Ham hat einen Schlusstwist erkannt

Moderne Literatur heißt: Kino, Theater und Oper nicht vergessen. Welcher Film ist sehenswert? Welche Inszenierung gelungen?
Hamburger
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Ham hat einen Schlusstwist erkannt

Beitragvon Hamburger » 03.06.2009, 15:17

Zur persönlichen Einweihung unseres neuen Forums bin ich vor zwei Tagen ins Kino gegangen. Vorher traf ich den festen Entschluss, mal wieder eine Rezension zu schreiben.

Schon bei der Auswahl verfluchte ich allerdings die mich umgebende Spezies. Was Woody Allen im „Stadtneurotiker“ schon zum unlustigen Komiker dachte, dachte leicht abgewandelt auch ich: Irgendwo muss es ein Publikum für so etwas geben, sonst gäbe es das gar nicht.

Es muss also Menschen geben, deren Geschmack den Markt so konstruiert, dass ich in der Spätvorstellung die Wahl hatte zwischen Filmen wie „17 Again“, „Der Womanizer“ oder „Der Fluch der zwei Schwestern“. „Wir sind das System“, stellt der junge Anwalt in „Last Dance“ in einer meiner Lieblingsszenen dieses mittelmäßigen Streifens fest, übertroffen nur noch vom Schlussbesuch des Taj Mahal mit melancholischer Musik. Damals habe ich geheult, heute Abend zweifelte ich arg an der Liebe meiner Mitmenschen.

Ich entschied mich für die verfluchten Schwestern und stellte, im Kino angekommen, unerstaunt fest, dass der Film genau das Publikum anzog, welches er meinem Vorurteil gemäß verdiente. 14–22jährige, ständig quasselnde, sich mit Popcorn bewerfende Gestalten, die konserativ gesehen längst ins Bett gehörten oder progressiv formuliert in irgendeinen Raum, der nicht die Bezeichnung „Kinosaal“ trug. Schließlich startete der Werbeblock und nachdem ich zum drillionsten Mal die „Pops“-Werbung von Schöller gesehen und mich erneut gegen einen Besuch von „Terminator 4“ entschieden hatte, startete der offizielle O-livro-Einweihungsfilm.

Anna (Emily Browning) lief sofort von einer Party durch einen dunklen Wald heim, was ich sehr dumm fand und mich zu bestätigen schien. Doch der Film startete bloß mit einer gruseligen Traumsequenz. Und baute seinen nicht gerade neuen Konflikt am Anfang recht ansehnlich auf. Der wie folgt aussieht: Anna wird nach zehn Monaten aus der geschlossenen Abteilung der Psychatrie entlassen. Drinnen war sie, da sie ihre schwerkranke Mutter (Maya Massar) bei einem Brand verlor und danach von Psychosen und düsteren Träumen geplagt wurde. Erinnern kann sie sich an nichts mehr. Im Hause ihres Vaters (David Strathairn) hat mittlerweile Rachel (Elisabeth Banks), die damalige Pflegerin der Mutter, die Hosen an. Annas Schwester Alex (Arielle Kebbel) geht dies ebenso auf den Keks wie Anna selber, der gruselig geisterhafte Erscheinungen offensichtlich etwas mitteilen wollen: Rachel ist die Mörderin der Mutter und will auch sie töten.

Was jetzt kommt, liegt auf der Hand. Der vor Liebe blinde Vater muss die Wahrheit über Rachel erfahren. Dazu müssen Anna und Alex herausfinden, was in jener Nacht wirklich geschah und so beginnen die Nachforschungen. Als Nicht-Kenner des Horror-Genres ordne ich die Effekte dabei im Mittelmaß ein. Einige Male gelingt es dem Film, die Zuschauer zusammenzucken zu lassen (wenn sie sich nicht gerade mit ihrem Handy beschäftigen!). Letztlich ist das Muster aber doch arg vorhersehbar. Hat Anna eine Erscheinung, kommen meist die entsprechend bedrohlichen Hintergrundgeräusche und irgendwo zuckt etwas hervor, was da nun gar nicht hingehört. Trotzdem versteht es der Film, sein Publikum zu fesseln, was definitiv nicht am Herren der Schöpfung liegt. Von Daddy erfährt man eigentlich nur eins: er ist Schriftsteller. Ansonsten wirkt er wie ein x-beliebiges Weichei und der Zuschauer verliert schnell das Interesse an ihm.

