegensätzlich, entgegengesetzt
konzessiv
einräumend
Lexem
lexikalische Einheit, sprachl. Bedeutungseinheit, Wortschatzeinheit im Wörterbuch
Hamartia
griech. "Irrtum"; Merkmal des Tragödien-Helden nach Aristoteles; bezeichnet keine habituelle Schwäche, sondern ein einmaliges Fehlverhalten oder das Verkennen einer Situation, durch das der Held ins Unglück gerät; nach Aristoteles notwendiges Merkmal des Helden, um eine optimale Affektwirkung (phobos und eleos) beim Zuschauer zu erzielen
Anagnorisis
griech. "Wiedererkennen"; Umschlag von Unwissenheit in Erkenntnis: plötzliches Durchschauen eines Tatbestandes

Du setzt dich sehr intensiv mit dem Text auseinander, du widmest dich ausgiebig der Interpretation einzelner Sätze, sprachlicher Ausdrücke und ihrer Bedeutung – das ist etwas ungewohnt für mich, aber auch eine angenehme Abwechslung. Darf ich fragen, was du studierst (oder studiert hast)? Ich tippe ja fast auf Philologie, auf ein Studium der alten Sprachen, aber auch Theater- oder Literaturwissenschaften wären dir zuzutrauen.

Also deine Ausführungen sind sehr interessant. Du lenkst dabei den Blick von Hofmarschall von Kalb ab, um ihn auf Ferdinand selbst zu richten. Warum durchschaut er nicht die Intrige, warum erkennt er nicht, wie unwahrscheinlich ein Liebesverhältnis zwischen Luise und dem Hofmarschall ist? Warum kommt ihm nicht in den Sinn, dass sein eigener Vater hinter der Geschichte steckt – ist der Hofmarschall doch einer seiner Lakaien? Das sind berechtigte Fragen.
Ich weiß auch nicht, ob nun die Aufführung wirklich ein heroisches Sterben Kalbs vorführt.

Doch Kalb stirbt unpassend heroisch. In dieser Szene IV,3 ist er standfester und couragierter als in allen Szenen zuvor. Seltsam unpassend scheinen hier die Worte, die Ferdinand auf ihn verwendet, und sein letzter Auftritt war auch ein deutlicher Bruch zu der vorangegangen Charakterisierung (sowohl im Text, wie in der Aufführung). Das musst du mir jetzt einfach mal glauben. Mir ist auch unverständlich geblieben, warum er Ferdinand alles entdeckt, alles zugibt, obwohl er in dieser "Extremsituation" und "Gefahr" sich so unerwartet tapfer zeigt. Der eigentliche Kalb ist ja ein Feigling und weiß sich nicht anders zu helfen, als dem Rasenden alles zu gestehen.
Interessanter wäre vielleicht die Überlegung, ob die Aufführung hier nicht eine tödliche Konsequenz vorführt, eine Konsequenz vor der Vergiftung Luises. Eine Konsequenz von Raserei, die auf enttäuschter Schwärmerei basiert.

In dieser Hinsicht magst du Recht haben. Das ist konsequent. Aber eben nicht kohärent, nicht vereinbar mit dem Charakter und nicht vereinbar mit der Situation. Ferdinands Verblendung wirkt ja noch viel absurder und unwahrscheinlicher, wenn er dem plötzlich festen und seriösen Menschen nicht glaubt, ihm selbst noch die Worte im Munde verdreht, ihn selbst noch verspottet und der Lüge bezichtigt, als dieser gar nichts mehr zu verlieren hat und im Sterben liegt. Das erschien mir als Zuschauer kaum wahrscheinlich.
Bleibt die Frage nach Ferdinands Rolle, die Frage nach der Hamartia und der ausbleibenden Anagnorisis.
Aber Ferdinand ist offensichtlich so auf seine Leithypothese des schwelgerischen Betrugs fixiert, dass er vorher Andeutungen überhört hat und nun die Wahrheit für ein „Leugnen“ der Wahrheit hält ...