Dafür punktet die Damenriege in unterschiedlicher Größenordnung. Maya Massars Mami geht sowohl als Schwerkranke wie auch als geisterhafte Erscheinung glatt durch. Anna sieht süß aus, gruselt sich solide durch den Film und guckt meistens verwirrt. Emily Browning spielt das ganz ordentlich, ist aber durch ihre Rolle ebenso beschränkt wie Arielle Kebbel als Alex. Sexy aussehen und Rachel die Pest an den Hals wünschen macht diese jedoch sehr brauchbar. Zieht man also die Schauwerte ab, bleiben drei ordentliche Darstellungen über. Diese werden jedoch eindeutig getoppt von der bösen Stiefmutter Rachel. Hinter Barbie-Lächeln und Schleimigkeit bis Unterkante Oberlippe wirkt Elisabeth Banks so geschickt und berechnend durchtrieben, dass ihre Darstellung jederzeit Interesse weckt.

Der eigentliche Clou des Films entsteht jedoch erst durch mich, denn mir ist es doch tatsächlich gelungen, den Schlusstwist zu erkennen. Mir ist nie bewusst, ob ich Menschen, die mit professionell-gelangweilter Miene nach zwanzig Minuten wissen, wie es ausgeht, beneiden soll. Mir passiert das nie. Selbst wenn der Film noch so schlecht ist, weiß ich nicht, wie es ausgeht. Ich vermeide es während eines Films konsequent, Rätselraten zu spielen. Bei guten Filmen, weil sie mich gefangen nehmen. Bei durchschnittlichen und schlechten Filmen, weil ich mir die Hoffnung auf ein Ende, welches alles in anderem Licht erscheinen lässt, erhalten will. Wenn ich durch merkwürdige Umstände dann doch mal in Rätsellaune verfalle, liege ich daneben.

Diesmal nicht. Es ist nicht schwer zu erraten, wie es ausgeht, aber das war vorher auch schon kein Kriterium. Die zwei zusätzlichen nicht erkannten Beigaben am Schluss ändern ebenfalls nichts an meiner Hellseherei. Ebensowenig wie das Einschlafen des neben mir einzig wirklich kulturinteressierten Menschen in diesem Saal, der nach dem Film geweckt werden musste und steif und fest behauptete, das Ende gesehen zu haben.

Das alles war nebensächlich. Ich hatte mich nur mit einer Frage beschäftigt und ich lag richtig. Herrlich. Das hebt diesen Film, übrigens ein Remake des angeblich viel tolleren „A Tale of Two Sisters“, dann doch noch knapp über das Mittelmaß. Als ich den Heinweg antrat, fühlte ich mich vor lauter innerer Zufriedenheit sogar gewappnet, mir fünf Filme hintereinander mit Silly anzusehen (es gibt nichts Anstrengenderes und Spannenderes im Bereich "Kino", als sich auch nur einen Film mit Silly anzusehen!) Und um meinen Triumph angemessen zu feiern, beschloss ich, selig grinsend im Nachtbus gen kuscheligem Bettchen düsend, bei der Kritik aufs Spoilern zu verzichten und sie mit folgendem kräftigen Ruf zu beschließen: "Eifert mir nach, filmische Rätselgenossen..."

Wertung: 6 von 10 Punkten in der Ham-Skala, ansonsten 5 von 10.

Silentium
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Re: Ham hat einen Schlusstwist erkannt

Beitragvon Silentium » 10.06.2009, 23:36

Anna (Emily Browning) lief sofort von einer Party durch einen dunklen Wald heim, was ich sehr dumm fand


Danke für diesen wunderbaren Satz, der die zentrale Stolperfalle des gesamten Genres wunderbar umreißt. B-)

Und es gibt nichts Anstrengenderes, als sich mit mir einen Film anzuschauen? Ha! Dann werd ich dich mal ins Kino mitnehmen, wenn mein Co-Autor (seines Zeichens Dramaturg und Regisseur) auch noch dabei ist. Und vielleicht noch der eine oder andere Schauspieler oder Kameramann. Oder Brigitte, die grandioseste Maskenbildnerin der Welt, die aus einem Film herauskommt und sagt: "Hast du die Perücken in der Schlachtszene gesehen? Diese Zöpfe glaubt doch kein Mensch!" Danach nimmst du dir dann eine Woche Urlaub. :-D

(Wobei, soweit ich mich erinnern kann, war nach drei Stunden Diskussion zu Collateral ICH es, die gebettelt hat: "Mirko, es ist vier Uhr morgens! Können wir nicht in Bett gehen? Biiitte?")

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Re: Ham hat einen Schlusstwist erkannt

Beitragvon [) i r k » 10.06.2009, 23:50

Ha! Dann werd ich dich mal ins Kino mitnehmen, wenn mein Co-Autor (seines Zeichens Dramaturg und Regisseur) auch noch dabei ist. Und vielleicht noch der eine oder andere Schauspieler oder Kameramann. Oder Brigitte, die grandioseste Maskenbildnerin der Welt, die aus einem Film herauskommt und sagt: "Hast du die Perücken in der Schlachtszene gesehen? Diese Zöpfe glaubt doch kein Mensch!" Danach nimmst du dir dann eine Woche Urlaub.

Könnt ihr das bitte filmen. :-D
"du trittst da fast in die fußstapfen des unseligen dr goebbels und seiner zensur und verdammungsmaschine." (Ralfchen)

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Re: Ham hat einen Schlusstwist erkannt

Beitragvon Silentium » 11.06.2009, 14:46

Mit Vergnügen. :-D

Hamburger
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Re: Ham hat einen Schlusstwist erkannt

Beitragvon Hamburger » 12.06.2009, 23:30

Silentium hat geschrieben:
Anna (Emily Browning) lief sofort von einer Party durch einen dunklen Wald heim, was ich sehr dumm fand


Danke für diesen wunderbaren Satz, der die zentrale Stolperfalle des gesamten Genres wunderbar umreißt. B-)

Und es gibt nichts Anstrengenderes, als sich mit mir einen Film anzuschauen? Ha! Dann werd ich dich mal ins Kino mitnehmen, wenn mein Co-Autor (seines Zeichens Dramaturg und Regisseur) auch noch dabei ist. Und vielleicht noch der eine oder andere Schauspieler oder Kameramann. Oder Brigitte, die grandioseste Maskenbildnerin der Welt, die aus einem Film herauskommt und sagt: "Hast du die Perücken in der Schlachtszene gesehen? Diese Zöpfe glaubt doch kein Mensch!" Danach nimmst du dir dann eine Woche Urlaub. :-D

(Wobei, soweit ich mich erinnern kann, war nach drei Stunden Diskussion zu Collateral ICH es, die gebettelt hat: "Mirko, es ist vier Uhr morgens! Können wir nicht in Bett gehen? Biiitte?")


Du unterschlägst etwas Wichtiges, liebe Silly. Ich schrieb, es gibt nichts Anstrengenderes UND SPANNENDERES, als sich mit Dir einen Film anzusehen. Unvergessen, wie wir beide uns in Wien "Falco" angeguckt haben. Film geht los, erste Einstellung, die ersten Worte, du sofort: "Der erste Satz und er ist scheiße!" :-D Auch die Diskussion im Taxi, bei der der Taxifahrer sich wohl seinen Teil gedacht hat, war absolut prima. :-)

Bei "Collateral" stimmt es: du wolltest unbedingt schlafen gehen. Keine Diskussionspuste mehr heutzutage, die jungen Damen. Ich wollte unbedingt weiterdiskutieren, weil ich da echt was lernen konnte. Das ständige Kommentieren des Films selbst war zwar wiederum anstrengend, aber diese 464 Fehler hätte ich von mir aus nicht erkannt. Somit hat es auch meinen Blick geschärft. :-)

Mit dir und deinem Team würde ich total gerne mal ins Kino gehen. In der Woche Urlaub schreibe ich dann serienweise wie im Rausch Rezensionen und verhökere sie an den Meistbietenden.