Gewiss, in dieser Duell-Situation dominieren verständlicherweise Affekte. Aber hier findet sich trotzdem die „Hamartia“, ein Verkennen, wohl sogar ein schuldhaftes Verkennen. Ferdinand übersieht nicht nur latente Signale, er blendet auch die massiven Signale aus, welche eine Anagnorisis und damit eine Revision der bisherigen Fehleinschätzung ermöglichen würden.

Das gebe ich dir zu. Ja, es ist ein schuldhaftes Verkennen, das all das folgende Unglück nach sicht zieht. Aber das ist auch das Ungeheuerliche, das Spannende an dieser Szene. Jeder Zuschauer weiß, dass Ferdinand geblendet, getäuscht, betrogen wurde. Jeder weiß es – und dann kommt dieser lächerliche Kalb und spricht es auch noch aus und Ferdinand dreht ihm die Worte im Mund um und überhört die Wahrheit. Es ist gerade zu köstlich wie er die Worte "sie sind ja betrogen" oder "Ihr eigener leiblicher Vater" missversteht und umdeutet. In seiner Raserei und Eifersucht, in dem Strudel von Affekten und Leidenschaften ist er vollkommen verbohrt und unfähig, die Kabale, die Luise und ihn entzweien soll, zu durchschauen. Darin liegt sein Anteil an der Tragödie.
Der Mensch - so ein allgemein gültiges Modell - hat Vernunft und Affekte, Reflexe und Reflexion also, und ein Gewissen, also Normen, an denen er seine Verhaltensweisen misst. Schiller spricht in seiner Dissertation von dem Zusammenhang der „thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen“. Extremsituationen mögen dazu führen, dass man sich ganz seinen Reflexen überlässt. Vernunft sollte aber doch nicht ganz aus dem Spiel sein.

Wenn in der nächsten Passage nun gleich Ferdinands Hinweis kommt, dass man bei Kalb sich des Sündigens „entwöhnen“ könne, was impliziert, dass ein Liebesverhältnis Luise - Kalb absurd ist, dann fragt man sich, ob Ferdinands Äußerung, Kalb sei ein dummes Tier, nicht auch auf Ferdinands Verhalten zurückfällt.

Vielleicht ist letzteres wirklich ein ironischer Seitenhieb. Der Verblendete lästert über andere und die Worte treffen, ohne dass er es weiß, eigentlich ihn selbst. Das ist tragisch und erinnert mich an "König Ödipus". Allerdings sehe ich die eigentlich Schuld oder Hamartia von Ferdinand nicht in dem Fehlen von Vernunft. Dass hier die Affekte die Vernunft unterlaufen, die Leidenschaften den logischen Schluss verhindern, die Raserei die Besinnung untergräbt und die Eifersucht das Naheliegende negiert, empfinde ich durchaus als plausibel. Das ist nur allzu menschlich, und man darf nicht den Fehler machen, die Vernunft zu überschätzen (wer das tut, dem sei Arthur Schopenhauers "Die Welt als Wille und Vorstellung" ans Herz gelegt). Gerade in dieser Beziehung finde ich das Stück "Kabale und Liebe" sehr interessant und zwar aus zwei Gründen: a.) weil es die Vorstellungen des Deutschen Idealismus und der Klassik von der Bedeutung der Vernunft eigentlich zu relativieren scheint und b.) weil es auch die Gefahren und Schattenseiten der Vernunft und der kühlen Berechnung zeigt, die ich eher in den Figuren des Präsidenten und in Wurm verkörpert sehe. Die bloße auf Vorteil ausgerichtete Vernunft, die Zweckrationalität ist es, die hier alle Gefahr und alles Unglück verschuldet und am Ende die Liebe und das Leben zweier Menschen zerstört. Ferdinands Schuld ist aber nicht in dem Fehlen von Vernunft zu suchen, sondern in dem Fehlen von Vertrauen. Ein schnöder Fetzen Papier mit der Handschrift seiner Liebsten reicht aus, dass er an ihrer Liebe und Treue ernsten Zweifel hegt und von blinder Eifersucht zerfressen wird. Was sagt das über seine Liebe aus?
Ich vertrete dem gegenüber die These, dass der Marschall (zwar) als Witzfigur angelegt ist, dass aber Ferdinand eben deswegen, der Grundstory der Intrige nicht trauen dürfte- ein Liebesverhältnis zwischen Lusie und der Witzfigur ist zu unwahrscheinlich.

Wer den Hofmarschall als jemanden charakterisiert, der „mehr gemacht“ ist, „von Sünden zu entwöhnen, als dazu anzureizen“ , müsste eigentlich daran zweifeln, dass sich ein sechszehnjähriges Mädchen wie Luise mit Kalb abgibt. Ästhetische Gründe wie auch andere Gründe müssten sie davon abhalten. Und: Selbst wenn sie sich wirklich erotisch-sexuell mit einem Adligen einließe und dies vielleicht aus Gründen finanziellen Gewinns: Warum sollte sie einen Hofmarschall akzeptieren, wenn sie einen Präsidentensohn bekommen könnte? Die merkantilen Möglichkeiten wären wohl nicht schlechter, die erotischen eher besser.

Ich glaube, unabhängig von der Betrachtung, was Kalb für einen Charakter darstellt, einen lächerlichen oder einen glaubwürdigen, haben diese Einwände ihre Berechtigung. Ein Verhältnis zwischen von Kalb und Luise ist in dem einen wie dem anderen Fall unwahrscheinlich und aus der Luft gegriffen. Aber dem wird schon vorher im Stück Rechnung getragen:
WURM Ich müsste mich schlecht auf den Barometer der Seele verstehen, oder der Herr Major ist in der Eifersucht schrecklich, wie in der Liebe. Machen sie ihm das Mädchen verdächtig – – Wahrscheinlich oder nicht. Ein Gran Hefe reicht hin, die ganze Masse in eine zerstörerische Gärung zu jagen.

(Quelle: Friedrich Schiller: Kabale und Liebe. Dritter Akt, Erste Szene.)

Und später:
PRÄSIDENT nach einigem Nachdenken: Ich weiß nur den Hofmarschall.
WURM zuckt die Ackseln M e i n Geschmack wär er nun freilich nicht, wenn ich Luise Millerin hieße.
PRÄSIDENT Und warum nicht? Wunderlich! Eine blendende Garderobe – eine Atmosphäre von Eau de mille fleurs und Bisam – auf jedes alberne Wort eine Handvoll Dukaten – und alles das sollte die Dilekatesse einer bürgerlichen Dirne nicht endlich bestechen können? – O guter Freund. So skrupelös ist die Eifersucht nicht ...

(Quelle: Friedrich Schiller: Kabale und Liebe. Dritter Akt, Erste Szene.)

Das Stück antizipiert deinen Zweifel an der Wahrscheinlichkeit und damit an der Glaubwürdigkeit der Affäre bereits. Dass der Schwindel dennoch glückt, versucht Schiller mit der Dominanz der Affekte zu erklären. Oder sollen wir sagen: zu vertuschen? Ich weiß es nicht.
Nun könnte es sein, dass wir als heutige Leser den Hamartia-Verdacht begründet finden, dass aber Schillers zeitgenössischer Leser hier eine sympathische Hauptfigur agieren sah, welche, von einer Intrige gereizt, gar nicht anders handeln konnte, als sie es tut.

Vielleicht bin ich ja ein bisschen naiv, aber auch ich sehe in Ferdinand einen Sympathieträger, eine Identifikationsfigur. Daran ändert auch sein schuldhaftes, situationsbedingtes Verkennen (Hamartia) nichts. Denn wäre er das nicht, so würde er auch als zentrale, tragische Figur ausscheiden und den Leser von heute völlig kalt lassen. Niemand würde mit ihm leiden, niemand würde bis zum Ende mitfiebern und auf eine erlösende Anagnorisis hoffen und so erschüttert und gerührt werden, weil sie ausbleibt.