Liebe Grüße,

Film-Ham

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Re: Ham hat einen Schlusstwist erkannt

Beitragvon Silentium » 12.06.2009, 23:38

Ah, ja, Falco... hab ihn neulich wieder mal angeschaut und mich bestätigt gesehen: das Drehbuch hätt ihnen teilweise um die Ohren gehaut. Die ersten zwanzig Minuten Exposition dermaßen für die Katz, das war irre. Dafür reißt die Besetzung dermaßen viel raus.
... und ja, den Taxifahrer haben wir wahrscheinlich traumatisiert. :-D

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Re: Ham hat einen Schlusstwist erkannt

Beitragvon [) i r k » 12.06.2009, 23:44

Da wäre es doch fair, wenn die Gage für die Rezensionen an den Verein der Traumatisierten Taxifahrer in Wien geht. ;-)
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Re: Ham hat einen Schlusstwist erkannt

Beitragvon Hamburger » 12.06.2009, 23:48

Interessant, dass der Film trotzdem zu meinen Tops im damaligen Jahr gehört. Das erinnert mich an etwas, dass du einmal sinngemäß gesagt hast (wörtlich kriege ich es nicht mehr hin), als du in Hamburg warst: Ein Film kann Schwächen haben und bei mir trotzdem 10 von 10 Punkten haben. Das geht mir bei "Falco" ähnlich, auch wenn ich dem 8 von 10 geben würde. Hat durchaus seine Schwächen und Längen, aber durch die Besetzung, vor allem durch den Hauptdarsteller, und durch die Musik, die ich einfach mag, kann er wieder extrem punkten.

Der Taxifahrer wird wegen uns jetzt sein Leben lang kein Kino mehr betreten. Du hast ja hinten gesessen, aber ich bekam immer diese Seitenblicke von dem ab während unserer Diskussion. Die Übersetzung seiner diffizilen Emotionalität gepaart mit seiner um Vernunft bemühten Haltung, die Finger am Lenkrad und die Augen auf der Straße zu lassen, würde ich wie folgt charakterisieren: Hä? :-D (intellektuell sein ist toll! B-) )

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Re: Ham hat einen Schlusstwist erkannt

Beitragvon Hamburger » 12.06.2009, 23:51

[) i r k hat geschrieben:Da wäre es doch fair, wenn die Gage für die Rezensionen an den Verein der Traumatisierten Taxifahrer in Wien geht. ;-)


Gebongt. Link?

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Re: Ham hat einen Schlusstwist erkannt

Beitragvon [) i r k » 12.06.2009, 23:55

"du trittst da fast in die fußstapfen des unseligen dr goebbels und seiner zensur und verdammungsmaschine." (Ralfchen)

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Re: Ham hat einen Schlusstwist erkannt

Beitragvon Hamburger » 12.06.2009, 23:57

[) i r k hat geschrieben:http://www.traumatisierte-taxifahrer.at


Scheiss Webauftritt. Die kriegen nix.

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Re: Ham hat einen Schlusstwist erkannt

Beitragvon [) i r k » 13.06.2009, 00:06

Tja, ihr habt sie so traumatisiert, dass die selbst das mit dem Webauftritt nicht mehr hinkriegen. :-D
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Re: Ham hat einen Schlusstwist erkannt

Beitragvon Hamburger » 13.06.2009, 00:10

[) i r k hat geschrieben:Tja, ihr habt sie so traumatisiert, dass die selbst das mit dem Webauftritt nicht mehr hinkriegen. :-D


Hab' ein Herz. Du bist doch PC-Cheffe. Hilf Ihnen!

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Re: Ham hat einen Schlusstwist erkannt

Beitragvon [) i r k » 13.06.2009, 00:38

Ich kümmere mich doch schon um die Traumatisierten Kaffeehausbesitzer, die total verwirrten Ich-habe-dieses-Thread-bei-O-livro-aufgemacht-und-nur-drei-Sätze-gelesen-und-höre-seitdem-Stimmen-Zaungäste UND George W. Bush, der seit er aus dem Amt ist, wochenlang ziellos im Internet herumsurft (vorher hielt er das Internet für Teufelszeug, bis ihm jemand erklärt hat, dass es eine Erfindung des Pentagons ist), und bei O livro gelandet ist und das erste Mal in seinem Leben geschnallt hat, wie man wirklich über ihn denkt, woraufhin er total depressiv geworden ist und seitdem die Stimme Gottes nicht mehr hört.

Also das nimmt wirklich über Hand, hinter euch die Scherben aufzusammeln!
:scary:
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