;-) gelb :-)
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Re: Den Himmel zweier Liebenden geschleift

Beitragvon Auf Eulen Schwingen » 21.11.2003, 11:12

Dear Gelbsucht,

es ist schön, mit Dir zu fachsimpeln und vielleicht sind auch andere Leser ein bisschen davon angeregt. Und das ganze hier saust nicht als aufgesteifter Zeppelin mit viel Heißluft durch den www-Äther.

Also: Deine zentrale These heißt, dass Ferdinand in seiner unbedingten Liebe ein sympathische Identifikationsfigur ist, deren Mangel an Vernunft kaum Sympathieabstriche hervorruft. Vernunft ist vielmehr der Code und der Verhaltenscodex der intriganten Würmer und Präsidenten. Demgegenüber vertrete ich die These, dass Ferdinand im Subtext recht deutlich als zumindest ambivalenter Schwärmer gezeichnet wird und dass dazu seine Vernunftferne kommt. (Nebenbei mich hat sehr fasziniert, den Schwarmbegriff im Stück und dann später bei Schiller zu verfolgen. Die Begleitbriefe zum Posa zeigen plötzlich, wie sehr Schiller seine Figuren auch, ich betone "auch", als verblendete, vernunftferne Schwärmer versteht. In der Kabale findet sich da sehr viel, auf jeden Fall viel mehr als in den "Räubern"). Lass uns ein bisschen diese These verfolgen:


Ferdinand. Ich fürchte nichts - nichts - als die Grenzen deiner Liebe. Laß auch Hindernisse wie Gebirge zwischen uns treten, ich will sie für Treppen nehmen und drüber hin in Luisens Arme fliegen. Die Stürme des widrigen Schicksals sollen meine Empfindung emporblasen, Gefahren werden meine Luise nur reizender machen. - Also nichts mehr von Furcht, meine Liebe. Ich selbst - ich will über dir wachen, wie der Zauberdrach über unterirdischem Golde - Mir vertraue dich! Du brauchst keinen Engel mehr -
I, 4


Das ist Schiller, ist der Schiller, den wir kennen, ist eine Figur Schillers, ist die Sprache Schillers. Und es ist die Sprache Ferdinand von Walters aus "Kabale und Liebe", der als Adliger ein bürgerliches Mädchen liebt, er spricht gerade mit Luise. Sie will er, sie betet er an, sie will er gegen alle Widerstände des adligen Vaters heiraten. Und es ist das der Schiller, den wir zumindest als ambivalent empfinden, pompös und verquast, antiquarisch verstaubt und klassisch erhöht und sturm-und-drang-artig in fernen Vergangenheiten dramatisch agierend, ein paralysierender Paraglyder, mit "y" bestenfalls bei diesem style.

Diesen Schiller, am 10.11.1759 geboren, am 9.5.1805 gestorben, habe ich in der Schule kennengelernt, wir mussten die „Räuber“ lesen, das war uns bis auf vielleicht zehn Seiten ein Grauen und Gräuel. Dann „Kabale und Liebe“ und der „teutsche Jüngling“. Puh, das war unfreiwillig komisch. Mit zwanzig allerdings sah ich im Residenztheater eine Aufführung von „Maria Stuart“. Ich hatte den unbestimmten Eindruck, ein "Wahnsinns-Stück" zu erleben, das sich mit einer Verurteilung und Begnadigung befasst und mit verqueren und sehr genau beobachteten Versuchen der Figuren am Hofe elisabeths, das moralische Gesicht zu wahren und dabei den eigenen Vorteil verbissen zu verfechten.

Wenn ich, so nahm ich mir vor, Germanistik studiere, dann hänge ich mich da voll rein bei Schiller, das ist ein so präzises, ein so windschlüpfrig austariertes Stück, es ist das, was „Speed“ mit Keanu Reeves für das Action-Kino ist, ein makelloser Gerechtigkeits-Nützlichkeits-Thriller. Doch, doch, solche Vergleiche sind zulässig. Und es hat da einen Streit der Königinnen, der ist psychologisch so raffinert, das glaubst du nicht. Und es gibt einen Monolog von Elisabeth, in dem sie sich entschließt, die schöne Konkurrentin nicht zu begnadigen, sondern aufs Schafott zu schicken, der ist atemberaubend, atemberaubend genau gemacht. Dieses Modell, dieses Modellieren von Verhalten, ich will es beim Lesen durchleben und ich will es verstehen. Und ich will dem Artifex Schiller nahe sein. Der Vorsatz hat einige Arbeit gekostet und die Maria Stuart ist mir noch mehr ans Herz gewachsen und der Autor wird von mir geliebt und bewundert.

Seltsam, oder gar nicht seltsam, seither ist auch in einem dem Schüler aes so schrecklichen Schinken wie „Kabale und Liebe“ ein Zauberspiegel installiert, der die Figuren mehrgesichtig macht, der Tiefenstrukturen öffnet und eine Mehrschichtigkeit zeigt, die dich reich werden lässt.

Vielleicht einen Blick riskieren in die detailvernarrte Spurensuche in einem Kurz-Text aus „Kabale und Liebe“? Vielleicht hebst Du, geneigte Leser (nicht Gelbsucht), kritisch die Augenbrauen über das Unterfangen und vielleicht kann trotzdem am Schluss ein wenig verständlich werden, dass Schiller selbst dort fasziniert, wo er einen Jüngling in schwärmerischer Liebe rasend werden lässt, weil das seltsam verdrehte Pathos der Jünglingssprache beides transportiert, den Flug und den Absturz.

Ferdinand. Ich fürchte nichts - nichts - als die Grenzen deiner Liebe. Laß auch Hindernisse wie Gebirge zwischen uns treten, ich will sie für Treppen nehmen und drüber hin in Luisens Arme fliegen. Die Stürme des widrigen Schicksals sollen meine Empfindung emporblasen, Gefahren werden meine Luise nur reizender machen. - Also nichts mehr von Furcht, meine Liebe. Ich selbst - ich will über dir wachen, wie der Zauberdrach über unterirdischem Golde - Mir vertraue dich! Du brauchst keinen Engel mehr -
I, 4


„Ich fürchte nichts - nichts - als die Grenzen deiner Liebe.“ Dieser Satz Ferdinands verrät viel über seine Selbsteinschätzung, seine Einschätzung der Situation und über das Bild, das er sich von Luise macht. Der junge Adlige kennzeichnet sich als „furchtlos“ („Ich fürchte nichts ..“) und will Luise mit enthusiastischen Bildern („Hindernisse wie Gebirge“ als „Treppen“) die Furcht nehmen („Also nichts mehr von Furcht, meine Liebe“). Gleichzeitig gebraucht er - als er seine Beziehung zu Luise charakterisiert - das Märchenmotiv des „Zauberdrachens“, das im traditionellen Märchenkontext durchaus furchterregend wirken kann, der Drachen ist dort eine böse Figur, und das im aktuellen Kontext bedenklich oder nicht vertrauenserweckend erscheinen mag. Wie ist dieser latente Widerspruch in Ferdinands Rede zu interpretieren?

Primär versteht man diese Äußerung „Ich fürchte nichts ... als die Grenzen deiner Liebe“ als Abwehr des Einwandes, ihre Liebe sei unrealisierbar. Unrealisierbar wegen des Standesunterschiedes und der abweisenden Haltung der Väter ( vor allem Ferdinands Vater neigt ja zu wütenden Reaktionen). Parallel dazu signalisiert Ferdinand seine Furchtlosigkeit und seine Schwungkraft, die Luises Furcht gegenstandslos machen können („also nichts mehr von Furcht, meine Liebe“).

Sekundär umspielt diese Passage Ferdinands „Liebesideal“: es ist absolut, insofern es keine „Grenzen“ hat. Und es ist - so eine Lesart im Subtext - sowohl abstrakt als auch konkret: denn Ferdinand setzt diese Liebe mit der Geliebten gleich („meine Liebe“) und überdehnt damit wohl das Profil ihrer Beziehung

Entsprechend ist eine „Liebe in Grenzen“ für Ferdinand - auch wenn das nur eine Redensart sein mag - etwas, das er „fürchtet“. Sei es, das er damit „rechnet“, sei es, dass ihm die bloße Vorstellung einer begrenzten Liebe schrecklich ist; sei es beides.

Schiller hat die Figur Ferdinand nun einmal so angelegt, dass sie Zweifel an Luise, an seiner Liebe, hat, selbst dann, wenn sie „nur“ rationale Gegenüberlegungen formuliert. Auffällig der märchenhaft-phantastische Touch in Ferdinands Code: „Hindernisse“ in der Größe von „Gebirgen“ sind für den enthusiastischen „Kraftkerl“ „Treppen“. „Stürme“ - wohl im Sinn von „Widerständen“ - fachen - so sieht er es - die „Empfindung“ weiter an.

Kurz: die bürgerliche und die adlige Welt und deren Spannung treten völlig in den Hintergrund, werden Nebensache vor der großen Sache der Liebe. Ferdinands Rede ist von einer Größenphantasie diktiert. „Selbsthelfertyp“ hat man dies in der Forschung genannt.

Märchenhafte Situationsmächtigkeit und die Fähigkeiten eines Riesen erinnern an das Weltbild und das Potential eines Tagtraums. Diese Art des Sprechens und des Denkens erinnert auch an die Figuren und deren Sprache im Liebesroman, aus dem Luise - wie ihre Mutter sagt - „betet“ (I,1).

Das mag für den Zuschauer des Stückes sympathisch oder bedenklich oder ambivalent wirken. Es ist auf jeden Fall aufschlussreich und keineswegs unhinterfragbar verbindlich.

Somit wird nicht nur der „äußere“, sondern auch der paarinterne Anteil an der Gefährdung der Liebenden deutlich: Ferdinand und Luise durchbrechen mit ihrem „Liebesroman“ die Normen der bürgerlichen und der adligen Welt und müssen mit heftigen Gegenreaktionen und mit der Katastrophe rechnen, wenn sie sich nicht anpassen. Und zusätzlich bedroht die Liebenden Ferdinands Einstellung: Sein absolutes Glücksideal verträgt keine Abmilderungen oder „kaltherzigen“ (I,4) Überlegungen, wie sie seiner Meinung nach Luise anstellt. Das bedeutet auch, dass kleinste Zweifel an der Liebe des Partners bei Ferdinand kaum rationale Überlegungen hervorrufen, sondern in maßlose Enttäuschung und Hass umschlagen können.

Wurm will sich diese Seite des „Schwärmers“ zunutze machen - Gelbsucht hat es ausgeführt -: es scheint ihm - hier blickt er auf das Auftreten des Präsidenten in der Bürgerstube zurück und umreißt zukünftige effektivere Schachzüge - besser zu sein, man hätte „den Roman von seiten des Mädchens unterhöhlt und das Herz“ des „Sohnes behalten“ (III,1). Wurm fädelt die Briefkabale ein.

Die Liebe des Paares ist mit zwei untereinander verflochtenen außengesteuerten Kabalen konfrontiert: Ferdinand - das ist die erste Kabale - soll aus taktischen Überlegungen Lady Milford heiraten, damit der Herzog ohne Probleme heiraten kann. Dem steht Ferdinands Heirat mit Luise entgegen. Als Ferdinand sich weigert, diese Bindung aufzugeben, wird eine zweite Kabale angezettelt. Luise muss unter höchstem Druck einen Brief an Kalb schreiben, der sie in den Augen Ferdinands zur „Buhle“, also zur Mätresse, machen soll, so dass er sie aufgibt und innerlich für die Beziehung zu Lady Milford frei wird.

Die Brief-Kabale spielt mit der paarinternen Anlage Luises zur Vaterliebe (und Religiosität - darauf soll hier nicht weiter eingegangen werden) und Ferdinands Anlage zu Enthusiasmus, Schwärmerei und Frustration. Dabei kommt es zu einer Kettenreaktion, für die Wurm und Präsident, weil sie in ihrem Ausmaß kaum vorhersehbar ist, nur bedingt Verantwortung tragen müssen: Ferdinands Umgang mit der Briefinformation - er schiebt Zweifel an deren Glaubwürdigkeit beiseite - läuft auf Raserei hinaus: er tötet Luise und sich selbst.

Dies mag als heroisch und tragisch und auch über weite Strecken „sympathisch“ oder als verständlicher „Rachelauf“ erscheinen. Aber der Text selber stellt doch auch sehr früh unterschwellig Ferdinands Verhalten in Frage: Das Bild des Zauberdrachen zum Beispiel konnotiert zwar zunächst positiv „Schutz“, es hat aber in der Angabe „über dir“ nicht nur eine lokal-logische Färbung: Der Zauberdrache mag auf Schatzsucher abschreckend wirken und so den Schatz schützen. Er nimmt aber auch das Geschützte ganz in Beschlag und schließt es von der Welt aus. Das „unterirdische Gold“, so Ferdinands Bild für Luise, zeigt, dass Luise abgeschottet von der Außenwelt ein Besitzobjekt ist, das allein Ferdinand gehören soll. So konnotiert der „Zauberdrache“ auch Bedrohliches oder gar - man denke an die Aura des Drachen - Teuflisches.

So kann das Drachenbild die egomanische, gefährliche Seite Ferdinands verdeutlichen. Und es kann - wenn man voraussetzt, dass Ferdinand sich in einer mythisch-märchenhaften Welt agieren sieht - seine Dominantsetzung der mythischen Weltsicht und seine Abwertung oder Abwehrhaltung gegenüber realistischen Überlegungen verraten.

Weiter in der Mentalitätsuntersuchung: Ferdinands Hinweis „Du brauchst keinen Engel mehr“ ist mehrdeutig zu lesen: Entweder er maßt sich die Fähigkeiten eines Schutzengels an. Oder der „Zauberdrache“ löst den Engel ab. Beides zeigt recht deutlich Ferdinands Tendenz zu Megalomanie und zu Überheblichkeit und zum verderbenden Teufel. Das wird - hier sei auf eine andere Stelle verwiesen - besonders deutlich nach der Duellszene. Ferdinand spricht zu Gott und fordert von ihm, dem Herrn über Leben und Tod, das Recht, Luises Leben zu nehmen: „Das Mädchen ist mein! Ich einst ihr Gott, jetzt ihr Teufel!“ (IV, 4)

Kurz: Die Kabalen des Adels erscheinen sicher als menschenverachtende, kühl kalkulierte, vernunfbasierte Bedrohung, sie stellen Prestige und Eigennutz über das private Glück des Paares. Aber auch Ferdinands affektgesteuerter Code, seine Abwertung der Vernunft, seine Größenphantasien sind zumindest im Subtext nicht als ideales, sympathisches und verbindliches Verhaltensmodell präsentiert.

Schiller hat eine in Liebesidealen schwärmende Figur gezeichnet, von der manch heutiger Leser sich abwendet, weil er das Pathos der Figur nicht mehr goutiert und das für antiquarische Verklärung hält, was verwundbar attraktiv und gefährdet gefährlich macht. Ein Paraglider Ferdinand, abartig schön.

Und ein Artifex Schiller, Ferdinands Artifex Schiller, zum Greifen fern.

Salute allerseits
aes
(auf!eulen schwingen)

vogel
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Re: Den Himmel zweier Liebenden geschleift

Beitragvon vogel » 24.11.2003, 17:32

*seufz*

ihr wisst garnet wie nett ihr seid, da behandelt man nun grad in der Schule "Kabale und Liebe" und kräpelt iregendwo im dritten Akt rum, weil die Leherin krank ist und man selbst sich irgendwie nicht durch ringen kann, weiter zu lesen, was ja auch irgendwo Irrsinn wäre, und dann das !
wie soll ich das alles lesen ? da brauch ich doch nächte für ...
Mein Ich ist ein Pfogel aus Metall, doch Du hast ihn berührt und beschützt.


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